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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerVor Jahren hat die inzwischen verstorbene Esther von Kirchbach einem größeren Kreis von Frauen den Rat gegeben, regelmäßig das Gebet zu betrachten und betend zu wiederholen: „Wir beten Dich an, Christe, und preisen Dich. Denn durch Dein heiliges Kreuz hast Du die Welt erlöst”. Verschiedentlich sind wir nach dem Ursprung dieses Gebets gefragt worden. Ich verdanke unserem Freund Pastor Goltzen die Mitteilung, daß es aus dem mozarabischen Ritus stammt; das ist die Liturgie der spanischen Westgoten, in welcher sehr viel uraltes Sondergut, vor allem germanischer Herkunft, bewahrt ist. Dort steigt der Priester nach den Gebeten der Bereitung zum Altar, macht über ihm das Kreuzeszeichen und betet: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes”. Er küßt den Altar, macht noch einmal das Kreuzeszeichen über ihm, legt die Hände auf den Altar und betet: „Sei gegrüßt, o kostbares Kreuz, das durch den Leib Christi geheiligt wurde und durch Seine Glieder wie mit Perlen geschmückt ist... Wir beten Dich an, Christe, und preisen Dich; denn durch Dein heiliges Kreuz hast Du die Welt erlöst. Höre uns, Du Gott unseres Heils, und das Siegeszeichen des heiligen Kreuzes beschütze uns vor allen Gefahren. Durch Christum unseren Herrn.”

LeerDie ehrwürdige Herkunft kann uns dieses Gebet nur noch lieber machen und wird vielleicht manche dazu verlocken, es in täglicher Betrachtung zu gebrauchen.

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LeerVor mehr als 50 Iahren kam die berühmte „Pilgerreise” des englischen Kesselflickers und Baptistenpredigers John Bunyan (aus dem 17. Jahrhundert) in meine Hände, die die Führung eines Christenmenschen durch alle Versuchungen und Anfechtungen des irdischen Lebens zum himmlischen Ziel beschreibt; das Buch gilt als das neben der Bibel verbreitetste Buch der Weltliteratur und hat mir damals einen tiefen Eindruck gemacht. Die Wandlung der Zeit kommt in einer geradezu grotesken WeiSe zum Ausdruck in einem Buch, das vor einigen Jahren in England erschienen ist, und das man als eine Art Gegenstück zu der berühmten frommen „Pilgerreise” bezeichnen könnte. C. S. Lewis, Dozent für Philosophie und Literatur an Magdalen College in -Oxford, hat unter dem Titel „The Screwtape Letters” 31 Briefe eines Mr. Screwtape an einen jungen Freund und Mitarbeiter Mr. Wormwood veröffentlicht. („Ich beabsichtige nicht, erklären zu wollen, wie dieser Briefwechsel... in meine Hände geraten ist.”) Mr. Screwtape bezeichnet sich selbst als „Untersekretär des Departements” (nämlich der Hölle) und gibt seinem „Neffen” Wormwood, der ein Anfänger in der Kunst der Verführung ist, sozusagen ein Teufelslehrling, Anweisungen, in welcher Weife er einen bestimmten ihm anvertrauten „Patienten” der Macht des „Feindes” (das ist Gott) entreißen und „unserem Vater in der Tiefe” zuführen kann. Diese Briefe, voll erstaunlichster Einfälle und eines sprühenden Humors, sind mit so viel hintergründigem Wissen um die Geheimnisse der Seele, um die Listen des Teufels und um die heimlichsten Pfade des Verderbens und des Heils geschrieben, daß sie eine seltene Fundgrube seelsorgerlicher Weisheit im verzerrenden Spiegel teuflischer Verführungskunst sind. Man möchte ganze Seiten herausschreiben, um halb lächelnd, halb zitternd diese demaskierten Teufeleien vorzuzeigen. Nur zwei Beispiele- „Musik und Stille, o wie hasse ich beides! Wie dankbar sollten wir dafür sein, daß seit der Zeit, da unser Vater die Hölle betrat, nicht ein -Quadratzentimeter des Höllenraumes, noch eine Minute der Höllenzeit diesen beiden abscheulichen Kräften ausgeliefert worden ist. Alles ist hingegen erfüllt von Lärm: Lärm, die große Dynamik! ... Wir werden am Ende das ganze Weltall zu einem einzigen Lärm machen . . ,” „Sodann ist er (dein Patient) weiter zu bearbeiten bis zu dem Punkte, wo er das Christentum schätzt, weil es soziale Gerechtigkeit schafft. Denn der Feind läßt sich nicht nach Gutdünken gebrauchen. Menschen oder Völker, die meinen, sie können den Glauben erneuern, um dadurch eine bessere menschliche Gesellschaft zu schaffen, mögen sich gerade so gut vorstellen, sie seien im Stande, die Himmelsleiter als Abkürzung zur nächsten Apotheke zu benützen.” Die deutsche Übersetzung (erschienen in der Buchhandlung der Evangelischen Gesellschaft St. Gallen) liest sich sehr gut. Nur der Titel „Dämonen im Angriff” ist viel zu plump für dieses geistreiche und weise Buch.

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LeerIn diesem Sommer habe ich auf Einladung der kleinen evangelischen Gemeinde in Bozen einen Vortrag gehalten über „Kirche in der Begegnung”. Die Gedanken, die sich für uns mit diesem Thema verbinden - die Kirche begegnet sich selbst und ihrer eigenen Vergangenheit; die Kirchen begegnen einander, und sie begegnen zugleich der „Welt” -, sind unseren Freunden vertraut, und ich brauche sie hier nicht zu wiederholen. Für Bozen bedeutete dieser Vortrag insofern ein gewisses Ereignis, als überhaupt zum erstenmal dort von seiten der evangelischen Gemeinde zu einem öffentlichen Vortragsabend eingeladen war. Die vorzüglich geleitete Bozener deutsche Tageszeitung („Die Dolomiten”) brachte zunächst einen ausführlichen und durchaus zutreffenden Bericht, danach einige Wochen später eine „Stellungnahme”, die der Zeitung „aus (katholischen) kirchlichen Kreisen” zugegangen war. Diese Zuschrift, die nach ihrer ganzen Haltung und nach den genauen auch personalen Kenntnissen von einer sehr gut unterrichteten kirchlichen Stelle stammen muß, nimmt Bezug darauf, daß den Katholiken die Teilnahme an den „Konferenzen Andersgläubiger” untersagt sei, daß aber der Heilige Stuhl vor kurzem unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen die Möglichkeit zu ernsthaften Gesprächen zwischen Katholiken und Protestanten geschaffen habe. Solche Gespräche (wie ich sie in meinem Vortrag natürlich erwähnt hatte) seien in konfessionell gemischten Gegenden wie Deutschland unter Umständen nützlich, um der Gefahr einer „Gleichwertung” verschiedener christlicher Kirchen entgegenzuwirken; „bei uns, wo solche Probleme dank der durch die Jahrhunderte geretteten Glaubenseinheit nicht in erwähnenswertem Maße bestehen, hätten solche Gespräche keine Bedeutung.”

LeerEs scheint mir nötig, dazu ein paar Worte zu sagen. Für die Zukunft Europas gibt es kaum eine so schicksalsschwere und verantwortungsvolle Aufgabe wie die eines solchen Verhältnisses zu den getrennten christlichen Kirchen, wie es dem gemeinsamen Glauben an Christa den Herrn angemessen ist. Den Begegnungen standzuhalten, die wir nicht willkürlich ausgesucht haben, sondern in die wir hineingestellt sind, ist eine unabweisbare Aufgabe für alle, die wirklich nicht in irgendeiner angeblich besseren Vergangenheit, sondern in unserer geschichtlichen Stunde leben und ihr gerecht werden wollen. Unsere römisch-katholischen Freunde in Deutschland werden die ihnen auferlegte Begegnung mit den reformatorischen Kirchen nicht nur für ein Unglück und für eine Störung ihres eigenen Daseins empfinden und werden mit uns der Uberzeugung fein, daß die römisch-katholische Kirche sich da in einer besonderen Gefahr befindet, wo sie „dank der durch die Jahrhunderte durchgeretteten Glaubenseinheit” glaubt, sich dieser Begegnung und den daraus entstehenden Gesprächen entziehen zu können. Gegenüber den Wegen, die Gott mit Seiner Kirche geht, und den vielleicht unbequemen Aufgaben, die Er uns vor die Füße legt, ist es nicht so sehr wichtig, was wir wollen und planen, oder was wir nicht wollen, und wovon wir wünschen möchten, daß es „nicht da” sei.

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LeerIn der Zeitschrift der United Lutheran Church in America („The Lutheran”, vom 22. November v. J.) finde ich einen ausgezeichneten kleinen Aufsatz von Professor Reinhold Niebuhr (einem der bedeutendsten amerikanischen Theologen) über „Die Menschenwürde”. In dem Kampf der „Demokratie” gegen jede Form von „Totalitarismus” scheint zunächst das eigentlich Verbindende dies zu sein, daß wir alle an die „Menschenwürde” glauben. Dabei darf aber nicht verdunkelt werden, daß die Bibel in einem anderen Sinn an die Würde des Menschen glaubt als die „säkulare” Welt. - Die Bibel sieht nämlich die Menschenwürde vor allem darin, daß der Mensch von Gott zur Freiheit und zur Verantwortung geschaffen ist; darum kann es sein, daß der Mensch nicht nur zu den „Tyrannen” sagen muß: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen”, sondern daß er ebenso zu der „Demokratischen Gesellschaft” sagen muß: „Es ist mir ein Geringes, daß ich von Menschen gerichtet werde; der, der mich richtet, ist der Herr” (1. Kor. 4, Z f.). In der säkularen Kultur besteht eine merkwürdige Neigung, in einem Augenblick die Würde des Menschen zu preisen und im nächsten Augenblick zu leugnen, daß er letztlich tiefer „verpflichtet” ist als in allen Verpflichtungen gegenüber der menschlichen Gesellschaft. Es gehört zu dieser Würde, daß der Mensch sich nicht mit den Einflüssen aus Vererbung, Umwelt und Verhalten der Anderen entschuldigen kann, so wenig wie sich Adam herausreden kann mit dem Weib, das ihm gegeben ist. Man kann nicht ehrlich von der Würde des Menschen reden, ohne zugleich von seinem Elend und seiner Sünde zu reden. Nur in einem erschrockenen und demütigen Menschen, der sich nicht über sich selbst betrügt, kann das Gottesbild, zu dem der Mensch geschaffen ist, wiederhergestellt werden. Der gemeinsame Gegensatz gegen die Verletzung der Menschenwürde im totalen Staat darf uns also nicht dazu verführen, zu vergessen oder zu verleugnen, daß das Evangelium uns eine große, aber zugleich eine in tieferem Sinn bedrohte und verderbte Würde des Menschen zeigt.

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LeerIn der wechselseitigen Fürbitte im Eingang der Evangelischen Messe kehrt mehrfach die Anrede „Brüder” und „Bruder” wieder. „Ich bekenne Gott dem Allmächtigen und euch, Brüder...” „Darum bitte ich euch, Brüder, bittet für mich zu Gott unserem Herrn”; und dann entsprechend „dir, Bruder .darum bitten wir dich, Bruder...”. Ich versuche mir und anderen klarzumachen, warum ich diese Anrede zu- meist als peinlich empfinde, und warum ich meine, daß sie aus der geschlossenen Feier der Bruderschaft nicht auf den weiteren Kreis der Gemeinde übertragen werden sollte. Nicht nur deswegen, weil die also angeredeten Brüder zumeist in der Mehrzahl Schwestern sind, und weil in unserem Sprachgebrauch nicht wie in dem des Neuen Testaments das Wort Brüder ohne weiteres beide Geschlechter umfaßt. Der Grund meines Unbehagens liegt tiefer. Die Anrede Bruder und der Ausruf zur Brüderlichkeit ist da sinnvoll, wo die, die sich gegenseitig so anreden, einander in der gleichen Situation und Funktion begegnen; hier aber tritt der Pastor mit seinem Bekenntnis vor seine Gemeinde und sie bittet für ihren Hirten. Daß wir auch in diesem Augenblick keine andere Anrede gebrauchen als den gleichstellenden Brudernamen, ist ein Symptom dafür, daß wir bis in das innerste Heiligtum hinein über dem Ideal der Gleichheit und Gleichordnung den Blick auf die besondere Würde des geistlichen Amtes und das Wissen um den verschiedenen Rang der geistlichen Funktionen verloren haben. Wir wollen immer nur alle Brüder sein und wollen keine Väter haben; wir wollen auf einer Ebene stehen und wollen keine Autorität anerkennen. Es hat mir immer tiefen Eindruck gemacht, daß in anderen Ländern mit großer Selbstverständlichkeit auch der junge Mann, sobald er zum geistlichen Amt eingesegnet ist, als padre, père, father angeredet wird. Wahrscheinlich können wir das nicht nachmachen; aber es gibt manche Punkte, an denen wir das Falsche oder Bedenkliche nicht mehr können, obwohl wir das, was richtig wäre, noch nicht können.

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LeerJeder Arzt macht seine Kranken daraus aufmerksam, daß Rückfälle vielfach gefährlicher sind als die Krankheit selbst. Die Bibel überträgt diese einfache Erfahrungstatsache auf den Bereich des geistlichen Lebens. Sie wendet auf denjenigen, der zurückkehrt auf einen Weg, den er schon als falsch verlassen hat, das derbe Sprichwort an, daß der „Hund wieder frißt, was er gespieen hat”, und sagt, es werde „mit demselbigen Menschen ärger denn zuvor”. (2. Petr. 2, 22; Luk. 11, 26.) Ich mußte an diese unfreundlichen Bibelstellen vom Rückfall denken, als mir kürzlich ein „Vorschlag zur Bildung einer neuen Weltanschauungsrichtung” übersandt wurde. In dem Begleitschreiben stehen folgende lapidaren Sätze: „Im allgemeinen Sinne Mensch zu sein und Angehöriger einer Nation, ist mit der Zugehörigkeit zu einer Kirche unvereinbar geworden. Wenn man Mensch und Nationalist sein will, muß man das Christentum beiseiteschieben, weil es durch die Kirchen die Nationen entzweit und selbst einzelne Nationen spaltet. Dadurch wird die Ehrfurchtslosigkeit vor Gott genährt, was wieder die Ehrfurcht vor der Familie und vor dem Vaterland schwächt. Die Vertreter der Kirche werden gewiß eingesehen haben, wie sie - auch ungewollt - also keine Aufbauer, sondern Zerstörer am Gotteswerke sind. Alle, die guten Willens sind, erwarten von ihnen einen Ausgleich und Vereinigung, noch bevor diesbezüglicher Wunsch der Gläubigen äußere Formen angenommen hat. - Unter Weglassung der bisherigen Organisationen verschiedener Kirchen müßte die einheitliche Kirche neu organisiert werden, wobei dem erstarkten Nationalismus Rechnung getragen werden muß. Die nationalen Zweige der Kirche sollten berechtigt sein, die Art der Anbetung und Verehrung Gottes selbst festzustellen.”

LeerWir hätten gemeint, von dieser Idee hätte unser Volk nun wirklich ausreichend Erfahrung gesammelt. Die radikalen Deutschen Christen, die sich am liebsten vom Führer befehlen lassen wollten, was sie glauben sollten, waren einigermaßen harmlos gegen diese „neue” Weltanschauungsrichtung. Aber ja, es wird mit demselbigen Menschen (wenn er nämlich trotz aller Prügel, die er von Gott bezogen hat, „derselbige bleibt”) ärger als zuvor.

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LeerEine Tageszeitung meldet, daß die Regierung in Lüneburg ihre Zustimmung zum Bau eines 70 Meter hohen Fernseh- und Fernsprechfunkturmes gegeben hat, und daß insgesamt drei solcher Türme im Bereich der Lüneburger Heide aufgestellt werden sollen. Daß die Zentralstelle für Naturschutz und Landschaftspflege im Bundesgebiet die Aufstellung jenes Turmes als unerwünscht bezeichnet hat, kann diesen technischen „Fortschritt” natürlich nicht hindern oder auch nur aufhalten. So sehr wir die ohnmächtigen Proteste, die im Interesse des Naturschutzes geltend gemacht werden, für berechtigt halten, so würden wir doch eine wirksame und vollmächtige Zentralstelle für Menschenschutz für noch notwendiger halten. Die letzten Jahrhunderte haben die Fähigkeit des Menschen, übersinnliche Wirklichkeiten wahrzunehmen, fortschreitend zerstört. Durch die Gewöhnung an die technischen Zwischenschaltungen wird auch die Fähigkeit, die menschliche Stimme und das Bild des wirklichen Geschehens unmittelbar aufzunehmen, immer mehr verkümmern. Alle Berichte aus Amerika beschreiben mit einigem Entsetzen, zu was für einer Landplage sich diese Fernseherei bereits ausgewachsen hat, und wie zerstörend sich diese neue Mode (die wie fast alle solche Moden primär geschäftlichen Interessen dient) auf das Familienleben und auf die Fähigkeit zu einer sinnvollen Freizeitgestaltung auswirkt. Aber da der Naturschutz ohnmächtig ist und es den Menschenschutz noch nicht gibt, wird uns auch dieser Unfug nicht erspart bleiben und weiterwirken an der Zerstörung des Menschen.

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LeerIn einer Schrift über „Das Ende der Neuzeit” hat Romano Guardini die etwa mit dem 14. Jahrhundert einsetzende „Neuzeit” dadurch gekennzeichnet, daß in ihr das Humanum als Maßstab des Menschen, ein vertrauensvolles Verhältnis zur Natur und die Kultur als Inbegriff der Weltgestaltung charakteristische Merkmale seien. Diese Merkmale seien jetzt im Schwinden, ihre Geltung im Abklingen; der Mensch der Zeit „hinter der Neuzeit”, also auch der Mensch der Gegenwart, sei zu beschreiben als ein nicht-menschlicher Mensch, der ein nicht-natürliches Verhältnis zur Natur habe und unter Kultur nicht mehr irgendeine pflegerische Weltgestaltung, sondern die reine Machtübung über die verfügbaren Kräfte verstehe. Es ist bemerkenswert, daß Guardini den Versuch macht, diese Merkmale der zukünftigen Entwicklung nicht nur negativ zu werten, sondern in ihnen die Spuren positiver Möglichkeiten aufzuweisen. Dieser Versuch ist mir jedenfalls nicht glaubwürdig geworden. Ist der nicht-menschliche Mensch nicht eben doch einfach und schlechthin der zerstörte Mensch, der im ständigen Aufruhr gegen seine Bestimmung, Mensch zu sein, sich selbst zur Qual und Gott zum Gespött wird? Gibt es nicht eine substanzielle Verderbnis des Menschen, von der es keine Genesung mehr geben kann, und welche nur noch die Hoffnung übrig läßt, daß Gottes Gericht „diesem allen” ein Ende machen wird? - Diese sehr vorsichtigen und vorläufigen Fragen wollen nur begründen, mit wieviel Recht der nächste Jahrgang unserer Evangelischen Jahresbriefe sich überwiegend mit den Fragen des Menschenbildes befassen wird; damit sind freilich zugleich alle die großen Fragen der Menschenführung und Menschenbildung im weitesten Sinn, der Erziehung und Seelsorge und der politischen Menschenformung berührt. Wir bitten unsere Freunde, auch unter ihren Bekannten auf diesen Plan unserer Hefte hinzuweisen.

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LeerViele unserer Freunde haben sich ehrlich erschrocken und betrübt darüber gezeigt, daß mit der Schließung unseres „Ordenshauses” in Assenheim auch unsere Freizeiten ihren örtlichen Mittelpunkt verloren haben; die zahlreichen Ausdrücke eines schmerzlichen Bedauerns sind ein Beweis dafür, wie vielen Menschen dieses Haus unter der Leitung seines Rektors P. Schumann lieb geworden ist und eine Bedeutung für ihr geistliches Leben gewonnen hat. Es ist hier wie in allen Dingen nötig, einem schmerzlichen Verlust seine positive Seite abzugewinnen. Wir unterschätzen nicht, wie wertvoll ein solcher Mittelpunkt ist, an dem Besucher aus den verschiedensten Teilen Deutschlands sich treffen; aber wir hoffen ernstlich, daß es durch die notwendige Dezentralisierung unserer Freizeitenarbeit einer größeren Zahl von Freunden möglich sein wird, an einer unserer Freizeiten teilzunehmen. Dankbar haben wir schon in diesem Jahr erfahren, daß sich uns mehr Orte für die Veranstaltung solcher Wochen öffnen, als wir es zu hoffen gewagt hatten, und wenn wir für das kommende Jahr rechtzeitig einen umfassenden Plan mitteilen, so werden unsere Freunde mit uns spüren, daß die Arbeit, die wir mit den geistlichen Wochen zu tun versuchen, nicht in der Heimatlosigkeit verkümmert, sondern sich ausbreitet und wächst; zugleich sollen sie wissen, daß wir durchaus offen sind für die Frage, ob es nicht an der Zeit sei, auch in unserer Freizeitenarbeit neue Wege zu gehen und neue Formen zu suchen.

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 219-224

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-23
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