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von Walter Tappolet |
Im Jahre 1949 haben die ersten drei Brüder in Taizé-les-Cluny ihre Gelübde abgelegt; es sind die alten Mönchsgelübde, mitsamt der Verpflichtung zum lebenslänglichen Cölibat, um ungeteilter für Gott und die Mitmenschen leben zu können. Großer Raum wird im Leben und Gebet des Bruders der Stille gegeben: „Das innere Schweigen setzt das fortwährende Neubeginnen eines Menschen voraus, der nie entmutigt ist, weil ihm immer wieder vergeben wird. Es verlangt zuerst das Vergessen des eigenen Ich, um die zwieträchtigen Stimmen in uns zur Ruhe zu bringen und die quälende Sorge zu meistern. Es ermöglicht uns das Gespräch mit Christus.” Gemeint ist ein gesteigertes inneres Wachsein und die Bereitschaft zum Hören, also etwas völlig anderes als ein stumpfes Stummsein. „Die Zurückhaltung in Rede und Bewegung hat noch nie die menschlichen Beziehungen behindert, nur das stumme Schweigen könnte ihnen Abbruch tun. Dieses Stummsein wird nicht von uns verlangt, weil es nichts gemein hat mit dem wahren Geist des inneren Schweigens.” Ein wichtiger Zug im Leben und Wesen der Brüder ist geformt von der Hingabe an die wahre Freude, als die erste der franziskanischen Tugenden. „Die vollkommene Freude verschenkt sich; wer sie kennt, sucht weder Dankbarkeit noch Wohlwollen. Sie liegt in dem immer neuen Ergriffensein von der unverdienten Gnade dessen, der die Fülle der geistlichen und irdischen Güter gewährt. Sie ist Dankbarkeit, sie ist Dankgebet.” „Die zweite ist die Einfachheit. „Dafür steht das französische Wort „simplicitée”, das eine sehr umfassende Bedeutung hat: Einfachheit, Einfalt, Bedürfnislosigkeit, Zufriedenheit. „Unsere Einfalt sei offenherzig und durchsichtig. Aus dem Geist der Einfalt heraus flieht der Bruder die krummen Wege, auf denen der Teufel ihn aufsucht. Die unnötigen Lasten wirft er von sich, um desto besser die Last der Menschen, seiner Brüder, zu Christus zu tragen. Die Einfalt äußert sich auch in der Klarheit des Blickes nach innen, mit dem wir alle Selbstgefälligkeit ablegen, um so leichter die Dornen zu ertragen, die unser Fleisch schmerzen. Sie liegt auch in der beschwingten Freude des Bruders, der nicht gebannt auf seine Fort- und Rückschritte starrt, sondern seinen Blick auf das Licht Christi richtet.” Aber diese gewiß hohen Tugenden wären nichts ohne die Barmherzigkeit. In diesem Abschnitt stehen die Ermahnungen, die Brüder zu lieben und ihnen zu vergeben. Das ist nur möglich, wenn auch Christus uns vergibt. „Die Absolution gibt dich der Freude des Heils zurück. Suche sie in einer kurzen, aber häufigen Beichte. Denn wenn die Sünde eines Gliedes auf dem ganzen Leibe lastet, so gliedert auch die von einem Bruder ausgesprochene Vergebung Gottes den Sünder wieder in die Gemeinschaft ein. Die Beichte geschieht immer bei dem gemeinsam mit dem Prior gewählten Bruder.” „Wer in der Barmherzigkeit lebt, kennt weder Empfindlichkeit noch Enttäuschungen. Er gibt sich einfältig, selbstvergessend, freudig, von ganzem Herzen, ohne Gegenleistung zu erwarten.” Wie sehr der Geist der Regel in der Bibel, im Evangelium verankert ist, wird besonders deutlich im Abschnitt über die Gütergemeinschaft und die Armut. „Die Gütergemeinschaft ist vollständig. Glaube nicht, wenn du ein sehr persönliches Geschenk erhältst, daß du davon entbunden bist, es abzugeben. Die Loslösung von den kleinen Dingen bleibt schwer bis ans Ende. Die Kühnheit, alle Güter zum Besten zu gebrauchen ohne Angst vor der Armut, gibt eine unglaubliche Kraft. Armut ist keine Tugend an sich. Der Geist der Armut nach dem Evangelium ist das Leben ohne Sicherung des Morgen, in der freudigen Gewißheit, daß gesorgt sein wird. Der Geist der Armut will nicht elend machen, sondern läßt über alles verfügen in der einfältigen Schönheit der Schöpfung. Der Geist der Armut ist das Leben in der Freudigkeit der Gegenwart. So wie Gott die Güter dieser Erde umsonst verteilt, soll der Mensch auch denen geben, die nichts haben.” Die Gütergemeinschaft im Materiellen, so führte der Prior aus, ist nicht schwer; sie ist für die Brüder, die wie die „Arbeiterpriester” in der Fabrik arbeiten, ein selbstverständlicher Akt der Solidarität mit den Arbeitern und den Ärmsten. Schwieriger ist die Gütergemeinschaft im Geistigen, das Anteilgeben an den geistigen Gaben, „le partage”. Dies setzt eine „transparente totale”, eine absolute Durchsichtigkeit, voraus. Die Autorität des Priors und auf der andern Seite das Gelübde des Gehorsams ist wohl diejenige Stelle in der Regel, wo die evangelische Kritik am stärksten einhakt. Die Autorität des Priors ist in Christus begründet, von Christus hat er sein Amt und seine Verantwortung. Das Ideal wäre in allen Fragen die Einmütigkeit. Wo diese fehlt, kann im geistlichen Bereich unmöglich die Majorität entscheiden, sonst würden sofort Klüngelbildung und der Geist der Demagogie die Gemeinschaft vergiften. Alles was der Prior tut, soll von seiner dreifachen Aufgabe geleitet sein: über die Ordnung der Gemeinschaft zu wachen, die Einheit hervorzurufen und die Gemeinschaft immer mehr auf Christus hinzulenken. Nach zwei kürzeren Abschnitten über die „Brüder unterwegs” und die „Novizen” folgt ein längerer über die Gäste. Denn die Liebe der Brüder und die Echtheit ihrer Gemeinschaft im Geiste Jesu erfährt ihre nächste Bewährung an den Gästen. Daneben hat die Bruderschaft, ähnlich wie die verwandte Schwesternschaft in Grandchamp am Neuenburgersee, es sich zur Aufgabe gestellt, in dem hastigen und besinnungslosen Getriebe der neueren Zeit eine Stätte der Einkehr und Erbauung zu gestalten, wo übermüdete Menschen und solche, die nicht mehr aus noch ein wissen, wahrhaftige Kraft und Weisung finden können: „In einem Gast empfangen wir Christus selber. Scheuen wir die Gastfreundschaft nicht: laßt uns dafür unsere Freiheit opfern und manchmal Gäste mit Großzügigkeit empfangen und uns daran freuen”. „Wenn die Gastfreundschaft auch mit Großzügigkeit, so soll sie nicht ohne Unterscheidung gehandhabt werden. Es darf nie vergessen werden, daß wir nicht allen Bedürfnissen nachkommen können, und daß auch andere in der Kirche Gaben empfangen haben, um zu helfen. Die „stillen Tage” - „Retraite”, Zeit der Zurückgezogenheit, Rüstzeit - bleiben unser wichtigstes Gastgeberamt.” Ich hatte gedacht, daß ich, sobald ich sehe, daß mein Freund, der mich aufgefordert hatte, ihn zu begleiten, sich zurechtfände in dieser für einen deutschschweizerischen Reformierten vor allem liturgisch ungewohnten Umgebung, für einige Tage weiter nach Westen ziehen würde, um einige der alten Kirchen mit den romanischen Wandmalereien zu besuchen und erst kurz vor unserer Rückfahrt wieder nach Taizé zurückzukehren. Aber diese Atmosphäre des Gebetes, der Stille - im Gästehaus herrscht Tag und Nacht das höchstens durch die Aussprachen mit dem Prior unterbrochene Silentium - und der brüderlichen Gemeinschaft, die ja in unseren Kirchen eine so große Seltenheit geworden ist, war so wohltuend und stärkend, daß ich diese ursprünglichen Pläne fallen ließ und die ganze Woche ebenfalls dort blieb. Noch eine wichtige Sache muß genannt werden: das Kinderheim im „Manoir”, dem zweiten Landschlößchen von Taizé. Dort betreut die Schwester des Priors mit ihren Helfern und Helferinnen etwa dreißig Waisenknaben, die von der Bruderschaft als Ganzem adoptiert worden sind. Neben der Theologie und der Liturgie ist also die Erfüllung der Pflicht zur Diakonie offensichtlich. Diese Kinder bilden gleichsam die Familie mit ihren Freuden, Sorgen und Verpflichtungen für die ehelosen Brüder. Die Knaben sind lebenslänglich angenommen, aber jederzeit frei. An Ausbildung können sie frei wählen. Hat einer den Drang und die Berufung zur Medizin, so ermöglicht ihm die Bruderschaft auch dieses teuerste aller Studien. Einer der ältesten hatte eben, als wir dort waren, seine Ausbildung als Schauspieler in Paris vollendet; er wollte heimkommen, aber der Prior schickte ihm Geld, damit er in der Stadt bleibe und dort versuche, sich selbständig durchzuschlagen und eine Betätigungsmöglichkeit zu finden. Das Verhältnis mit dem Rest der angestammten Bevölkerung ist ein freundliches; die „Eingeborenen” wahren eine gewisse Distanz, da für sie die Brüder trotz ihrer einfachen Lebensweise eben „les messieurs du Cháteau”, die Schloßherren, sind. Sie versagen ihnen aber die Achtung nicht, was deutlich darin zum Ausdruck kam, daß kürzlich einer der Brüder in den Gemeinderat gebeten wurde. Einer jedoch, ein Viehhändler von Cormatin, sei oft zu Besuch gekommen und habe sie interessiert, aber still bleibend immer wieder beobachtet. Schließlich sei er mit der Sprache herausgerückt, denn nun sei er, so sagte er, endlich dem Geheimnis auf die Spur gekommen: Er lebe zu Hause meist im Streit, im Streit mit den Verwandten, mit den Angestellten, ja sogar oft auch mit seiner Frau und seinen Kindern, während sie, die doch auch jeder seinen eigenen und oft sehr ausgeprägten Charakter hätten, im Frieden miteinander auskämen. Das sei deshalb so, weil sie „Christus unter sich hätten”. Die Brüder haben weder gepredigt noch sonst ihre Ansichten und Theorien an diesen Mann herangetragen; ihr Zusammenleben war für ihn ein Zeugnis Christi, und ich bin überzeugt, daß der Viehhändler fortan bemüht ist, den Streit zu meiden und zu verhüten, weil das vorgelebte Beispiel ihn gewonnen hat. Mir will scheinen, es gebe heute für die „Rettung” des europäischen Christentums nichts Wichtigeres, nichts Notwendigeres, als daß kleine Gruppen und Kreise im gemeinsamen Beten und Arbeiten zu der theologischen Besinnung den Lobpreis und die Anbetung nicht nur im Gottesdienstlichen vom Ursprung her neu aufleben lassen, sondern im diakonischen Dienst diese Dreiheit von Theologie, Liturgie und Diakonie wirksam bezeugen. Denn in unserer auf das Existentielle ausgerichteten geistigen Situation der Gegenwart haben auch die besten und schönsten Worte kaum mehr entscheidende Wirkungsmächtigkeit, sondern nur noch das echte, alles Glauben, Denken und Wollen legitimierende Leben. Quatember 1955, S. 227-231 |
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