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Die Regel der Brüder von Taizé
von Walter Tappolet

LeerIm Jahre 1949 haben die ersten drei Brüder in Taizé-les-Cluny ihre Gelübde abgelegt; es sind die alten Mönchsgelübde, mitsamt der Verpflichtung zum lebenslänglichen Cölibat, um ungeteilter für Gott und die Mitmenschen leben zu können.

LeerDie Regel von Taizé ist das Gnadengeschenk einer großen geistlichen Reife. In der Ausrichtung auf die höchsten Ziele zeugt sie von tiefer Weisheit darin, wie sie auch die kleinen Dinge richtig einordnet. Auch hier begegnen wir der wohltuenden Natürlichkeit, die das ganze Leben der Brüder kennzeichnet, eine Gelöstheit, die es dem Romanen allerdings leichter macht, nicht in einen geistlichen Krampf hineinzugeraten.

Leer„Bruder, wenn du dich einer gemeinsamen Regel unterwirfst, kannst du es nur um Christi und um des Evangeliums willen tun. Dein Lob und dein Dienst sind von nun an eingefügt in eine brüderliche Gemeinschaft, die ihrerseits eingebaut ist in eine Kirche und mit ihr gliedhaft verbunden. Deine innere Zucht, die deinem Christenleben nötig ist, ist getragen durch die gemeinsame Übung. In allem mußt du mit deinen Brüdern rechnen.” „Wenn diese Regel als ein Endziel angesehen würde und uns davon entheben würde, immer mehr nach dem Willen Gottes, der Barmherzigkeit Jesu, dem Licht des Heiligen Geistes zu suchen, dann wäre sie besser nicht geschrieben worden. Damit Christus in mir wachse, muß ich meinen eigenen Fall und meine Schwachheit kennen, ebenso wie die der Menschen, meiner Brüder. Für sie werde ich allen alles, bis zur Hingabe meines Lebens, für Christus und Sein Evangelium.” Und der Schluß der „Ermahnung anläßlich der Verpflichtung” lautet: „Der Herr Christus hat dich in Seinem Erbarmen und Seiner Liebe zu dir zu einem Zeichen brüderlicher Liebe in der Kirche erwählt. Er will, daß du mit deinen Brüdern das Gleichnis der Bruderschaft erfüllst. Nun schaue nicht mehr rückwärts, sei erfüllt mit unendlicher Freude, fürchte nie zu früh aufzustehen, um zu loben, zu benedeien, zu besingen Christum, deinen Herren.”

Leer„Ordnung des Gebetes”: „Gleich wie die Jünger voll Freude sich ständig zum Tempel hielten, Dich zu loben, will ich Deine Wunder erzählen. Ich will mich niederwerfen vor Gott, gekleidet mit heiligem Schmuck; denn Du hast meine Traurigkeit gewandelt in Fröhlichkeit, Du hast mich gegürtet mit Freude, damit meine Seele Dein Lob singe mit Psalmen. Und ich will sagen zu meiner Seele, wache auf, ich will wachen mit der Morgenröte; denn mein Herz hat nach Dir verlangt, und ich sage, daß Du auf meine Lippen legen wirst die Lieder der Fröhlichkeit. Die Übung des täglichen Gebets hat ihren Ort in der Gemeinde der Heiligen, es ist vor allem Gebet der Kirche. Um diese Gemeinschaft mit den Gläubigen aller Zeiten herzustellen, müssen wir uns einer brennenden Fürbitte für die Menschen und für die Kirche hingeben.”

LeerEs liegt also auch der Gebetsordnung dieser Ordensgemeinschaft die tiefe geistliche Einsicht zugrunde, daß die Abkapselung im individuellen Gebet abseits vom Gebet der Kirche das geistliche Leben hindert, während umgekehrt das liturgische Gebet in Formalismus und Schablone erstarren kann, wenn es nicht getragen und immer von neuem genährt wird vom tausendfachen persönlichen Gebet der Einzelnen. Ja, der Kreis ist noch weiter gespannt: „Das Christuslob, das in der Liturgie zum Ausdruck kommt, ist wirksam in dem Maß, als es auch durch die allerniedrigsten Arbeiten hindurch weiterklingt. Durch die Regelmäßigkeit des Gebets keimt die Liebe zu Jesus in uns, ohne daß wir wissen wie.”

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LeerUnd all dies ohne geistlichen Krampf, aber mit der Treue des Beharrenden; denn es gibt Tage, an denen das Stundengebet schwer fällt. „Dann opfere deinen Leib, da ja schon deine Anwesenheit den im Augenblick nicht erfüllbaren Wunsch ausdrückt, Gott zu loben. Glaube an die Gegenwart Christi in dir, auch wenn du keinen vernehmbaren Widerhall spürst.” Wie tröstlich müssen solche Sätze auf denjenigen wirken, der darunter leidet, wenn er wohl das Wollen hat, nicht aber auch das Vollbringen. Das sind dann wahrhaft helfende Worte eines väterlichen Seelsorgers. „Damit dein Gebet wahrhaftig sei, mußt du dich bei der Arbeit mühen. Wenn du dich einer spielerischen Liebhaberei dauernd überlässest, bist du unfähig zur wahren Fürbitte. Dein Gebet wird recht, wenn es mit der Arbeit verschmilzt.”

LeerGroßer Raum wird im Leben und Gebet des Bruders der Stille gegeben: „Das innere Schweigen setzt das fortwährende Neubeginnen eines Menschen voraus, der nie entmutigt ist, weil ihm immer wieder vergeben wird. Es verlangt zuerst das Vergessen des eigenen Ich, um die zwieträchtigen Stimmen in uns zur Ruhe zu bringen und die quälende Sorge zu meistern. Es ermöglicht uns das Gespräch mit Christus.” Gemeint ist ein gesteigertes inneres Wachsein und die Bereitschaft zum Hören, also etwas völlig anderes als ein stumpfes Stummsein. „Die Zurückhaltung in Rede und Bewegung hat noch nie die menschlichen Beziehungen behindert, nur das stumme Schweigen könnte ihnen Abbruch tun. Dieses Stummsein wird nicht von uns verlangt, weil es nichts gemein hat mit dem wahren Geist des inneren Schweigens.”

LeerEin wichtiger Zug im Leben und Wesen der Brüder ist geformt von der Hingabe an die wahre Freude, als die erste der franziskanischen Tugenden. „Die vollkommene Freude verschenkt sich; wer sie kennt, sucht weder Dankbarkeit noch Wohlwollen. Sie liegt in dem immer neuen Ergriffensein von der unverdienten Gnade dessen, der die Fülle der geistlichen und irdischen Güter gewährt. Sie ist Dankbarkeit, sie ist Dankgebet.” „Die zweite ist die Einfachheit. „Dafür steht das französische Wort „simplicitée”, das eine sehr umfassende Bedeutung hat: Einfachheit, Einfalt, Bedürfnislosigkeit, Zufriedenheit. „Unsere Einfalt sei offenherzig und durchsichtig. Aus dem Geist der Einfalt heraus flieht der Bruder die krummen Wege, auf denen der Teufel ihn aufsucht. Die unnötigen Lasten wirft er von sich, um desto besser die Last der Menschen, seiner Brüder, zu Christus zu tragen. Die Einfalt äußert sich auch in der Klarheit des Blickes nach innen, mit dem wir alle Selbstgefälligkeit ablegen, um so leichter die Dornen zu ertragen, die unser Fleisch schmerzen. Sie liegt auch in der beschwingten Freude des Bruders, der nicht gebannt auf seine Fort- und Rückschritte starrt, sondern seinen Blick auf das Licht Christi richtet.”

LeerAber diese gewiß hohen Tugenden wären nichts ohne die Barmherzigkeit. In diesem Abschnitt stehen die Ermahnungen, die Brüder zu lieben und ihnen zu vergeben. Das ist nur möglich, wenn auch Christus uns vergibt. „Die Absolution gibt dich der Freude des Heils zurück. Suche sie in einer kurzen, aber häufigen Beichte. Denn wenn die Sünde eines Gliedes auf dem ganzen Leibe lastet, so gliedert auch die von einem Bruder ausgesprochene Vergebung Gottes den Sünder wieder in die Gemeinschaft ein. Die Beichte geschieht immer bei dem gemeinsam mit dem Prior gewählten Bruder.” „Wer in der Barmherzigkeit lebt, kennt weder Empfindlichkeit noch Enttäuschungen. Er gibt sich einfältig, selbstvergessend, freudig, von ganzem Herzen, ohne Gegenleistung zu erwarten.”

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LeerDie Ehelosigkeit soll kein Zwang sein, sondern ein freudig geleistetes Opfer, ein Weg, um Christus und die Brüder um so mehr zu lieben: „Wenn die Ehelosigkeit es ermöglicht, sich in größerem Maße der Sache Gottes zur Verfügung zu stellen, so kann sie doch nur angenommen werden, um sich desto mehr dem Nächsten hinzugeben mit dem Herzen Jesu selbst. Ehelosigkeit bedeutet weder Abbruch aller menschlichen Zuneigung noch Gleichgültigkeit, sondern Reinigung unserer natürlichen Liebe. Christus allein bringt in einem Bruder die Verwandlung der sinnlichen Leidenschaften in völlige Nächstenliebe zustande. Wenn die Eigensucht deiner Begierden nicht von einer wachsenden Hingabe überflügelt wird, wenn das Herz nicht ständig erfüllt ist von grenzenloser Liebe, so wird die Ehelosigkeit eine unglaubliche Last. Dieses Werk Christi in sich fordert unendliche Geduld.” „Reinen Herzens lebt man nur, indem man sich selber freudig vergißt, um sein Leben für die zu geben, die man liebt. Und deine Hingabe setzt voraus, daß man eine oft verwundete Empfindsamkeit gelassen trägt. Es gibt keine Freundschaft ohne reinigendes Leiden. Es gibt keine Nächstenliebe ohne Kreuz. Das Kreuz allein hilft uns die unergründlichen Tiefen der Liebe zu erfahren.”

LeerWie sehr der Geist der Regel in der Bibel, im Evangelium verankert ist, wird besonders deutlich im Abschnitt über die Gütergemeinschaft und die Armut. „Die Gütergemeinschaft ist vollständig. Glaube nicht, wenn du ein sehr persönliches Geschenk erhältst, daß du davon entbunden bist, es abzugeben. Die Loslösung von den kleinen Dingen bleibt schwer bis ans Ende. Die Kühnheit, alle Güter zum Besten zu gebrauchen ohne Angst vor der Armut, gibt eine unglaubliche Kraft. Armut ist keine Tugend an sich. Der Geist der Armut nach dem Evangelium ist das Leben ohne Sicherung des Morgen, in der freudigen Gewißheit, daß gesorgt sein wird. Der Geist der Armut will nicht elend machen, sondern läßt über alles verfügen in der einfältigen Schönheit der Schöpfung.

LeerDer Geist der Armut ist das Leben in der Freudigkeit der Gegenwart. So wie Gott die Güter dieser Erde umsonst verteilt, soll der Mensch auch denen geben, die nichts haben.” Die Gütergemeinschaft im Materiellen, so führte der Prior aus, ist nicht schwer; sie ist für die Brüder, die wie die „Arbeiterpriester” in der Fabrik arbeiten, ein selbstverständlicher Akt der Solidarität mit den Arbeitern und den Ärmsten. Schwieriger ist die Gütergemeinschaft im Geistigen, das Anteilgeben an den geistigen Gaben, „le partage”. Dies setzt eine „transparente totale”, eine absolute Durchsichtigkeit, voraus.

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LeerDie geistliche Leitung der Gemeinschaft ist dem Prior anvertraut. Er „stiftet die Einheit in der Brüderschaft”. „Ohne die Einheit im Geist gibt es keine Hoffnung auf eine kühne und vollständige Hingabe im Dienste Jesu Christi. Der Individualismus zersetzt die Brüderschaft und hemmt sie auf ihrem Weg”. „Die Brüder sollen ihm gegenüber freimütig sein, aber seinem Amt gegenüber achtsam und daran denken, daß der Herr ihm einen Auftrag anvertraut hat”. „Der Prior unterliegt denselben Schwächen wie seine Brüder. Wenn diese ihn um seiner menschlichen Eigenschaften willen lieben, geraten sie in Gefahr, ihn in seinem Amt nicht mehr anzuerkennen, wenn sie seine Sünde entdecken”. „In der Leitung der Seelen achte er darauf, daß er sie nicht unterwerfe, sondern einbaue in den Leib Christi. Er suche die Gaben, die in jedem Bruder vorherrschen, um sie ihm zu entdecken. Er soll sein Amt nicht überschätzen, aber auch nicht mit falscher Bescheidenheit ansehen und sich einzig daran erinnern, daß es ihm von Christus anvertraut ist und er Ihm Rechenschaft ablegen muß”. „Er wappne sich mit Barmherzigkeit und erbete sie von Christus als die für ihn wichtigste Gnade.”

LeerDie Autorität des Priors und auf der andern Seite das Gelübde des Gehorsams ist wohl diejenige Stelle in der Regel, wo die evangelische Kritik am stärksten einhakt. Die Autorität des Priors ist in Christus begründet, von Christus hat er sein Amt und seine Verantwortung. Das Ideal wäre in allen Fragen die Einmütigkeit. Wo diese fehlt, kann im geistlichen Bereich unmöglich die Majorität entscheiden, sonst würden sofort Klüngelbildung und der Geist der Demagogie die Gemeinschaft vergiften. Alles was der Prior tut, soll von seiner dreifachen Aufgabe geleitet sein: über die Ordnung der Gemeinschaft zu wachen, die Einheit hervorzurufen und die Gemeinschaft immer mehr auf Christus hinzulenken.

LeerNach zwei kürzeren Abschnitten über die „Brüder unterwegs” und die „Novizen” folgt ein längerer über die Gäste. Denn die Liebe der Brüder und die Echtheit ihrer Gemeinschaft im Geiste Jesu erfährt ihre nächste Bewährung an den Gästen. Daneben hat die Bruderschaft, ähnlich wie die verwandte Schwesternschaft in Grandchamp am Neuenburgersee, es sich zur Aufgabe gestellt, in dem hastigen und besinnungslosen Getriebe der neueren Zeit eine Stätte der Einkehr und Erbauung zu gestalten, wo übermüdete Menschen und solche, die nicht mehr aus noch ein wissen, wahrhaftige Kraft und Weisung finden können: „In einem Gast empfangen wir Christus selber. Scheuen wir die Gastfreundschaft nicht: laßt uns dafür unsere Freiheit opfern und manchmal Gäste mit Großzügigkeit empfangen und uns daran freuen”. „Wenn die Gastfreundschaft auch mit Großzügigkeit, so soll sie nicht ohne Unterscheidung gehandhabt werden. Es darf nie vergessen werden, daß wir nicht allen Bedürfnissen nachkommen können, und daß auch andere in der Kirche Gaben empfangen haben, um zu helfen. Die „stillen Tage” - „Retraite”, Zeit der Zurückgezogenheit, Rüstzeit - bleiben unser wichtigstes Gastgeberamt.”

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LeerDas ist wirklich ein außerordentliches Gastgeschenk, das man in Taizé bekommt, wenn man für einige Tage dort einkehrt. Die „Touristen”, die oft aus ehrlichem Interesse, oft auch nur aus Sensationslust - die gibt es ja auch im geistlichen Bereich - für einige Stunden ihre Autoreise unterbrechen, werden freundlich aufgenommen und bewirtet, sind aber nicht allzu sehr geschätzt. Wer nach Taizé gehen will, soll sich die Zeit nehmen für eine Retraite, eine geistliche Rüstzeit von wenigstens drei Tagen. Bei der Ankunft bekommt man seine Kammer im Gästehaus zugewiesen; sie enthält nichts außer einem Bett, einem Stuhl und einem Tisch, aber auf diesem liebevoll hingestellte Blumen und die Anweisung zur rechten Nützung der Tage, „Arbeit und Ruhe, dein ganzer Tag sei belebt vom Worte Gottes. Erhalte in allem das innere Schweigen, um in Christus zu bleiben. Laß dich durchdringen vom Geist der Seligpreisungen: Freude, Einfalt, Barmherzigkeit.” Die Anweisungen über Gebet, Lektüre, Meditation sollen zur Beichte und zum Empfang der Absolution vor einem der Brüder führen, auf daß ein neues Leben beginnen könne.

LeerIch hatte gedacht, daß ich, sobald ich sehe, daß mein Freund, der mich aufgefordert hatte, ihn zu begleiten, sich zurechtfände in dieser für einen deutschschweizerischen Reformierten vor allem liturgisch ungewohnten Umgebung, für einige Tage weiter nach Westen ziehen würde, um einige der alten Kirchen mit den romanischen Wandmalereien zu besuchen und erst kurz vor unserer Rückfahrt wieder nach Taizé zurückzukehren. Aber diese Atmosphäre des Gebetes, der Stille - im Gästehaus herrscht Tag und Nacht das höchstens durch die Aussprachen mit dem Prior unterbrochene Silentium - und der brüderlichen Gemeinschaft, die ja in unseren Kirchen eine so große Seltenheit geworden ist, war so wohltuend und stärkend, daß ich diese ursprünglichen Pläne fallen ließ und die ganze Woche ebenfalls dort blieb.

LeerNoch eine wichtige Sache muß genannt werden: das Kinderheim im „Manoir”, dem zweiten Landschlößchen von Taizé. Dort betreut die Schwester des Priors mit ihren Helfern und Helferinnen etwa dreißig Waisenknaben, die von der Bruderschaft als Ganzem adoptiert worden sind. Neben der Theologie und der Liturgie ist also die Erfüllung der Pflicht zur Diakonie offensichtlich. Diese Kinder bilden gleichsam die Familie mit ihren Freuden, Sorgen und Verpflichtungen für die ehelosen Brüder. Die Knaben sind lebenslänglich angenommen, aber jederzeit frei. An Ausbildung können sie frei wählen. Hat einer den Drang und die Berufung zur Medizin, so ermöglicht ihm die Bruderschaft auch dieses teuerste aller Studien. Einer der ältesten hatte eben, als wir dort waren, seine Ausbildung als Schauspieler in Paris vollendet; er wollte heimkommen, aber der Prior schickte ihm Geld, damit er in der Stadt bleibe und dort versuche, sich selbständig durchzuschlagen und eine Betätigungsmöglichkeit zu finden.

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LeerTaizé bleibt ihre Heimat und damit ihre letzte Zuflucht, auch wenn sie „draußen” bleiben. Einige werden zweifelsohne im entsprechenden Alter als Novizen in die Bruderschaft eintreten, unabhängig von ihrer beruflichen Ausbildung. Denn es gibt keine Rangordnung der Berufe und der Arbeitsgebiete. In der Regel stehen folgende Sätze: „Vergleiche dich nicht mit deinen Brüdern in der Ausübung deines Berufes. Fülle in aller Einfalt den Platz aus, an dem du notwendig bist für das Zeugnis des Ganzen.” Die Älteren der Burschen, die nicht in einer besonderen Ausbildung stehen, helfen in der Landwirtschaft und Viehzucht mit. Die Bruderschaft könnte wohl nicht allein durch ihre Erwerbszweige und die sonstige Arbeit der Brüder auch noch das Kinderheim erhalten, aber die Gaben fließen aus dem Freundes- und Verwandtenkreis der Brüder. Denn auch wenn mit dem Eintritt des Bruders in die Gemeinschaft sein Geschlechtsname erlischt, ist er durch die Regel gebunden, seinen Eltern „von Herzen zugetan” zu bleiben: „Aus der Art deiner Liebe sollen sie verstehen lernen, wie entschieden deine Berufung ist.”

LeerDas Verhältnis mit dem Rest der angestammten Bevölkerung ist ein freundliches; die „Eingeborenen” wahren eine gewisse Distanz, da für sie die Brüder trotz ihrer einfachen Lebensweise eben „les messieurs du Cháteau”, die Schloßherren, sind. Sie versagen ihnen aber die Achtung nicht, was deutlich darin zum Ausdruck kam, daß kürzlich einer der Brüder in den Gemeinderat gebeten wurde. Einer jedoch, ein Viehhändler von Cormatin, sei oft zu Besuch gekommen und habe sie interessiert, aber still bleibend immer wieder beobachtet. Schließlich sei er mit der Sprache herausgerückt, denn nun sei er, so sagte er, endlich dem Geheimnis auf die Spur gekommen: Er lebe zu Hause meist im Streit, im Streit mit den Verwandten, mit den Angestellten, ja sogar oft auch mit seiner Frau und seinen Kindern, während sie, die doch auch jeder seinen eigenen und oft sehr ausgeprägten Charakter hätten, im Frieden miteinander auskämen. Das sei deshalb so, weil sie „Christus unter sich hätten”. Die Brüder haben weder gepredigt noch sonst ihre Ansichten und Theorien an diesen Mann herangetragen; ihr Zusammenleben war für ihn ein Zeugnis Christi, und ich bin überzeugt, daß der Viehhändler fortan bemüht ist, den Streit zu meiden und zu verhüten, weil das vorgelebte Beispiel ihn gewonnen hat.

LeerMir will scheinen, es gebe heute für die „Rettung” des europäischen Christentums nichts Wichtigeres, nichts Notwendigeres, als daß kleine Gruppen und Kreise im gemeinsamen Beten und Arbeiten zu der theologischen Besinnung den Lobpreis und die Anbetung nicht nur im Gottesdienstlichen vom Ursprung her neu aufleben lassen, sondern im diakonischen Dienst diese Dreiheit von Theologie, Liturgie und Diakonie wirksam bezeugen. Denn in unserer auf das Existentielle ausgerichteten geistigen Situation der Gegenwart haben auch die besten und schönsten Worte kaum mehr entscheidende Wirkungsmächtigkeit, sondern nur noch das echte, alles Glauben, Denken und Wollen legitimierende Leben.

Quatember 1955, S. 227-231

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-19
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