Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1962
Autoren
Themen
Stichworte


Vom Geist orthodoxer Frömmigkeit
von Wladimir Lindenberg

Leer„Haeres gentium”, die Erbin der Menschheit wird die christliche Kirche seit der Urzeit genannt. Es ist vielleicht das Wunderbarste an ihr, daß sie Erbin der urältesten und erhabensten Mysterienkulte der Menschheit geworden ist. Der geschichtliche Jesus stand auf dem Boden der hebräischen Gottvaterreligion. Aber seine Jünger trugen seine Lehren in die weite, nicht-jüdische Welt hinaus. Abgesehen von ihrem eschatologischen und pneumatischen Gehalt, kannte diese Lehre weder Rassen noch -Klassenunterschiede und lehrte die uneingeschränkte Liebe, Demut, Ergebung in Gottes Willen, Friedfertigkeit und Duldsamkeit. Aus allen Rassen und Klassen strömten die Gläubigen herbei, die in der antiken Welt eine völlig neue Glaubensgemeinschaft von Unbedingten bildeten.

LeerWie die Kirche sich in der frühesten Zeit vom Judentum, seinem Kultus und seinem Gesetz, löste, so wußte sie sich auch vom Heidentum und seinen Gebräuchen geschieden. In dem Maße aber, als die Gemeinden sich festigten und schließlich das Heidentum innerlich und äußerlich überwunden wurde, nahm die Kirche unbefangen das „Gold aus Ägypten”, wie der hl. Augustin sagte, „zum besseren Gebrauch” in ihren Besitz - zur Begründung der Lehre und zur Ausgestaltung der Gottesdienste. Sie wurde „den Griechen ein Grieche”. Die Christen trennten sich nicht von ihren hergebrachten Gewohnheiten, Traditionen, Festen, Sprüchen und Verhaltungsweisen. So trugen sie aus ihrem alten Dasein ein ihnen eigentümliches Kolorit in das äußere und innere Gepräge ihres Glaubens hinein. Unter den Heiligen Basilius, Johannes Chrysostomos, Gregor von Nyssa und Ambrosius gelangte die Liturgie zu einer herrlichen Blüte. Die Christen erlebten in der heiligen Handlung das ganze Drama der Menschwerdung, der Lehre, der Erniedrigung, des Opfertodes und der Auferstehung Christi. Sie erlebten es nicht nur als Zuschauer, sie repräsentierten das Volk der Schüler und Jünger Christi. Jeden Tag wohnten sie stundenlang der Liturgie bei als Zeugen der Geschehnisse, und teilhaftig der Gnaden der Vergebung und der Beschenkung mit dem ewigen Leben, in der Gegenwart Christi. - Christus kam in ihre Gegenwart hinein. Der Hymnen singende Chor stellte symbolisch die Scharen der Engel dar, der Priester versinnbildlichte unseren Herrn und die Diakone seine Jünger.

LeerDer Kirchenraum ist ein Heiligtum, er wird zu einer Verheißung der Paradiesesfreuden, und der Betende erlebt sich frei von seinen Alltagssorgen. So heißt es in der Hymne der Cherubim: - „Die wir geheimnisvoll die Cherubim darstellen und der lebenspendenden Dreifaltigkeit das dreimalheilige Loblied singen, lasset uns alle Lebenssorgen ablegen.” -

LeerWann die Gottesgebärerin in den Kult aufgenommen wurde, wissen wir nicht genau. Sicherlich geschah es nicht im jüdischen Raum, der ganz auf das männliche Prinzip Gottvaters eingestellt war. Im übrigen Mittelmeerraum aber bestanden noch allenthalben Reste der Matriarchate, und, mit Ausnahme der Mithrasreligion, verehrten die Völker großartige und gewaltige Muttergöttinnen. Was lag da näher, als daß Maria, die Mutter Jesu, die ihn als Jungfrau empfing, im Bewußtsein der Gläubigen die Stelle jener Muttergottheiten einnahm. Große Lehrer der Christenheit, Justin, Irenäus, Athanasius der Große, Cyrill von Alexandrien, Tertullian waren enthusiastische Verehrer der Gottesgebärerin.

Linie

LeerSie war nicht nur die leibliche Mutter des Lehrers Jesu, sie war die Mutter des Christus, des Sohnes Gottes. So wurde sie zur Theotokos, zur Gottesgebärerin, zur „immerwährenden Jungfrau”, wie die orthodoxe Kirche sie nennt, und so heißt es in der Liturgie: - „Siehe, erfüllt ist die Weissagung des Jesaia: denn als Jungfrau gebarst du und bliebst nach der Geburt wie vor der Geburt. Denn Gott war der Geborene, deshalb erneuerte er auch die Natur.” -

LeerDurch sie kam das Heil zu uns: - „In deinem Schoße stellte der gelobte und hochverherrlichte Gott unserer Väter die ganze Welt völlig wieder her.” -

LeerSie wird zur Empfängerin der Gebete, zur mütterlichen Fürbitterin für die geplagte Menschheit. So betet der orthodoxe Christ zu Gott, er möge die Fürsprache der Mutter Gottes gnädig aufnehmen: - „Zeige deine Menschenliebe, oh, Barmherziger! Nimm sie an, die dich geboren hat, die Gottesgebärerin, welche für uns bittet, und erlöse, unser Erlöser, das verzweifelte Volk!” -

LeerDer orthodoxe Christ kennt keine scharfe Trennung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Er ist durch seinen materiellen Leib hier auf Erden gebunden. Aber die Verstorbenen und die Heiligen, die Muttergottes, Christus und die himmlischen Scharen sind ihm stets gegenwärtig. Daher bittet er immerfort für seine lieben Verstorbenen, denen er sich nahe fühlt, er ruft die Heiligen, die hier gelebt, gekämpft und gelitten haben, um ihren Beistand an, und, was ist natürlicher, als daß er in all seinen großen und kleinen Anliegen, zu seiner überhöhten Mutter, der Mutter Gottes, der Mutter des Alls, um Schutz, Beistand und Hilfe fleht.

LeerEr lebt so intensiv in dieser mystischen Welt, daß sie für ihn noch vollen Wirklichkeits- und Gegenwartswert besitzt. Wie viele Kranke und Leidende, Gedemütigte, Gefangene und Gebrechliche erleben die Gegenwart der Gottesgebärerin in Visionen oder Träumen und schöpfen daraus nicht nur Trost, sondern auch unerhörte Kräfte des Durchhaltens. Kennzeichnend für die Gesinnung des östlichen Christen ist, daß er in wahrer Demut Schicksalsschläge als Sendungen Gottes auf sich nimmt, daß er sich vor Seinem großen Willen beugt und daß er auch dem Tod ohne Angst und Hader begegnet, weil er für ihn wahrhaftig nicht mehr als ein Wechseln des leiblichen Kleides bedeutet.

LeerSelbst in der Stunde ihres Todes flehen die Sterbenden oder ihre Angehörigen zur Gottesgebärerin: - „Wende nicht ab von mir deine große Barmherzigkeit, verschließe nicht dein menschenliebendes Mitleid, du Reine, sondern stelle dich jetzt vor mich, und in der Stunde des Gerichts gedenke meiner.” -

LeerDie Theotokos steht in der orthodoxen Hierarchie über den Engeln. Während der Wandlung wird in der Liturgie die Hymne der Gottesgebärerin gesungen. Nach Johannes Chrysostomos heißt es: - „Würdig ist es, dich zu besingen, Gottesgebärerin, allzeit hochselige und unbefleckte Mutter unseres Gottes. Du bist ehrwürdiger als die Cherubim und ohnegleichen herrlicher als die Seraphim. Unversehrt hast du das Wort Gottes geboren, du wahrhafte Gottesgebärerin, dich lobpreisen wir.” -

Linie

LeerIn dem Maße, in dem die Kirche aus den unterirdischen Katakomben herauswächst und in die Breite wirkt, entstehen herrliche oberirdische Gotteshäuser, die nun auch mit Bildnissen geschmückt werden. Im Gegensatz zum Verbot der Herstellung von Bildern Gottes im Alten Testament sind die Menschen der Antike Augenmenschen, sie erleben das Leben und auch die Religion mit den Augen. Sie bedürfen der Bilder, und so entstehen im dritten und vierten Jahrhundert die heiligen Ikonen, die zum Bestandteil der Liturgie, ja, noch mehr, weil sie Gebets-und Meditationsobjekte sind, zu sakramentalen Objekten werden.

LeerJohannes von Damaskus, ein glühender Verfechter der Ikonenverehrung schreibt: „Wenn wir eine Darstellung geben wollten des unsichtbaren Gottes, so würden wir tatsachlich sündigen, weil eben, was keinen Körper hat, auch nicht dargestellt werden kann. Aber nachdem Gott Fleisch geworden, auf der Erde im Fleisch erschien und unter den Menschen wandelte, sündigen wir nicht, wenn wir ihn darstellen, weil wir seine Züge erschauen wollen . . . Ich sehe Gott von Angesicht, wie ihn Jakob sah, und doch wiederum anders, weil jener mit den Augen des Verstandes die nicht stoffliche, in die Zukunft weisende Offenbarung sah. Ich aber sehe das, was Erinnerung weckt an den, den wir im Fleisch gesehen haben . . . Ich beuge mich nicht vor der Materie, sondern ich beuge mich vor dem Schöpfer der Welt, der um meinetwillen Materie wurde und geruht hat in der Materie zu wohnen und durch die Materie mir Erlösung gebracht hat, und ich werde nicht aufhören, die Materie zu verehren!”

LeerSo wie Johannes Damascenus denken heute noch Millionen von Orthodoxen, denen die Ikone der Gottesgebärerin und Christi ein materielles Abbild der geistigen Welt bedeutet. Mit inbrünstiger Liebe hängt der orthodoxe Christ an der Ikone. Mit ihr wurde er, wurden seine Eltern und Voreltern gesegnet, sie hängt in der schönsten Ecke seines Raumes, ihr gilt zuerst sein Gruß, wenn er den Raum betritt. Er lebt sein ganzes Leben unter ihren Augen, unter den großen Augen der byzantinischen Gottesmutter und des Heilands. Er ruft sie zu Hilfe in den allerkleinsten und den größten Nöten des Daseins. Keine Freude und kein Leid gibt es, die nicht mit der Mutter Gottes geteilt werden. Sie und Christus und die Heiligen sind in seiner Gegenwart, in seinem Raum, das ganze Leben ist von ihnen durchdrungen. Ob er selbst dadurch heilig wird? Vielleicht nicht, vielleicht nehmen die bösen Triebe hundertmal am Tage Besitz von ihm, aber unter den Augen Christi und der Mutter Gottes reißt er sich immer wieder zusammen und besinnt sich auf sein besseres Ich. Unter ihren Augen kann er nie ganz böse werden und verderben.

Linie

LeerWenn sein Haus brennt, ist es nicht die Geldkassette, sind es nicht die Wertgegenstande, die er rettet; er rettet die heiligen Ikonen, die ihm im Leben das Wertvollste sind.

LeerMir erzählte einst der Direktor des Recklinghauser Ikonenmuseums eine bezeichnende Begebenheit. Einmal kamen drei würdige orthodoxe Priester in sein Museum. Er zeigte ihnen stolz seine Schätze. Während der ganzen Besichtigung weinten die Greise unaufhörlich, und der Direktor war über soviel Rührung sehr stolz. Schließlich fragte er sie aber doch, warum sie so weinten. Da antworteten sie ihm in gebrochenem Deutsch: Vor all diesen Ikonen haben viele Jahrhunderte lang andächtige Menschen, Greise und Kinder gekniet, haben sie geküßt, haben mit ihnen die Kinder und die Brautleute gesegnet, haben über sie die inbrünstigsten Gebete zum Herrgott gesandt. Das seien geheiligte Dinge, die mit dem Leben des einzelnen und des ganzen Volkes unteilbar zusammenhingen. Und hier hingen nun diese verehrungswürdigen Ikonen, nach Jahrhunderten, Ländern und Schulen geordnet, lediglich als Kunstwerke, nicht zum Beten. Welch eine furchtbare Erniedrigung und welch ein Verfall der religiösen Kräfte!

LeerDer heilige Theodor, Archimandrit von Studion, verfaßte auf die Ikone der Mutter Gottes und Christi folgende Hymnen „Das Bild, das du hier siehst, stellt Christus dar, darum darfst du es Christus nennen im übertragenen Sinn. Nicht die Natur ist gleich, der Name nur. Merk es wohl! Beiden gilt nur eine Huldigung ohne Scheidung. Wer dem Bild huldigt, der huldigt Christo selbst. Da ich im Bild dich schaue, du Mutter meines Herrn, trete ich mit Furcht und Sehnsucht zu dir hin, um dich zu küssen. So reiche Gnade ward in Wahrheit dir zuteil, daß selbst dein Bild von Wunderwirkung überfließt.”

LeerUnd der russische Religionsphilosoph Iwan Kirejewskij (1806-1856) berichtet: „Ich stand einmal in der Iberischen Kapelle der Gottesmutter in Moskau, schaute ihr wundertätiges Bild an und dachte nach über den kindlichen Glauben des Volkes, das vor ihm betete. Einige Frauen und kranke Greise knieten, schlugen das Kreuz und verbeugten sich tief. Mit großem Vertrauen schaute ich auf die heiligen Züge, und nach und nach wurde mir das Geheimnis der wunderbaren Kraft klar. Ja, es ist nicht bloß ein Holzbrett mit einem Bildnis drauf. Ganze Jahrhunderte zog die Ikone Ströme von leidenschaftlichen Anwallungen des Herzens, von Gebeten trauernder, unglücklicher Menschen auf sich. Sie mußte sich auffüllen mit der Kraft, die aus ihnen strömt. So wurde sie zu einem lebendigen Organ, zu einer Begegnungsstatte zwischen dem Schöpfer und dem Menschen. - Da fiel ich auf die Knie und betete inbrünstig vor ihr ...”

Anmerkung: Eine ausführliche Auskunft über die Psychologie der Ikonenverehrung gibt Johannes Schumilin in einer von Roderich Mekler übersetzten Studie, die hoffentlich bald einen Verlag finden wird. (Die Schriftleitung)

Quatember 1962, S. 12-15

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-05
Haftungsausschluss
TOP