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Zum theologischen Gespräch mit C. G. Jung
von Joachim Scharfenberg

I.

LeerMit C. G. Jung ist eine jener großen Universalpersönlichkeiten dahingegangen, die wie Monumente in unsere dürftige Zeit hineinragen. Als junger Psychiater sah er sich vor die Entscheidungsfrage gestellt, ob er den Weg des „Spezialisten” gehen wollte, ob er immer mehr über immer weniger erforschen sollte, ob er sich an der Fragmentarisierung und Segmentisierung der menschlichen Existenz, wie sie im ärztlichen Bereich in besonderer Weise zutage trat, beteiligen sollte. Jung hat mit Entschlossenheit den genau entgegengesetzten Weg gewählt. Sein therapeutisches Lebenswerk war gerichtet „auf jenen verborgenen, noch nicht manifestierten 'ganzen' Menschen, welcher zugleich der größere und zukünftige ist” (1). Damit ließ er sich auf ein Abenteuer des Geistes ein, das ihn in Positionen führte, von denen er am Ende seines Lebens nur bekennen konnte, „daß ich mich in einem Netzwerk von Überlegungen verfangen hatte, welche weit über alle Naturwissenschaft hinaus in das Gebiet der Philosophie, der Theologie, der vergleichenden Religionswissenschaft und der Geistesgeschichte überhaupt reichen” (2). So führt er denjenigen, der gewillt ist, ihm zu folgen, in seinen Schriften durch gewaltige Räume der menschlichen Geistesgeschichte, erdrückt ihn schier mit der Fülle des vorgestellten Materials und eröffnet damit Blickpunkte für die Möglichkeiten der menschlichen Existenz in ihrer Totalität, die deshalb so erregend sind, weil wir ja alle von ihnen herkommen, durch sie geprägt sind; sie sind uns nur aus dem Bewußtsein geschwunden, dem Vergessen anheimgefallen.

LeerEs bleibt betrüblich, anläßlich des Todes dieses großen Mannes feststellen zu müssen, daß unsere gegenwärtige Theologie und Kirche an seinem monumentalen Lebenswerk weithin in Ignoranz vorübergegangen ist. Man fragt sich verwundert, wie über Jahrzehnte eine Diskussion um den Mythosbegriff geführt werden konnte, ohne daß man sich des Rates eines gerade auf diesem Gebiet so außerordentlich beschlagenen Fachmannes wie Jung bedient hätte. Und das in einer Zeit, in der doch wohl nicht zu bestreiten ist, daß die Mythologie weitgehend in die Psychologie übergegangen ist und wo in den Sprechzimmern der Psychoanalytiker wirklich noch mit Dämonen gerungen wird, die sich in die hypostasierten Begriffe der Psychologen transformiert haben und als „Trieb”, als „Widerstand”, als „Unbewußtes” ihr Spiel mit dem Menschen treiben!

LeerEs mag dies alles einerseits damit zusammenhängen, daß es Jung seinem Leser wahrlich nicht leicht macht. Er ist alles andere als ein systematischer Denker. Seine Sprache ist schillernd und ungenau. Das erklärt aber noch nicht alles. Vielmehr scheinen mir die Möglichkeiten und Grenzen des Gesprächs zwischen Theologie und Psychologie bisher noch keineswegs genau bestimmt zu sein. Da sind Theologen, die oft reichlich unbefangen und unkritisch meinen, Denkansätze und Ergebnisse aus dem psychologischen Forschungswerk Jungs unmittelbar in die Theologie verpflanzen zu können. Da sind aber auch Theologen - und sie sind zahlenmäßig weit in der Überzahl -, die an der Vorstellung festhalten, man könne Jung mit dem doch wohl reichlich törichten Vorwurf, „er löse den christlichen Glauben in Psychologismus auf”, „erledigen”. Beide Standpunkte scheinen mir an der wichtigen Grunderkenntnis vorüberzugehen, auf die Paul Tillich in jüngster Zeit eindrücklich aufmerksam gemacht hat: daß nämlich ein solches unmittelbares Gespräch zwischen Theologie und Psychologie gar nicht möglich ist, weil keine gemeinsame Basis vorhanden ist, auf der es geführt werden könnte (3). Das heißt aber, daß der Theologe, wenn er mit dem Psychologen sprechen will, selbst Psychologe werden muß, sich auf die Grundlagen, Methoden und Argumente der Psychologie einlassen und mit ihnen umgehen muß. Das setzt aber gründliche Sachkenntnis und Vertrautheit mit der Materie voraus. Oder, wenn das Gespräch auf der theologischen Ebene geführt werden soll, wären die Punkte aufzusuchen, wo der Psychologe - vielleicht ohne es zu wollen oder zu merken - selbst zum Theologen geworden ist. Dieser Mühe haben sich bisher nur sehr wenige Theologen unterzogen (4).


II.

LeerBetrachtet man das Lebenswerk C. G. Jungs vom Blickpunkt des Psychologen aus, so kann es als eine Fortführung der Erkenntnisse und Ansätze Sigmund Freuds interpretiert werden, die unter dem Leitmotiv „Erweiterung” steht. Der Libidobegriff Freuds, mit dem dieser den sexuell getönten, triebhaften „Drang nach immer größeren Einheiten” zu bestimmen und zu erfassen suchte, wurde zu einem allgemeinen und unbestimmbaren élan vital. Das Unbewußte, bei Freud Instanz innerhalb eines seelischen Apparates, konnte von Jung als Selbstregulierungsprinzip und als grundsätzliche Offenheit des Individuums zum Unendlichen hin gesehen werden. Hatte Freud dem Psychoanalytiker eine strenge und genau festgelegte Behandlungstechnik auferlegt, so konnte Jung zu einer größeren Freizügigkeit raten. Der Traum etwa wird nicht mehr dem strengen Reglement der Freudschen Scheidung zwischen latentem Traumgedanken und manifestem Trauminhalt unterworfen, sondern unbefangener als das angesehen und gedeutet, „was er zu sein scheint”. Beschränkte Freud die Gültigkeit seiner Erkenntnisse auf den Bereich innerhalb des Rahmens der Neurosenpsychologie, so verlagerte sich bei Jung der Schwerpunkt eindeutig auf das allgemein Menschliche und damit Universell-Gültige.

LeerEs mag in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, welche Theorie und Praxis sich nun als richtig oder falsch erweisen wird. Wirksam sind jedoch beide, denn kein Mensch wird bestreiten können, daß es sowohl der Freudschen wie auch der Jungschen Methode gelingt, Neurosen zu heilen. Vielleicht ist es tatsächlich auch eine Frage des Temperamentes, für welche von beiden sich der Analytiker entscheidet.

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LeerWenn wir nun aber das Ziel des therapeutischen Bemühens von Jung ins Auge fassen, so wird sich das nicht ohne eine Rückfrage nach den wissenschaftlichen und methodischen Grundlagen seiner Arbeit durchführen lassen. Freud hat sich in bezug auf das Heilungsziel seiner analytischen Arbeit eigentlich auf ein understatement festlegen lassen. Er hatte lapidar erklärt, er müsse sich damit zufriedengeben, wenn er bei seinen Patienten ein Stück der Arbeits- und Genußfähigkeit wieder herstellen könne. Gegen diese „falsche Bescheidenheit” richtete Jung im Namen der Menschlichkeit des Menschen seinen flammenden Protest. Ihm sollte es hinfort um viel mehr gehen, nämlich um die „Totalität des Menschen . . . als jenem Ziel, zu welchem die seelische Entwicklung im psychotherapeutischen Prozeß letzten Endes führt” (5). Damit wird der Individuationsprozeß der Weg, auf dem die Psyche ihre heillose Zerspaltenheit zu überwinden sucht, und das Selbst als eine unio oppositorum (6) tritt in die Erscheinung. Dieses Weges kann aber die Psyche nur über das Symbol innewerden. Die Symbole tragen ausnahmslos religiösen Charakter, sie sind ein „zugegebenermaßen anthropomorpher, daher beschränkter und nur bedingt gültiger Ausdruck für einen übermenschlichen Inhalt” (7). Jung fand also auf dem Wege der Erfahrungswissenschaft in der Psyche seiner Patienten eine genaue Entsprechung der Darstellungen und Symbole, die von den meisten Religionen als „objektiv”, außerhalb des Menschen liegend, dargestellt wurden, und nannte sie Archetypen.

LeerEr wird fortan nicht müde, aus der Religionsgeschichte eine erdrückende Fülle von Material zusammenzutragen, das diese Entsprechung sinnfällig machen soll. Sein Interesse wendet sich spürbar von der Heilung von Neurosen ab, hin zu jenen „unmittelbaren Erfahrungen” der Menschheit, die für ihn im Archetypus Gestalt angenommen hatten. Glaubte er sich doch dem erregenden Abenteuer des menschlichen Geistes auf der Spur: fassen und begreifen zu können, was der Mensch im Innersten sei. Es galt also, die Summe dieser Erfahrungen zu ermitteln, und sie konkretisierte sich für ihn wieder im Symbol, nämlich im Symbol der Quaternität, das an die Vierteiligkeit des gnostischen Urmenschen anknüpft und von dem sich sagen ließ: Siehe - der Mensch. Das Wesentliche an dieser Menschenvorstellung aber ist die „Ganzheit” oder „Vollständigkeit”, die nicht etwa mit moralischer Vollkommenheit zu verwechseln ist, der es aber gelungen ist, auch den „Schatten”, das Böse einzubewältigen und die Urgegensätze menschlichen Existierens in sich selbst zu harmonisieren. Diese Urgegensätze sind vor allem alt und jung, männlich und weiblich, gut und böse. In der Quaternität sind sie vereinigt: Vater und Sohn, männlicher Sohn und weibliches Geistprinzip (Sophia), Schöpfer-Gott und Satan als vierte „persona” bilden eine Einheit. Damit will Jung zunächst nichts anderes ausgesagt haben, als daß die psychische Vollständigkeit einen besseren und treffenderen Ausdruck im Symbol der Quaternität findet als im symbolisch verstandenen Trinitätsdogma.

LeerFragen wir nun nach den Quellen dieses Erkenntnisweges, den Jung so konsequent verfolgt hat! Immer wieder hat er betont, daß er reiner Empiriker sei und sich als solcher streng „an den phänomenologischen Standpunkt” (8) halte. Norm und Erkenntnisquelle sind immer wieder zwei Gebiete, an denen er sich zu orientieren sucht: Die Träume und „geschauten” Bilder seiner Patienten sowie die unmittelbaren Erfahrungen religiöser Heroen der Geistesgeschichte, wie sie sich in heute noch verfügbaren schriftlichen Dokumenten niedergeschlagen haben.

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LeerWir stellen die Frage nach der psychologischen Zulässigkeit einer solchen Methode:

1. Wir wissen heute, daß bei der Psychose, die einen totalen Zerbruch der Beziehungsfähigkeit des Menschen darstellt, der Wahn die Funktion eines letzten, verzweifelten Heilungsversuches der Psyche darstellt, doch noch eine Beziehung, wenngleich illusionärer Art, herzustellen. Ist es psychologisch zulässig, ein ähnliches Produkt auf dem Felde der Neurose, den Traum nämlich, der das Einheitsstreben der Psyche als Wunschvorstellung eindrucksvoll widerspiegelt, als Zielvorstellung und Norm ins Auge zu fassen, wenn es um letzte Fragen des Menschseins geht?
2. Bei einer Übersicht über die religionsgeschichtlichen Dokumente, die Jung zur Stützung seiner Theorien vorlegt, fällt auf, daß es sich fast ausnahmslos um literarische Erzeugnisse von Menschen oder von Menschengruppen handelt, die als Ketzer oder Häretiker aus der bestehenden religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen wurden. Es waren also „Ausnahmemenschen”, die in den bestehenden Ordnungen und Strukturen ihrer religiösen Umwelt kein Genüge fanden, keine Ruhe für ihre Seele. Könnte nicht die Vermutung naheliegen, daß es sich bei diesen Menschen um seelisch Gestörte handelte, die ihre ungelösten Konflikte und inner-seelischen Spaltungen in die einzige seelenhygienische Institution hineinprojizierten, die ihnen zur Verfügung stand, nämlich die dogmatische Ausformung religiöser Vorstellungen? Können aber die Ergebnisse eines solchen Vorganges Ansprüche auf Allgemeingültigkeit erheben?
3. Und schließlich, was am schwersten wiegt: Die Grundlagen der „empirischen Methode”. Jung wird nicht müde, immer wieder zu betonen, daß er als reiner Phänomenologe, als „voraussetzungsloser Naturwissenschaftler” arbeite und so zu seinen Erkenntnissen gekommen sei (9). Nun leben wir aber in einer Zeit, in der sich die extremste Ausformung dieser Anschauung, die sogenannte Experimentalpsychologie durch ihre eigene Methode selbst ad absurdum geführt hat. Durch Experimente wurde erwiesen, daß ein Vorurteil, eine Erwartungshaltung das Ergebnis einer völlig objektivierten Testuntersuchung außerordentlich stark beeinflussen kann, daß also das subjektive Element in der „voraussetzungslosen Wissenschaft” viel höher in Rechnung zu stellen ist, als dies bisher geschehen war. Läßt sich von daher wirklich noch der Anspruch auf Allgemeingültigkeit von Phänomenen erheben, wie sie nur Jung und seine Schüler bei ihren Patienten zu sehen bekamen, während die Psychotherapeuten anderer Schulen solche Erfahrungen nicht machen?

LeerC. G. Jung war als Arzt an seine Aufgabe herangetreten, leidenden Menschen zu helfen. Wenn er sich auf seinem Wege zu der Annahme gedrängt sah, daß religiöse Vorstellungen im Heilungsprozeß als das wirksamste Therapeutikum zu wirken vermögen, so kann der Theologe dies redlicherweise nur mit psychologischen Argumenten bestreiten. Er wird diese Vorstellungen auch als Ehrfurchtslosigkeit zurückweisen können, aber ein theologisches Gespräch ist damit noch längst nicht geführt. Der Einsatzpunkt für theologische Überlegungen zum Phänomen „Jung” scheint mir an einer anderen Stelle zu liegen: Zunächst einmal da, wo Jung selbst das Feld räumt und es dem Theologen überläßt; wo er bekennt, an die Grenzen seiner Erkenntnismöglichkeit gekommen zu sein. Er hat sich gegen den Vorwurf, er löse den christlichen Glauben in Psychologismus auf, auf zweierlei Weise verteidigt: Leidenschaftlich hat er sich dagegen gewehrt, dem „Psychischen” weniger Realitätswert zuzusprechen als dem Metaphysischen oder Transzendenten. „Woher weiß man denn solchen Bescheid über die Seele, daß man sagen kann: 'nur seelisch'? So spricht und denkt nämlich der Abendländer, dessen Seele offenbar 'nichtswürdig' ist. Wäre viel drin, so würde man mit Ehrfurcht davon reden. Da man dies aber nicht tut, muß man daraus schließen, daß auch kein Wert drin ist (10).” Auf der anderen Seite hat er immer wieder betont, daß seine Aussagen nicht metaphysische Aussagen seien, daß er nur Prägungen der Seele untersuche, Gottesvorstellungen, aber nicht Gott selbst, und daß es selbstverständlich dem Theologen überlassen bleiben müsse, Aussagen über „das Prägende” zu machen.

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LeerIch möchte meinen, daß damit eine ganze Reihe von Fragen, die innerhalb der Theologiegeschichte eine große Rolle gespielt haben, in einem neuen Lichte erscheinen. Man könnte vor allem an die Probleme denken, die im Mittelalter zwischen Nominalisten und Realisten verhandelt wurden, an das Problem von Subjekt und Objekt, an die Frage nach einer christlichen Metaphysik überhaupt, an die Frage nach der Geschichte und an vieles andere mehr. Es wäre sicher fruchtbar, die Jung'schen Erkenntnisse als Hintergrund für solche theologischen Überlegungen mit einzubeziehen.

LeerAber Jung geht nun doch noch einen Schritt weiter: er begibt sich tatsächlich auf die Ebene der Theologie. Nach Paul Tillich sind nämlich solche Sätze theologisch, „die sich mit einem Gegenstand beschäftigen, sofern er uns unbedingt angeht” (11). Der Theologe befindet sich damit „im theologischen Zirkel”. Er ist von seinem Erkenntnisgegenstand nicht abgerückt, sondern in ihn einbezogen. Ihn treibt nicht der eros des Philosophen oder seine Leidenschaft für die objektive Wahrheit, sondern „die agape, die die Heilswahrheit in persönlicher Entscheidung annimmt” (12). Er nimmt damit stets auch eine Funktion der Kirche wahr, die eine semper reformanda ist. Es gibt nun aber eine ganze Reihe von Aussagen Jungs, die sich gemessen an diesen Kriterien als theologisch erweisen. Es scheint mir überall da der Fall zu sein, wo Jung etwa von der „unmittelbaren Erfahrung” spricht, der er zu einem Durchbruch verhelfen möchte und gegen die die geschichtlich gewordenen Konfessionen den Menschen so erfolgreich geschützt und verteidigt hätten (13). Jung befindet sich innerhalb des theologischen Zirkels und weiß das auch, wenn er seine Bemühungen um die Quaternität selbst als „die ketzerischen Versuche, das Trinitätsdogma zu vervollständigen” (14) bezeichnet.

LeerEr nimmt eine Funktion der Kirche wahr, wenn er sich Sorge um deren Weg und seelsorgerliche Praxis macht, indem er sicher berechtigt kritisiert, „daß durch die rigorosen Exerzitien und gewisse Missionspredigten auf katholischer Seite und durch eine gewisse sündenschnüffelnde protestantische Erziehung seelische Schädigungen, die nicht zum Reiche Gottes, sondern in die ärztliche Sprechstunde führen, verursacht werden” (15). Er fragt sich, warum denn die Verkündigung des Evangeliums so wenig Wirkung erziele, und kommt zu dem Ergebnis: „Es steht äußerlich alles da in Bild und Wort, in Kirche und Bibel. Aber es steht nicht innen. Im Inneren regieren archaische Götter wie nur je” (16).„ Für diese Situation bietet Jung nun seine Hilfe an: ”Man sollte nachgerade einmal merken, daß es nichts nützt, das Licht zu preisen und zu predigen, wenn es niemand sehen kann. . . . Um diese innere Schau möglich zu machen, muß der Weg zum Sehenkönnen freigemacht werden. Wie dies ohne Psychologie ... erreicht werden soll, ist mir, offen gestanden, unerfindlich (17).” „Damit tut die Psychologie das Gegenteil von dem, was man ihr vorwirft: sie verschafft Möglichkeiten zum besseren Verständnis des Vorhandenen, sie öffnet das Auge für die Sinnerfülltheit der Dogmen; sie zerstört eben grade nicht, sondern bietet einem leeren Haus neue Bewohner” (18). Jung kann deshalb auch seine Lebensarbeit so umschreiben:

Leer„. . . weshalb ich mich bemühe, historisch fest gewordene Denkformen wieder einzuschmelzen und umzugießen in Anschauungen der unmittelbaren Erfahrung (19).” Wer aber wollte bestreiten, daß damit ein theologisches Anliegen zentralster Art genannt ist?

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LeerWir brechen hier ab. Die Reihe der Beispiele ließe sich gewiß noch fortführen. Wir hatten gezeigt, daß Jung ganz gewiß nicht zerstören und auflösen will, sondern daß er im Gegenteil ein Angebot macht, eine Hilfe bieten will. Wir stehen aber damit vor der theologischen Entscheidungsfrage, ob eine evangelische Theologie und Kirche solche Assistenz annehmen kann und soll. Es bricht sich unter uns immer stärker die Erkenntnis Bahn, daß christlicher Glaube und Religion von einander zu trennen, ja in ihrer letzten Gegensätzlichkeit gesehen werden müssen. Handelt es sich doch auf Seiten des christlichen Glaubens um das streng personale Gegenüber von Mensch und Gott; einem Gott, der schafft, erlöst und heiligt und der in der Menschwerdung Jesu Christi selbst zum Menschen gekommen ist, während auf Seiten der Religion der Mensch durch mancherlei Unternehmungen versucht, Gott näher zu kommen, ja, sich letztlich seiner zu bemächtigen und sich selbst vor ihm zu rechtfertigen. Kann es aber Aufgabe der Theologie sein, den Menschen in seinen religiösen Unternehmungen zu bestätigen, oder ist die Verkündigung des Evangeliums nicht die Krisis aller Religionen? Diese Frage sollte doch endlich einmal mit allen Folgerungen und Schwierigkeiten, die das Vorhandensein der Jungschen Psychologie nun einmal mit sich bringt, zu Ende diskutiert werden! Vielleicht, daß sich dann herausstellt, daß vor allem der jüngeren Theologengeneration, wenn sie sich nun schon einmal mit Psychologie befassen muß, der, religionslose Hebräer Freud, dessen Sprache immer noch etwas von der Beziehungswirklichkeit des alttestamentlichen Realismus verrät und der zeit seines Lebens mit der Vatergottheit gerungen hat und von dem Phänomen Mose nicht loskam, näher steht als der „Grieche” Jung mit seiner Bilderwelt.

LeerEs wäre aber jedenfalls die schönste Ehrung für Jung, wenn gerade jetzt nach seinem Tode das Gespräch auf der Grundlage sauberer wissenschaftlicher Voraussetzungen neu in Gang kommen könnte.

[Siehe auch die Erwiderung von Gerhard Bartning]


 1: Einleitung in die religionsphilosophische Problematik der Alchemie, Frankfurt 1957, S. 57.
 2: Von den Wurzeln des Bewußtseins, Zürich 1954, S. 581.
 3: Paul Tillich, Systematische Theologie, Band 1, Stuttgart 1956, S. 35.
 4: Auch die mutige kleine Schrift von Affemann (Psychologie und Bibel, Stuttgart 1957) scheint mir dies nicht sorgfältig genug zu berücksichtigen. Außerdem dürften seine theologischen Grundpositionen viele unbefriedigt lassen.
 5: Einleitung in die religionsphychologische Problematik der Alchemie 1957, S. 79.
 6: Das Wandlungssymbol in der Messe, Zürich 1954, S. 300.
 7: A. a. O., S. 224.
 8: Psychologie und Religion, Zürich 1942, S. 9.
 9: Psychologie und Religion, S. 10.
10: Psychologie und Alchemie, S. 21.
11: Systematische Theologie, S. 20.
12: A. a. O., S. 31.
13: Psychologie und Religion, S. 80.
14: A. a. O., S. 117.
15: Einleitung in die religionspsychologische Problematik der Alchemie, S. 72.
16: A. a. O., S. 62.
17: A. a. O., S. 64.
18: A. a. O., S. 66.
19: Psychologie und Religion, S. 161.

Quatember 1962, S. 21-27

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-03
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