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Trost
von Rose Matz

LeerGraf Lehndorff schreibt in seinem „Ostpreußischen Tagebuch”, wie er einen litauischen Maler, der zwei Jahre lang von seiner Frau und seinen Kindern nichts mehr gehört hat, zu trösten sucht „mit dem einzigen Trost, den es auf Erden gibt”. Welches ist dieser einzige Trost? Was heißt: Christ will unser Trost sein?

LeerDie Passionslieder bilden zusammen ein erschütterndes Kyrie eleison, dessen Gewalt Bach in der „Hohen Messe” unvergleichlich gebändigt hat. Das Bewußtsein, durch Sünde von Gott getrennt, ja, seinem Zorn ausgeliefert zu sein, quält die Seelen. Ein tiefes Seufzen löst sich aus bedrängtem Herzen. Die persönlichen Lieder herrschen in dieser Zeit vor. Mit der Erkenntnis eigener Schuld steigt der Wunsch auf, für die Sünden zu büßen, sich so in das Leiden und den Tod Jesu zu versenken, daß das Herz davon erfüllt wird. So entstehen bei den Böhmischen Brüdern die Meditationen über die Leiden des Herrn (EKG 67, 68). Und es entsteht das volkstümlich schlichte Lied über die sieben Worte Jesu (Wilhelm Thomas und Konrad Ameln, Lieder für das Jahr der Kirche, Kassel 1935, Nr. 25). Hart trifft das Wort, das der Herr dem Psalmisten nachspricht: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” War Jesus im Sterben ohne Trost? War ihm nicht auch der Vers dieses Psalms gegenwärtig: „Euer Herz soll ewiglich leben?”

LeerIn der Verzweiflung über die eigene Sünde reift im menschlichen Herzen der Entschluß, nicht durch neue Sünde den Herrn aufs neue zu martern. Das Kreuz ruft zu Reue und Buße. Es ist aber auch ein Memento mori, das die ganze Schwere der Todesnot zeichnet und ohne Trost ist. Das schönste dieser Lieder ist Paul Gerhardts „O Haupt voll Blut und Wunden” (EKG 63). Es durchzieht mit seiner schwermütigen Melodie die Matthäus-Passion von Bach. Es ist eine Versenkung in den Tod Christi und in den eigenen Tod. Den Herrn begleiten bis zum letzten Atemzug, den Todesstoß auffangen bedeutet eine letzte mögliche Meditation: Vorwegnahme des eigenen Sterbens. Neben diesem Gedanken treten Reue und Buße zurück. Nur die vierte Strophe streift die eigene Schuld. Gleich darauf steigt der Dank empor für empfangene geistige Gaben. Wissen, daß Christus selbst durch die Todesnot hindurchgegangen ist, mag den eigenen Tod erleichtern. Aber dieser „Trost” reicht nur bis zum letzten Atemzug und verlöscht mit ihm. „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christum, so sind wir die elendesten unter allen Menschen” (1. Kor. 15, 19).

LeerDen persönlichen Liedern stehen in dieser Zeit nur wenige objektive gegenüber. Sie gehören zu den schönsten, die wir besitzen. Der einzelne vereint sich mit der Gemeinde. „O wir armen Sünder” (EKG 57). Jede Strophe endet mit dem Kyrie eleison. Mit der letzten Strophe beschließt Heinrich Schütz seine Matthäus-Passion.

LeerWie kein anderes Lied drückt das deutsche Agnus Dei (EKG 55) den Geist der Passionszeit aus. Am Eingang der beiden großen Bußzeiten der Kirche steht Johannes der Täufer. Er weist auf Jesus hin: „Siehe, das ist Gottes Lamm.” Diesem Lamm werden in der Offenbarung gewaltige Hymnen gesungen. „Das Lamm, das erwürgt ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Ehre und Preis und Lob”. Vor seinem Zorn verbergen sich „Könige, Gewaltige, Knechte und Freie in den Klüften und Felsen”. Denn dieses Lamm ist ausgerüstet mit sieben Hörnern, und sieben mächtige Augen durchschauen alle, die durch Leiden geläutert vor dem Stuhl Gottes Tag und Nacht dienen. „Das Lamm wird sie weiden und leiten zu den lebendigen Wasserbrunnen, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.”

LeerAlso erst dort, vor Gottes Thron, geleitet vom Lamm, wird uns der wahre Trost zuteil. Das Lamm als Weltenrichter, zu dem wir rufen: Kyrie eleison: dieses überirdisch mächtige Bild des Lammes in der Offenbarung überschattet das barock verkleinerte Bild in Paul Gerhardts Lied (EKG 62). Das Lübecker Gesangbuch vom Jahr 1859 hat beispielhaft die erste Zeile verändert. Dort heißt es: „Ein Lamm geht hin” und in der zweiten Strophe: „Das Lamm ist Jesus, unser Freund, der Heiland unsrer Seelen” und trifft damit den liturgischen Ton, der die vier ersten Strophen beherrscht und der durch die ursprüngliche Ichform verdunkelt wird. Die Worte: „Ja, Vater, ja, von Herzensgrund, leg auf, ich will dir's tragen” wecken im Gemüt des Menschen das Echo: „Du sollst sein meines Herzens Licht, und wenn mein Herz in Stücke bricht, sollst du mein Herze bleiben.” Diese Worte sind reinster Ausdruck religiöser Hingabe. Die barock überladenen letzten Strophen enden in mystischer Verherrlichung des Blutes Christi.

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LeerEin rein liturgisches Lied, das in erschütternder Kürze das ganze Erlösungswerk Christi umfaßt: Geburt, Erdendasein, Leiden, Opfertod, ist das Bußlied: „O Mensch, bewein dein Sünde groß” (EKG 54). Wie in dem Lied Paul Gerhardts wird Gott der Vater in das Liebeswerk des Sohnes einbezogen. Am eindrucksvollsten geschieht das in der altkirchlichen Strophe: „Laus tibi, Christe” (Ehre sei dir, Christe, EKG 57), die mit dem dreifachen Kyrie Gott den Vater den Sohn und den Heiligen Geist anruft.

LeerDaß Jesus unter der Sündenlast der ganzen Welt in den Tod geht, ist eine Anklage, für die es keinen Trost gibt. Sein grauenvolles Sterben ist ein Memento mori ohne Trost. Wenn Paul Gerhardt sagt: „Reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein”, so klingt in diesen Worten schon das Wissen um die Auferstehung hindurch. Nur von Ostern her fällt Licht auf das Kreuz.

LeerIn Sta. Maria Antiqua in Rom ist heute noch ein Fresko der Kreuzigungsgruppe aus dem frühen Mittelalter zu sehen. Christus ist hoch aufgerichtet ans Kreuz geheftet. Die Arme sind kraftvoll ausgespannt, als wollte er sagen: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!” Und sein Trost: „Ich will euch erquicken” weist schon auf Ostern hin. Christus ist nicht der Besiegte. Er ist erfüllt von „ Gottes Majestät und Zier” (EKG 70). Er ist Herzog und König, und obwohl er dem Tode anheimgegeben ist, erbebt die Erde vor ihm. „Rex Christe, factor omnium” (Christe, du Schöpfer aller Welt, EKG 72). Licht des Geistes und Glanz des Vaters umgeben ihn. Schon rührt sich die tröstende Kraft der Auferstehung.

LeerDie Weihnachtszeit stand unter dem Bittruf des Kyrie eleison und unter dem Jubelruf des Halleluja. Taulers schöne Verse (EKG 4) nehmen Passion und Auferstehung vorweg. In der Passionszeit erstirbt dann das Halleluja, sie steht ganz unter dem Kyrie eleison. Die Osterzeit aber ist vom Halleluja beherrscht. Dieser Jubelruf, der nie übersetzt wurde („Lobet den Herrn”), der aus dem Alten Bund in den Neuen einging, tönt nun schon durch die Jahrtausende, Ausdruck jubelnder Freude. Von den vierzehn Osterliedern unseres Gesangbuchs bringen neun das Halleluja. Im Anschluß an den 92. Psalm sagt Augustin: „Die Sänger, vom Text der Lieder anfänglich zu heiliger Freude begeistert, werden bald von seligen Gefühlen so überfüllt, daß sie durch Worte nicht mehr auszudrücken vermögen, was in ihren Herzen im Innern vorgeht; sie lassen daher das Wort beiseite und strömen ihre Gefühle in einer Jubilation aus!” (Vgl. J. M. Nielen, Gebet und Gottesdienst im Neuen Testament 1937).

LeerUnd doch klingt durch die heilige Freude des Halleluja hin und wieder noch das Kyrie eleison. Das in Wort und Ton ungeheuer ernste Lied „Jesus Christus, unser Heiland, der den Tod überwand” (EKG 77) mutet gregorianisch an. Die Melodie bewegt sich in der Quinte e-h (pentatonisch). Jede Strophe erinnert an überstandene Leiden, an den Kampf mit Sünde und Tod, an den Zorn Gotts. Aber in der Mitte der drei Strophen, zum c aufsteigend, gleichsam ausgespart aus dem ebenmäßigen Gang der fünfteiligen Melodie, leuchtet das Werk der Erlösung wie ein edler Stein in seiner Fassung: „ist auferstanden”; „hat uns versöhnet”; „er kann erretten”. Hier ist der irdische, vergängliche Trost verwandelt in ewigen Trost.

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LeerIn dem rein liturgischen Lied „ Christ ist erstanden” (EKG 75) löst der Schatten der überwundenen Qual das Kyrie eleison aus. Man kann über der heiligen Freude doch die Marter und die Verlorenheit der Welt nicht vergessen. Unmittelbar neben das Kyrie tritt das Halleluja. Das Dunkel kämpft mit dem Licht. Die herrliche Melodie trägt den Sieg davon: sie ist Ausdruck reinster Freude, denn „Christ will unser Trost sein”.

LeerDie Übermacht des Geschehens läßt das Persönliche zurücktreten. Luther hat die strahlende Melodie von „Christ ist erstanden” in seinem Lied „Christ lag in Todesbanden” variiert und dem altkirchlichen Text angepaßt. Den Höhepunkt bildet die vierte Strophe. In dem Kampf Christi mit dem Tod, in dem Sieg Christi, im Leben und unvergänglichen Wesen liegt der Schwerpunkt. Das jüdische Passalamm verwandelt sich in das Osterlamm, das im Sakrament gegenwärtig ist und unsere Seele immer wieder mit neuem Leben speist. „Das Leben behielt den Sieg”. Das ist der ewige Trost und löst Freude, Lob und Dank aus im Halleluja. Das ist das immer wiederkehrende Thema der liturgischen Lieder.

LeerHierher gehört auch das Zwiegespräch zwischen dem Engel und den drei Frauen am Grabe (EKG 78), das die Ostersequenz variiert und umschlossen ist von Anklängen an das Lied „Christ ist erstanden”. Die historische Betrachtung wird in dem Lied „Die Nacht ist hin, die Sonn ist aufgegangen” ganz ins Persönliche gewendet, in dem großen betrachtenden Lied „Frühmorgens, da die Sonn aufgeht” (EKG 85) wechselt die historische Darstellung mit der Anwendung auf das persönliche Leben strophenweise.

LeerWie stark die Anschauung von Christus, dem Sieger über Tod und Teufel in das Volksempfinden gedrungen ist, zeigt das Lied der Böhmischen Brüder: „Mit Freuden zart” (EKG 81). Die Lebensfahrt durch den Tod zur Himmelspforte und zur ewigen Freude, wird mit einer volkstümlichen schwebenden Melodie untermalt. Christus ist der erste, er ist stark und fest, hat alle Feinde bezwungen. Jesus der Held, der Triumphator, der die Pforten der Hölle zerstört, eine reiche Beute davonträgt, der Viktoria ruft und sein Siegesfähnlein schwingt: das ist der Überwinder des Todes, der gekrönte Siegesheld. Die mitreißende Melodie von Paul Gerhardts „Auf, auf mein Herz” (EKG 86) ist ein echtes Volkslied. Unverbrüchliche Treue zum Herrn, ein Verbundensein mit ihm „durch Welt, durch Sünd, durch Not”, eine lachende Überlegenheit in allen Fährnissen dieses Lebens: das ist die Haltung, die nur der Glaube verleiht, die Haltung einer begnadeten Seele. Und darin allein ist der echte Trost beschlossen.

LeerWohl kann uns das Kreuz Christi in der letzten Not trösten durch die göttliche Geduld, mit der es getragen wurde. Aber dieser Trost bleibt im Irdischen befangen, wenn nicht sein Sinn, Vergebung der Sünden, begriffen wird: Kyrie eleison! Der wahre Trost liegt im Halleluja, mit dem wir das Leben und unvergängliche Wesen jubelnd begrüßen. Luther hat kein Passionslied gedichtet, nur Osterlieder im Geiste des Epheserbriefes „Gott, der da reich ist an Barmherzigkeit, durch seine große Liebe, damit er uns geliebet hat, da wir tot waren in den Sünden, hat er uns samt Christo lebendig gemacht - denn aus Gnade seid ihr selig worden - und hat uns samt ihm auferwecket und samt ihm in das himmlische Wesen gesetzt in Christo Jesu” (Ephes. 2, 4-6). Das ist „der einzige Trost, den es auf Erden gibt”

. Quatember 1962, S. 53-57

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-05
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