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Wo ist die Grenze?
von Hans Carl von Haebler

Eine Frage an die Wissenschaften, an die Theologie und an den Leser

Günter Howe
Karl Knoch

LeerEin Pfarrer hat sich zum Wortführer der vielen gemacht, denen es in der Welt von heute allmählich unheimlich wird, und die Männer der Wissenschaft und der Technik aufgefordert, darüber nachzudenken, wo die Grenzen liegen und wo sie aufhören sollten, diese Welt zu manipulieren.

LeerEin Physiker hat in seiner Antwort gezeigt, daß der Forscher zumeist nicht vorhersehen kann, welche Folgen die Ergebnisse seiner Arbeit - vielleicht erst nach Jahrhunderten - haben werden. Die Christenheit muß sich klarmachen, daß sie selber Verantwortung für den Weg der Wissenschaft trägt, weil ihre Heilige Schrift ein neues Verhältnis zur Natur und damit erst die Möglichkeit der modernen wissenschaftlichen Forschung geschaffen hat.

LeerEin entscheidendes Erschwernis dafür, daß wir unsere Verantwortung sehen und wahrnehmen, liegt darin, daß es weder der Theologie noch der Philosophie gelungen ist, die klassische Scheidung von Physik im weiteren Sinne und Ethik zu überwinden. Die Lösung des Problems ist nicht darin zu suchen, daß „Wissenschaft und Technik ihren Weg auf der halben Strecke abbrechen”, sondern darin, daß die Kirche sich auf ihren prophetischen Auftrag besinnt und auf die Art, in welcher dieser heute auszurichten wäre. Das von Karl Knoch angeregte Gespräch des Theologen mit den Gelehrten der verschiedenen Fachrichtungen könnte dazu einen ersten vorbereitenden Dienst tun.

LeerWir anderen aber sollten es nicht dabei bewenden lassen, daß wir die führenden und einflußreichen Männer in unserem Volke auffordern, ihre Verantwortung wahrzunehmen und uns zu sagen, was sich tun läßt, wir sollten auch nach unserer Verantwortung fragen.

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LeerWir haben uns daran gewöhnt, daß einige Koryphäen der Wissenschaft, daß einige Manager in Staat und Wirtschaft uns immer mehr Verantwortung abnehmen. Wir lassen uns das gefallen nicht nur, weil wir dabei offenbar ganz gut fahren, sondern auch, weil der gewöhnliche Sterbliche gar keine Möglichkeit sieht, auf die heutige Massengesellschaft einen Einfluß auszuüben - es sei denn mit dem Wahlzettel oder durch ein „Eingesandt” in der Zeitung.

LeerAber wie steht es mit unserem Privatleben? Nehmen wir im kleinen die Verantwortung wahr, die wir vom Physiker oder Politiker im Großen erwarten? Einige Beispiele: Eine Frau, deren Mann die Familie recht und schlecht ernährt, könnte die Sorge um das tägliche Brot loswerden, wenn sie ihr Kind im Kindergarten abgibt und selber arbeiten geht - Ein junger Mann steht vor der Wahl zwischen einem gemeinnützigen Beruf, zu dem er auch Lust hätte, zum Beispiel zum Beruf des Lehrers, und einem Job, den die Menschheit gut und gern entbehren könnte, der ihm aber viel einbringt - Ein Unternehmer sieht sich durch keine Vorschriften daran gehindert, schädliche Abwässer auf billige Weise in einen Fluß abzuleiten. Werden sie ihre Verantwortung wahrnehmen? Gesetzt sie nähmen sie wahr, gesetzt, die überwiegende Mehrheit eines Volkes nähme ihre Verantwortung wahr, auch wo sie dazu nicht gesetzlich angehalten und im Falle einer Übertretung straffällig wird, dann würden zweifellos auch diejenigen an diesem Ethos teilhaben, die die größere Verantwortung, die Verantwortung für die Zukunft der Menschheit tragen.

LeerWas ist damit gesagt? Zunächst nur so viel, daß, wer nicht für seine Person und in seinem bescheidenen Lebensbereich verantwortlich handelt, mitschuldig ist an jenem „wertfreien” Denken, das die Wissenschaften bisher für sich in Anspruch genommen haben, und sich nicht beklagen dürfte, wenn eine mit ihren Mitteln ausgelöste Katastrophe ihn ereilte.

LeerAber diese Einsicht ist wichtig. Sie bewahrt uns davor, Verantwortung abzuschieben und uns nur als die Leidtragenden einer Entwicklung anzusehen, die über unsere Köpfe hinweggeht.

LeerDas Anliegen von Karl Knoch kann jedoch nicht mit der Feststellung abgetan werden, daß es uns im Grunde genommen recht geschieht, wenn wir umkommen. Knoch will wissen: Wie können wir den Selbstmord der Menschheit verhindern, für den sie schon die physikalischen und chemischen Mittel bereit hält?

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LeerDazu sagt Günter Howe, daß dies nicht allein durch Stärkung unseres Verantwortungsbewußtseins möglich ist. Denn wir sind ja nicht die ersten Menschen, sondern steigen in eine Welt ein, in welcher die Menschheit sich bereits festgelegt und Vorentscheidungen getroffen hat. Der Mensch ist nicht mehr Herr über die Geister, die er entfesselte, „er hat seine Seele in die Technik hineinverlegt und versucht sich von hier aus auszulegen”. Das Werk der Menschheit wendet sich gegen sie selber und bedroht sie wie eine Naturkatastrophe. Es scheint ein Gesetz zu geben, wonach die Bedrohung des Menschen durch den Menschen in dem Maße zunimmt, in dem er die Bedrohung durch die Natur ausschaltet. Dann wäre der Mensch selber als ein Stück Natur zu verstehen, in dem die Naturgeschichte sich fortsetzt und ihrer Bestimmtheit entgegengeht, unabhängig von dem, was er will oder zu wollen glaubt. Eine Bestätigung dafür könnte in dem eigentümlichen Tatbestand gesehen werden, daß zu bestimmten Zeiten auch bestimmte Gedanken und Erfindungen „in der Luft liegen”. Man denke an die Geschichte der Atomforschung oder an die Erfindung der Integralrechnung, zu der Newton und Leibnitz gleichzeitig, aber unabhängig voneinander, gelangten: Der Mensch, der Gelehrte kann noch so groß sein, er erfindet nur, was gerade ansteht und auf Entbindung wartet. Eben deshalb wird die verantwortungsbewußte Enthaltsamkeit des einzelnen Gelehrten die Dynamik der Vorentscheidungen, in denen die Menschheit sich festgelegt hat, kaum beeinflussen können. Das gilt übrigens nicht nur für die Naturwissenschaften. Auch die sogenannten Geisteswissenschaften, auch die wissenschaftlichen Randgebiete der Theologie nehmen ja einen ähnlichen Verlauf, und es ist zwar nicht beweisbar, aber steht für mich fest, daß die Kernspaltung und die Spaltung der Person zusammengehören (vergl. etwa Max Picard, Die Atomisierung in der modernen Kunst).

LeerDie Vorstellung, daß die Geschichte der Menschheit eine Verlängerung der Naturgeschichte ist und uns, gleich dieser, Gesetzen und Tendenzen unterwirft, ist gewiß nicht dazu angetan, uns zu ermutigen. Sie bringt uns im Gegenteil unsere Ohnmacht zum Bewußtsein. Die Angst, von der der Existentialismus handelte, verstärkt sich in unseren Tagen zur Ohnmacht. Je weiter die Entwicklung fortschreitet, je mehr bindet sie den Menschen und drückt ihn an die Wand.

LeerAber nun gilt es auch zu sehen, daß die Menschheit noch etwas anderes ist als ein Stück Natur, als eine Naturkraft, die sich durch Arbeitsteilung und Spezialisierung vervielfältigt hat und immer weiter vervielfältigt. Schon daß Menschen sich ohne Aussicht auf Erfolg der allgemeinen Entwicklung widersetzen, zeugt davon, daß noch eine andere Kraft in ihnen wirkt: nicht der autonome Verstand, der sich ja in der Technik vergegenständlicht hat und von der Technik her zu verstehen vermag, sondern etwas, was sie für Gott ansprechbar macht.

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LeerDadurch, daß wir für Gott ansprechbar sind und von Ihm angesprochen werden, bekommt unsere Ohnmacht eine positive Bedeutung. Der Apostel Paulus wird vom Herrn mit den Worten getröstet: „Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig” (2. Kor. 12, 9). Gott will durch uns wirken. Wir würden aber nicht auf Ihn hören ohne die Erfahrung, daß mit unserer Macht nichts getan ist, daß wir ohnmächtig sind - auch die Männer von Weltruf, an die wir uns in unserer Ratlosigkeit klammern. Vor fünfzig Jahren hieß es noch: Gott ist mit den stärksten Bataillonen - Wissen ist Macht. - Rund einhundertfünfzig Jahre hat man Gott nur theoretisch geehrt, weil man glaubte, aus eigener Kraft mit der Welt fertig zu werden. Die Probleme, die Karl Knoch vor uns ausgebreitet hat, haben uns eines besseren belehrt. Sie haben uns unsere Ohnmacht vor Augen geführt, ohne uns aus unserer Verantwortung zu entlassen.

LeerEine schlimme Lage! Aber wenn Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist, dann haben wir keinen Anlaß und kein Recht, das Spiel aufzugeben, sondern im Gegenteil allen Grund, uns darüber Gedanken zu machen, wie wir unserer Verantwortung gerecht werden.

LeerMachen wir uns also Gedanken und tauschen wir sie aus! Die Schriftleitung bittet den Leser in aller Form, zu den hier aufgeworfenen Fragen Stellung zu nehmen und die in einem der nächsten Hefte beabsichtigte Fortsetzung dieses Gesprächs zu fördern.

Anmerkung: Stellungnahmen der Leser sind im folgenden Jahrgang abgedruckt:
Ulrich von Dassel - Gefahren für das Mensch-Sein des Menschen? und
Hans Carl von Haebler - Die Grenze (Leserbriefe).

Aus: Quatember 1962, S. 70-72

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-03
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