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Was bedeutet „weltliche” Verkündigung des Evangeliums
bei Dietrich Bonhoeffer? (1)

von Dedo Müller

Leer„Was würde ich tun, wenn ich wüßte, in 4-6 Monaten wäre es zu Ende? . . . Ich glaube, ich würde noch versuchen, Theologie zu unterrichten wie einst, und oft zu predigen” - so schreibt Dietrich Bonhoeffer 1941. „Oft zu predigen”, das schien ihm nicht nur sinnvoll, sondern das Gewisseste angesichts des Todes. Das Wort der Predigt hat und ist die Gegenwart Christi. Deshalb besitzt es unauswechselbare Majestät . . . Am Tag vor dem Tod hat Bonhoeffer, wie Eberhard Bethke, der vertraute Freund und Herausgeber seiner Werke im vierten Band der Gesamtausgabe mitteilt, noch einmal gepredigt, ohne Ornat, Kultraum und Liturgie, unter ein paar Protestanten, Katholiken, Agnostikern und Atheisten. Hier liegt der Schlüssel nicht nur für das Verständnis des Gesamtwerkes, sondern auch der alarmierenden Parole von der weltlichen Interpretation und Verkündigung des Evangeliums, die heilsamer- und begreiflicherweise Sensation gemacht hat, aber damit auch in die Gefahr geriet, zeitgemäß „weltlich” mißverstanden zu werden. Die Gesammelten Schriften, namentlich der vierte Band, geben nunmehr für jeden, der hören will, die Möglichkeit, die Frage zu beantworten, was Bonhoeffer mit dieser Parole eigentlich gemeint hat.

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1. Was meint Dietrich Bonhoeffer?

LeerKurz gesagt will das Wort von der „weltlichen” Interpretation die Predigt nicht unmöglich, sondern auf neue Weise möglich machen in einer total „religionslos” gewordenen Welt, in der das freilich nötig ist. Es geht ihm darin nicht um die Entwertung, sondern um eine neue „Inthronisation” der Predigt in der gegenwärtigen Welt, um das theologische Zentrum, um das „sacramentum verbi”, nicht nur um die aktuelle Wirkung der Predigt. Das Wort von der weltlichen Verkündigung will also theologisch und nicht nur pädagogisch-missionarisch verstanden sein.

LeerEs ist offensichtlich nötig, das ausdrücklich und mit allem Nachdruck zu sagen. Es gibt ja Worte, die vom Kairos gefordert, die in einem ganz tiefen und unausweichlichen Sinn „fällig” sind und die deshalb bis zu einem gewissen Grade auch unmittelbar eingehen. So ist es offenbar mit dem Wort von der „weltlichen” Verkündigung. Es wirft auf die nun schon längst zur Tradition erstarrte Beziehungslosigkeit zwischen Kirche und Welt ein so grelles Licht, daß es auch noch Augen aufzureißen vermag, die sich mit diesem Zustand abgefunden haben. In diesem Wort hat offenbar einer auf die Pauke gehauen, der nicht nur Prediger im herkömmlichen Sinne, sondern der als Prediger zugleich „Akteur” ist und der es mit diesem Paukenschlag auch auf Ohren abgesehen hat, die ihre Schwerhörigkeit mit allen Mitteln der Kunst „theologisch” gerechtfertigt finden. Aber gerade weil das so ist, kommt nun alles darauf an, daß Kairosgerechtigkeit, das heißt das Gebot der Stunde, und Zeitgemäßheit nicht miteinander verwechselt werden. Denn wer könnte bezweifeln, daß es im Protestantismus schon seit geraumer Zeit eine ganz eigentliche Überläufertheologie gegeben hat, die auf nichts anderes hinauslief als eine theologische Bejahung, Rechtfertigung und Verklärung der gegebenen Welt und ihrer Ordnungen und Wirkungsweisen - und daß es diese Theologie auch heute gibt, wobei es keinen grundsätzlichen Unterschied ausmacht, ob sie in existentialistisch-nihilistischer oder in soziologisch-optimistischer Gewandung auftritt. Dietrich Bonhoeffer in diesem Sinn zu einem Uberläufertheologen zu machen, wäre die äußerste Schmach, die man ihm antun könnte.

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LeerDie somit geforderte realistisch-theologische, das heißt dem Wort Gottes selbst verpflichtete Interpretation des Begriffes einer „weltlichen” Verkündigung des Evangeliums verbietet auch die Ableitung aus der persönlichen Situation Bonhoeffers. Diese Situation der Gefangenschaftsbriefe war ja freilich bedrängend und verwirrend genug. Es hieße aber den charakterlichen und intellektuellen Rang Bonhoeffers verkennen, wenn man die Parole der weltlichen Interpretation dem Druck dieser Lage zuschreiben wollte. Die Briefe lassen gewiß deutlich erkennen, daß er an seiner Lage gelitten hat - wie sollte er bei seiner Sensibilität nicht darunter leiden! - Aber mit welcher souveränen Objektivität steht er dieser Bedrängnis gegenüber! „Ich habe es hier besonders erfahren, daß die Tatsachen immer bewältigt werden können und daß nur die Sorge und die Angst sie vorher ins Maßlose vergrößern. Vom ersten Aufwachen bis zum Einschlafen müssen wir den anderen Menschen ganz und gar Gott befehlen und ihm überlassen und aus unseren Sorgen für den anderen Gebete für ihn werden lassen. Mit Sorgen und mit Grämen . . . läßt Gott sich gar nichts nehmen . . .!” (2). Die Parole von der weltlichen Verkündigung kann also nicht als emotionaler Ausbruch, sie will sachlich-theologisch verstanden werden.

LeerDas wird auch an seiner Kritik an Karl Barth, dem er bei aller bleibenden Verbundenheit „Offenbarungspositivismus” vorwirft, wie an Rudolf Bultmann deutlich, den er noch in der Problematik des Liberalismus befangen findet: „Bultmanns Ansatz ist eben im Grunde doch liberal (d. h. das Evangelium verkürzend), während ich theologisch denken will” (3). Und theologisch heißt „nicht religiös”. Denn religiös heißt „einerseits metaphysisch, andererseits individualistisch reden”. Und „beides trifft weder die biblische Botschaft noch den heutigen Menschen” (4). Die Frage einer den heutigen Menschen wirklich erreichenden Verkündigung kann nur vom Zentrum der biblischen Botschaft her beantwortet werden. Diese Mitte aber liegt nicht in der „individualistischen Frage nach dem persönlichen Seelenheil”, die „uns allen fast völlig entschwunden” ist. „Der Mittelpunkt von allem”, schon im Alten Testament, in dem es „die Frage nach dem Seelenheil” überhaupt nicht gibt, ist die „Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden”. Auch die paulinische Lehre, „daß Gott allein gerecht sei” in Röm. 3, 24 ff. meint „nicht eine individualistische Heilslehre”. „Nicht um das Jenseits, sondern um diese Welt, wie sie geschaffen, erhalten, in Gesetz gefaßt, versöhnt und erneuert wird, geht es doch . . . Ich meine das nicht in dem anthropozentrischen Sinne der liberalen, mystischen, pietistischen, ethischen Theologie, sondern in dem biblischen Sinne der Schöpfung und der Inkarnation, Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi”(5).

LeerDiese zentral-theologische Intention bestimmt alle theologischen Abgrenzungen, die Dietrich Bonhoeffer vornimmt, mögen sie gegen die traditionelle christliche Apologetik, gegen die liberale Theologie, gegen die Oxforder, Berneuchener oder gegen Paul Schütz, Karl Heim, Paul Althaus, Paul Tillich, Rudolf Buhmann und schließlich gegen Karl Barth gerichtet sein. So summarisch, ja unzutreffend diese Abgrenzungen auch sein mögen, sie lassen doch das theologische Grundanliegen deutlich hervortreten: Christus soll nicht mehr nur „Gegenstand der Religion”, sondern „wirklich” „Herr der Welt” sein und die „mündige” Welt soll nun ohne alle „Polemik und Apologetik” „wirklich besser verstanden werden, ”als sie sich selbst versteht, nämlich vom Evangelium, „von Christus her” (6).

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2. Das Problem der richtigen Konkretisierung.

LeerSo unzweifelhaft also die Intention Bonhoeffers feststeht, die Frage ist: wie wird sie richtig konkretisiert, wie sieht ihre praktische Durchführung aus? Die Beantwortung dieser Frage durch ihn selber hat das brutale Ende der Ermordung unmöglich gemacht. Und es ist nun wirklich, mit Karl Barth zu reden, die Frage, wie die Story weitergehen soll. Hier eröffnet nun die Herausgabe der Gesammelten Schriften neue Möglichkeiten. Nun läßt sich die Einzeläußerung vom Ganzen seiner theologischen Arbeit her auslegen. Dabei dürfen wir gewiß sein, in seinem Sinne zu handeln, wenn wir uns an das apostolische Prinzip halten: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig” (2. Kor. 3, 6). Jedenfalls aber will festgehalten sein, daß auch die Frage der Konkretisierung nicht dogmatisiert werden darf, sondern selbst ein theologisches Problem ist.

LeerWelchen Gefahren auch ein solcher Versuch noch ausgesetzt ist, zeigt die Schrift von Hanfried Müller, Von der Kirche zur Welt. Dem Verfasser ist die Leidenschaft zugute zu halten, mit der er um eine neue Beziehung des Christentums zur sozialistischen Neuordnung der Welt ringt, und das ist wahrlich eine Frage, deren Beantwortung keinen Aufschub mehr verträgt. Er vertritt nun aber von da aus die These, daß „in den Jahren der Haft bei Bonhoeffer ein qualitativer Sprung in seiner Entwicklung erfolgt”. Die in den Gefangenschaftsbriefen enthaltenen Erkenntnisse und Impulse stellen danach den früheren Schriften gegenüber „etwas völlig Neues” dar. „Elemente, die vorwärtsweisen”, zeigen sich in Bonhoeffers Denken „schon lange Zeit vorher”. Aber sie sind „noch widerspruchsvoll mit retardierenden Momenten verbunden oder von seiner Gesamtanschauung isoliert”. „Qualitativ, revolutionär entwickeln sich diese neuen Gedanken in ihrem Zusammenhang erst im Frühjahr 1944, zu der Zeit, als Bonhoeffer den Zusammenbruch des deutschen Faschismus antizipiert und in Verbindung damit zu einem klaren Optimismus in seiner Weltanschauung gelangt” (S. 355). Hier wird unverkennbar aus der politischen Situation heraus, der auch die Denkkategorien entnommen sind, gedacht, nicht realistisch-theologisch. Zwar verbindet sich nach dieser Darstellung dieser „klare Optimismus” mit einer konsequenten theologia crucis (Kreuzestheologie). Bisher habe Bonhoeffer in dieser Hinsicht geschwankt. Neben „zahlreichen Stellen über das Leiden Christi und des Christen in der Welt” finde sich „die Behauptung einer anschaulichen und nicht nur zu glaubenden, einer immanent zu erfassenden und nicht allein zu hoffenden Weltherrschaft Christi”, neben Ausführungen über die „Gestaltung der Kirche nach dem Gekreuzigten”, also im Sinne einer theologia crucis - wie vor allem in der „Nachfolge” - solche über die „Gestaltung der Welt nach dem Menschgewordenen, also im Sinne einer theologia gloriae - wie vor allem in der ‚Ethik’ ” (S. 534, Anm. 1028). Nun aber, nach dem „qualitativen Sprung” werde alles eindeutig: „die Verbindung der theologia crucis mit immanentem Optimismus” erscheine nun „als der neue Weg, den Bonhoeffer uns in den letzten Briefen erschließt”. „Es scheint” Hanfried Müller „in der Theologiegeschichte das erstemal zu sein, daß eine reformatorische Theologie nicht nur in der Entweltlichung der Kirche und in der Entklerikalisierung der Welt die Freiheit des Christmenschen in der Welt bezeugt, sondern darüber hinaus von dieser Freiheit einen positiven, optimistischen, immanent vorwärtsführenden Gebrauch macht, statt sich den Aufgaben dieser Welt in Restauration oder innerweltlicher Resignation zu entziehen”(S. 356).

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LeerFragt man nun nach dem theologischen Ergebnis dieser Interpretation, so kann man nur feststellen: es kommt, strukturell gesehen, erstaunlicherweise noch einmal das heraus, was gerade der Sozialismus in seinem hundertjährigen Kampf gegen die Kirche mit Recht erbarmungslos entlarvt, und wie es schien, ein für allemal unmöglich gemacht hatte, nämlich eine rein rhetorische Oberhofpredigertheologie des bloßen Jasagens zu gegebenen Machtverhältnissen ohne jede konkrete inhaltliche Bedeutung - eine Bindestrich-Theologie also, die, wie Bonhoeffer es als die entscheidende „Schwäche der liberalen Theologie” ansieht, „der Welt das Recht einräumte, Christus seinen Platz in ihr zuzuweisen” und „im Streit von Kirche und Welt den von der Welt diktierten - relativ milden - Frieden akzeptierte” (7). Wem aber sollte damit gedient sein? Wer der Welt helfen will, darf nicht zu ihr überlaufen. „Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren” (Luk. 9, 4). Jede Art von Überläufertheologie hemmt nicht nur die Weltwirkung des Christentums und der Kirche, sondern gefährdet auch die Welt.

LeerDieser Sachverhalt ist deshalb so schwer durchschaubar, weil es sich hier nicht um einen Bewußtseinsvorgang, sondern ein Strukturphänomen handelt, das sich dem Bewußtsein nicht nur entziehen, sondern sich geradezu bewußtseinsmäßig theologisch tarnen und unsichtbar machen kann. Zur theologischen Tarnung einer strukturell heidnischen, das heißt auf Weltverabsolutierung hinauslaufenden Welthaltung wird jede theologische Aussage, der die unbedingt kritische Funktion fehlt, die zum Wesen der - sachgemäß nur trinitarisch beschreibbaren - christlichen Offenbarung gehört. Diese kritische Funktion hat ihren dogmatischen Ort im Zweiten Glaubensartikel. Sie besagt nichts anderes, als daß die unwiderruflich von Gott geschaffene und geliebte Welt ebenso unwiderruflich unter dem Gericht Gottes steht, weil sie sein will wie Gott und nun auf die göttliche Versöhnung und Erlösung angewiesen ist. Davon bleibt in der Auslegung Hanfried Müllers nur eine Theologie des Ersten Artikels übrig, die sich als theologia crucis tarnt. Das Kreuz besteht hier nämlich im bloßen distanzlosen, vorbehaltlosen Einswerden mit dem „immanenten Optimismus” der herrschenden Weltanschauung, der die heute aktuelle Wirkungsweise der Verborgenheit Gottes darstellt.

LeerDieser Verdunstung aller konkreten Wortgehalte zu unverbindlichen, rein formalen Abstraktionen gegenüber bedarf es nun eines universal-realistischen Theologiebegriffes, der die ganze in der Trinitätslehre gemeinte Fülle der christlichen Offenbarung zum Ausdruck bringt. Er kann hier nicht entwickelt werden. Es mag nur gesagt sein, daß es dabei um die Frage geht, wie „das Unbedingte und das Konkrete geeint” wird (8), ohne daß das Unbedingte verwässert und das Konkrete vergewaltigt wird. Die Welthaftigkeit des christlichen Glaubens, um die es doch Bonhoeffer im Begriff der „Weltlichkeit” geht, muß deshalb unverkürzt und gleichzeitig als Schöpfung, als Gericht und Erlösung und als Heiligung der Welt beschrieben werden. Anthropologisch, in der Sprache der menschlichen Verantwortung geredet, heißt das, die Welt gleichzeitig unbedingt realistisch, unbedingt kritisch und unbedingt konkret sehen.

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LeerVon da aus gilt es nun, die Frage zu beantworten, ob die theologische Gesamtaussage Bonhoeffers nicht doch Möglichkeiten theologisch richtiger Verwirklichung der geforderten „weltlichen” Verkündigung enthält. Und da scheint es uns nun sicher, daß die Gefangenschaftsbriefe nicht eine Annullierung, sondern eine Radikalisierung, Konkretisierung und Präzisierung der in seinem Gesamtwerk enthaltenen Intentionen darstellt. Im einzelnen handelt es sich um folgendes:

Leera) Arkandisziplin. In der Wahrung des Arkanum sieht Bonhoeffer eine der unerläßlichen Voraussetzungen für die echte „Weltlichkeit” der Verkündigung. Das Evangelium ist in seinem innersten Gehalt „Geheimnis”. Es ist begriffstranszendent und ist allem Rationalismus und Intellektualismus, dem kirchlichen wie dem weltlichen, verschlossen. Nur indirekt kann von ihm geredet, nur im Vorletzten kann das Letzte gegenwärtig, nur im verhüllenden Bild kann das Unanschauliche anschaulich werden. In diesem Zusammenhang wird ihm schon in der „Ethik” die Unterscheidung von „Letztem” und „Vorletztem” wichtig. „Um des letzten willen muß vom vorletzten die Rede sein” (9). Er wundert sich in den Gefangenschaftsbriefen, wie alttestamentlich er in dieser Hinsicht denkt. Nur wer „die Unaussprechlichkeit des Namens Gottes kennt”, darf „auch einmal den Namen Jesus Christus aussprechen”, nur wer das Leben und die Welt bis zum Äußersten liebt, darf „an die Auferstehung der Toten und eine neue Welt glauben ... Wer zu schnell und zu direkt neutestamentlich sein und empfinden will, ist m. E. kein Christ” (10). Von daher ist es ihm auch im Unterschied von Bultmann darum zu tun, „daß die vollen Inhalte einschließlich der ‚mythologischen’ Begriffe bestehen bleiben müssen - das Neue Testament ist nicht eine mythologische Einkleidung einer allgemeinen Wahrheit, sondern diese Mythologie (Auferstehung etc.) ist die Sache selbst” (11). Von daher beschäftigt ihn auch die Frage: „Was bedeutet in der Religionslosigkeit der Kultus und das Gebet?” Nur die Arkandisziplin kann deutlich machen, daß Christus „nicht mehr Gegenstand der Religion, sondern etwas ganz anderes, wirklich Herr der Welt” ist (12).

Leerb) Nachfolge. Neben der Arkandisziplin ist die „Nachfolge” (13) eine der bleibenden Formen „religionsloser” Verkündigung in der „mündigen” Welt von heute. Schon in der Entstehungszeit der Schrift 1935-1937 ist es Bonhoeffer darum zu tun, „den vielen, denen die Kirche und ihre Botschaft fremd geworden ist”, „das reine Wort Jesu” zu bringen. „Es ist doch nicht nur die Schuld der anderen, wenn sie unsere Predigt hart und schwer finden, weil sie belastet ist mit Formeln und Begriffen, die ihnen fremd sind” (14). In diesem Zusammenhang kommt es zur Unterscheidung von „billiger” und „teurer” Gnade und zur theologischen Wiederentdeckung des Gesetzes. „Teure Gnade ist das Evangelium, das immer wieder gesucht, die Gabe, um die gebeten, die Tür, an die angeklopft werden muß. Teuer ist sie, weil sie in die Nachfolge ruft” (15). Bonhoeffer kämpft damit gegen jede Verflüchtigung und Verbilligung der Gnade „als Lehre, als Prinzip, als System”, gegen eine Intellektualisierung der christlichen Botschaft, die aus dem Evangelium eine Lehre macht, aber das Leben und die Welt unverändert läßt und die Parole ausgibt, man müsse „um des Ernstes dieser Gnade willen” leben „wie die übrige Welt”, „weltlich leben”, statt sich „von der Welt mit seinem Leben” zu unterscheiden. „Das ist billige Gnade als Rechtfertigung der Sünde . . .; nicht Vergebung der Sünde, die von der Sünde trennt” (16). So ist ihm „Luthers Weg aus dem Kloster zurück in die Welt” der „schärfste Angriff, der seit dem Urchristentum auf die Welt geführt worden ist . . . Nachfolge Jesu mußte nun mitten in der Welt gelebt werden . . . Der vollkommene Gehorsam gegen das Gebot Jesu mußte im täglichen Berufsleben geleistet werden . . . Damit vertiefte sich der Konflikt zwischen dem Leben des Christen und dem Leben in unabsehbarer Weise. Der Christ war der Welt auf den Leib gerückt. Es war Nahkampf” (17).

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LeerChristus wird hier ausdrücklich als „Mittler nicht nur zwischen Gott und Mensch, sondern auch zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Wirklichkeit” verstanden. Nachfolge heißt Anerkennung der Tatsache, daß „alle Welt durch ihn und zu ihm geschaffen ist . . .” (18). Also keine kirchliche Binnenhaftigkeit, keine „spezifisch kirchliche Ethik”, sondern Indienstnahme der Kirche für die Nachfolge in der „weltlichen” Welt. Die Entwicklung Bonhoeffers in den Gefangenschaftsbriefen ist also kein „qualitativer Sprung” in „etwas völlig Neues” hinein, sondern die Präzisierung und Radikalisierung der schon die ‚Nachfolge’ bestimmenden Erkenntnisse. So sieht er im Gefängnis zwar „die Gefahr dieses Buches”. Aber er „steht doch nach wie vor zu ihm”. Er hat nur deutlicher als damals erfahren, „daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt”. Erst „wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen . . . und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeit leben, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme . . .” (19).

LeerSchließlich will noch bedacht sein, daß „Nachfolge” nicht nur sittlichen Gehorsam gegen die im einzelnen ausgelegten Weisungen der Bergpredigt, sondern eine Grundhaltung der Welt gegenüber bedeutet; in der unbedingte Nähe und unbedingte Distanz, unbedingte Anerkennung und unbedingte Kritik untrennbar zusammengehören. „Es gibt ein unerlaubtes Bleiben in der Welt und eine unerlaubte Flucht aus der Welt” (20). Es besteht nicht der leiseste Anlaß dafür, daß sich diese Grundhaltung während der Gefangenschaft in eine distanzlose „optimistische” „immanente” Weltbejahung verwandelt habe. Ein solcher Wandel in der Grundstimmung stünde in direktem Gegensatz zu seinem Selbstbewußtsein: „Es gibt Menschen, die sich ändern und manche, die sich kaum ändern können. Ich habe mich, glaube ich, nie sehr geändert . . .” (21).

Leerc) Ethik. Schließlich ist für Bonhoeffer die „Ethik” eine der bleibenden Grundformen weltlicher Auslegung und Darstellung des Evangeliums in einer total religionslos gewordenen Welt. Das hängt mit seinem realistischen Grundverständnis der Ethik zusammen. Es geht in ihr um das „Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus unter seinen Geschöpfen”. Es ist „von letzter Wirklichkeit”, „daß die Wirklichkeit Gottes sich überall als die letzte Wirklichkeit erweise”, „diese Erkenntnis ist der Wende- und Angelpunkt aller Wirklichkeitserkenntnis überhaupt” (22). Die christliche Ethik meint „die Wirklichkeit Gottes als letzte Wirklichkeit außer und in allem Bestehenden, sie meint damit auch die Wirklichkeit der bestehenden Welt, die allein durch die Wirklichkeit Gottes Wirklichkeit hat” (23). Dieses realistische Anliegen der Beziehung zwischen Offenbarung und profaner Welt empfindet Bonhoeffer so sehr als eine Grundkomponente seines theologischen Selbstbewußtseins und seines Lebensgefühls, daß er in der Gefangenschaft sagen kann: „Manchmal denke ich, ich hätte nun eigentlich mein Leben mehr oder weniger hinter mir und müßte nur noch meine Ethik fertigmachen . . .” (24).

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LeerBonhoeffer will das traditionelle „Denken in zwei Räumen”, einem Reich des Natürlichen und einem Reich der Gnade und damit die falsche Alternative „Christus ohne die Welt oder die Welt ohne Christus” (25) ablösen. Er will deutlich machen, daß die Welt - und das heißt auch die religionslose Welt von heute - „ihren Bestand allein in Christus (Joh. 1,10; Kol. 1, 16)” hat - und zwar steht „die Welt in Beziehung auf Christus, ob sie es weiß oder nicht” (26). Und gerade „weil Jesus statt der Lösung von Problemen die Erlösung der Menschen bringt, darum bringt er aber auch wirklich die Lösung aller menschlichen Probleme - es wird alles zufallen` (Matth. 6, 33) - nur von ganz anderer Warte her” (Im Gefängnis in Tegel skizzierter Anhang zur Ethik unter der Überschrift: Über die Möglichkeit des Wortes der Kirche an die Welt).

LeerWir müssen hier aus Raumgründen abbrechen und können nur noch erwähnen, daß sich Bonhoeffer ja schon als Einundzwanzigjähriger in seiner Dissertation „Sanctorum Communio” darum bemüht, „die in der Offenbarung in Christus gegebene Wirklichkeit einer Kirche Christi sozialphilosophisch und soziologisch-strukturell zu verstehen”. Auch in dieser Bemühung um die richtige soziologische Gestalt der Kirche geht es offenbar um „weltliche” Interpretation des Evangeliums, nämlich um die Übersetzung seiner Gehalte in die profane Sprache der Sozialphilosophie und Soziologie.

LeerNur ein Hinweis muß zum Schluß noch mit allem Nachdruck gegeben werden: das Postulat Bonhoeffers von der weltlichen Auslegung des Evangeliums verträgt keine terminologische Dogmatisierung. Noch einmal gilt hier: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig” (2. Kor. 3, 6). Das gilt für alle drei Begriffe: mündig, religiös und weltlich. Ihre Fragwürdigkeit liegt darin, daß sie nur das Bewußtsein, aber nicht die Wirklichkeit des Menschen von heute treffen.

LeerGewiß: das etwa vom 13. Jahrhundert an mit der Gewalt einer Naturkraft sich entwickelnde Mündigkeitsbewußtsein des modernen Menschen will bis ins letzte und in allen seinen Konsequenzen ernst genommen sein - ganz anders, als das in der traditionellen Verkündigung der Kirche geschehen ist. Aber Mündigkeitsbewußtsein und wirkliche Mündigkeit ist nicht dasselbe, und das will gerade dort scharf unterschieden sein, wo es um Verstehen und doch nicht bloß um Einverstandensein geht. Wer die „Mündigkeit der Welt” „besser verstehen” will, als sie sich selbst versteht, dem muß deutlich werden, daß der moderne Mensch seine Mündigkeit längst in geradezu unheimlicher Weise an unpersönliche Mächte aller Art, besonders an dogmatisch erstarrte Ideologien, verloren hat.

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LeerDeshalb reicht auch der Religionsbegriff Bonhoeffers nicht an die wirkliche Lage heran. Natürlich ist der Mensch von heute weithin bewußtseinsmäßig unreligiös. Seinsmäßig steht er im Bann einer unbewußten Gläubigkeit an irdische Realitäten, auf die er im Sinne Luthers sein „Herz hängt und verläßt” und die ganz eigentlich seine Götter sind. Gewiß müssen hier all die Erkenntnisse festgehalten werden, die Bonhoeffer zur Ablehnung des Religionsbegriffs führen. Es ist im besonderen die schon von Karl Barth aufgezeigte Gefahr des Religionismus, der genau wie die Gesetzlichkeit zu einem letzten gefährlichsten Seinwollen wie Gott, zu einer Selbstrechtfertigung, ja Selbstvergötterung des Menschen führt. Aber es ist genau wie beim Gesetz nicht möglich, daraus die Konsequenz der Eliminierung des Religionsbegriffs aus der Sprache der Verkündigung zu ziehen. Es gilt hier vielmehr, in die Interpretation und Anwendung des Bonhoefferschen Prinzips all die Erkenntnisse sinnvoll aufzunehmen, die schon in der Feststellung Max Schelers beschlossen liegen, daß der „religiöse Akt” „von jedem Menschen notwendig vollzogen” (27) wird, und die in der neuesten Psychologie und Psychotherapie der Gegenwart, neben vielen anderen vor allem durch die Wiener Viktor E. Frankl, Igor Caruso und W. Daim überraschend und aufregend bestätigt worden sind.

LeerSchließlich aber wird es notwendig sein, an Stelle des Begriffs „weltlich” den Begriff „welthaft” treten zu lassen. Weltlich bedeutet weltverhaftet, weltverfallen. Welthaft bedeutet weltzugewandt, weltverpflichtet. Welthaftigkeit gehört unabdingbar zur Substanz des christlichen Glaubens: „Also hat Gott die Welt geliebt . . .” Es geht um das Heil der Welt. Weltlichkeit ist der Gegenschlag des Säkularismus gegen die unerlaubte Flucht aus der Welt, von der Bonhoeffer redet. Wer diese Intention ernstnehmen will, darf ihn auch hier nicht terminologisch dogmatisieren.


Anmerkungen:
 1: Verwiesen sei auf die ausführlichere Behandlung dieses Themas in meiner Abhandlung „Dietrich Bonhoeffers Prinzip der weltlichen Interpretation und Verkündlgung des Evangeliums” in: Theologische Literaturzeitung Oktober 1961, Sp. 722--744.
 2: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung (im Folgenden abgekürzt WE), München: Kaiser 1954, S. 131 f.
 3: WE, S. 183.
 4: WE, S. 183 f.
 5: WE, S. 184.
 6: WE, S. 180/221.
 7: WE, S. 218.
 8: Paul Tillich, Systematische Theologie 1, Stuttgart 2 1956, S. 265.
 9: Ethik, S. 79.
10: WE, S. 112 f.
11: WE, S. 220 f.
12: WE, S. 180 f.
13: Nachfolge ³ München 1950, Berlin 1954.
14: A. a. O., S. 5.
15: A. a. O., S.13.
16: A. a. O., S. 12.
17: Nachfolge, S. 17.
18: Nachfolge, S. 69.
19: WE, S. 248 f.
20: Nachfolge, S. 240.
21: WE, S. 174.
22: Ethik, S. 55 f.
23: A. a. O., S. 60.
24: WE, S. 118.
25: Ethik, S. 62.
26: A. a. O., S. 70.
27: Vom Ewigen im Menschen, Leipzig 1921, S. 559

Quatember 1962, S. 167-175

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-03
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