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von Wilhelm Stählin |
Wenn sprichwörtlich von dem „Tanz ums goldene Kalb” geredet wird, so wird mit diesem Ausdruck zumeist nichts anderes bezeichnet als die alleinige Geltung materieller Werte, die Überschätzung äußeren Reichtums und die verhängnisvolle Neigung, dem Erwerb und Besitz von Geld und Geldeswert alle menschlichen Rücksichten und selbst die Sorge um die eigene „Seele” zu opfern. Doch wird die so verstandene und gebrauchte Redeweise jener Geschichte vom „goldenen Kalb” nicht gerecht, die uns im 32. Kapitel des zweiten Buchs Mose erzählt wird. Mose hatte auf Gottes Geheiß und von Gott mit wunderbaren Kräften begabt dem Pharao die Erlaubnis zum Auszug des Volkes der Israeliten aus Ägypten abgerungen und damit sein Volk aus dem bedrückenden Frondienst, den es im Lande des Pharao hatte leisten müssen, befreit; der Auszug durch das Rote Meer war gelungen und das zur Verfolgung aufgebrochene Heer der Ägypter war „mit Roß und Wagen” von den wieder nachströmenden Wassermassen verschlungen worden. Diese wunderbare Rettung hat sich dem Volk bis in die spätesten Geschlechter als die entscheidende, die Freiheit und die Geschichte des Volkes Israel begründende Tat Gottes eingeprägt. Nun stand das Volk am Fuß des unheimlichen Berges Sinai, wo Mose unter furchterregenden Naturerscheinungen das „Gesetz” als die Willensproklamation Gottes empfing; die mythische Erzählung, daß Gott selbst mit seinem Finger die zehn Gebote auf steinerne Tafeln gegraben habe, symbolisiert die unverbrüchliche Dauer der damit gestifteten Ordnung für das Verhältnis der Menschen zu Gott und zu einander. Aber während Mose noch einmal für vierzig Tage in der „Wolke” der göttlichen Gegenwart auf dem Berge verweilte und also dem Blick des wartenden Volkes entrückt war, gewann im Volk die Stimmung verdrossener Unzufriedenheit die Oberhand; die Abwesenheit des Führers, dem sie auf dem gefährlichen Weg gefolgt waren, wurde ihnen ebenso unheimlich wie die Unsichtbarkeit des Gottes selbst, der nur durch seinen Boten zu ihnen sprach und ihnen mit strenger Forderung begegnete; die Vergangenheit, der sie eben entronnen waren, erschien in verklärendem Licht, und die Götter, deren Kult sie in Ägypten miterlebt hatten, dünkten sie vertrauenswürdiger, jedenfalls näher und weniger fremd als der Gott, den sie nicht sehen konnten und von dem sie kein sichtbares Bild machen durften. Das aus dieser Erzählung vertraute Wort „Kalb” erweckt eine falsche Vorstellung. Es ist nicht ein harmloses, friedliches Kälbchen, so wenig wie das Lamm Gottes ein sanftes Lämmlein ist, sondern es ist das Bild des jungen Stieres. Gott im Bilde des Stieres zu verehren, war in Ägypten seit vielen Jahrhunderten gebräuchlich, und die Israeliten hatten dort den Stierkult als eine primitive Form der Gottesverehrung kennengelernt. Der Stier ist das imponierende Bild animalischer Kraft; die wie zum Sprung gespannte gedrungene Gestalt und nicht minder die starken Organe der Zeugung sind das Symbol einer gewaltigen Kraft naturhafter Fruchtbarkeit. Wo sich der Sinn des Lebens in der physischen Erhaltung des einzelnen und der Gattung erschöpft und dementsprechend die Erfüllung des Daseinszwecks an die animalische Zeugungskraft und Fruchtbarkeit gebunden bleibt, da bietet sich das Stierbild als das überzeugende Symbol göttlicher Kraft an. In der brutalen Tiergestalt sahen die Stieranbeter das Bild ihrer eigenen Wunschträume von einer hemmungslosen Verwirklichung des animalischen Lebenswillens, und sie erlebten in der Raserei des kultischen Tanzes - es ist anzunehmen, daß das harmlose Wort „spielen” (Vers 6) eine euphemistische Umschreibung für sexuelle Orgien ist - etwas von der Verzauberung in orgiastischer Daseinsfreude. Aaron machte den schwächlichen Versuch - und wie oft ist dieser Versuch wiederholt worden! -, den Abfall zum fremden Gott zu verharmlosen; er läßt den wilden und berauschten Tanz um das Stierbild ausrufen als ein Fest für Jahwe(Vers5);aber was hilft es, den Namen beizubehalten, wenn doch der Inhalt, der mit diesem Namen bezeichnet werden soll, mit einem anderen Inhalt vertauscht ist? Hier stoßen zwei Ur- und Grundformen religiöser Erfahrung und religiösen Verhaltens in krassem Gegensatz aufeinander. Durch Mose waren die Israeliten von der Selbstbezeugung des Gottes berührt worden, der seinen unverbrüchlichen Willen in Gebot und Verbot „Du sollst!” und „Du sollst nicht!” bekundet; aber der Rückfall zu einer Form naturhafter Gottesvorstellung und Gottesverehrung war der bequemere Weg. Wenn Gott angeschaut und verehrt werden darf in dem Bild brutaler Geschlechtskraft, dann ist auch von den Verehrern dieses Gottes nichts anderes verlangt, als daß sie sich selbst als ein Stück Natur verstehen, daß sie ihren körperlichen Trieben dienstbar sind und sich selbst verwirklichen und in dem Rausch der Ekstase Erlösung von der Langweile und Dumpfheit ihres Lebens und vor allem von der unheimlichen Forderung sittlicher Gebote suchen. Indes besteht die aufregende Tatsache, daß der Stier auch neben Löwe und Adler unter jenen Tiersymbolen auftaucht, unter denen der Prophet Hesekiel die den Thron Gottes umschwebenden Engelmächte geschaut hat, und daß von daher diese vier „Tiere” als Vertreter aller kosmischen Mächte in den Visionen der Apokalypse auftauchen und als Engel, Löwe, Stier und Adler ursprünglich Symbole Christi selbst, später dann Symbole der vier Evangelisten geworden sind. Wenn also der Stier nicht nur Symbol des großen Abfalls von dem Gott der zehn Gebote zu dem Kultus animalischer Kraft, sondern auch Zeichen des Evangelisten Lukas geworden ist, so muß diese erregende Doppelsinnigkeit des Symbols (aber welches Symbol wäre nicht in irgend einem Sinn doppelsinnig und zwiespältig?) davor warnen, die in dem Stier verkörperte animalische Kraft nur negativ, als etwas Untermenschliches oder Widergöttliches zu entwerten. Auch die robuste Kraft, die der Stier in erschreckender Deutlichkeit verkörpert, gehört zu den Kräften, die der Schöpfer in seine Kreaturen gelegt hat, und der Mangel an vitaler Kraft ist noch kein Zeichen besonderer Tugend oder Heiligkeit. Wenn in unzähligen alten und neuen Darstellungen der auf dem Regenbogen thronende König Christus umgeben ist von jenen vier Wesen, unter denen auch der Stier seinen Ort hat, so ist das vielmehr ein Bekenntnis dazu, daß auch die in Löwe, Stier und Adler symbolisierten naturhaften Kräfte zu jenen kosmischen Mächten gehören, die Christus ihrer - aufrührerisch selbständigen - Macht entkleidet und seinem eigenen Reich dienstbar gemacht hat. Und nur wo die ehrwürdige Kraft animalischer Fruchtbarkeit ihrer dienenden Rolle entnommen und zum Selbstzweck gemacht wird, auf den das ganze Leben bezogen und dem die ganze Existenz dienstbar gemacht wird, wird der Stier zum schrecklichen Götzen, in dessen Verehrung die Offenbarung des wirklichen Gottes verleugnet und sein unverbrüchliches Gebot einem bloß naturhaften Dasein geopfert wird. Das drückt die alte Geschichte aus in dem erschreckenden Zug, daß Mose die Tafeln, auf die Gott seine Gebote geschrieben hatte, im Zorn zerbricht, weil das von Gott gegebene Gesetz schon zerbrochen ist in jenem Rückfall zu den Göttern der blinden Naturkraft, die kein sittliches Gebot kennt und achtet. Der schöne Schmuck des Lebens wird zum Götterbild umgeschmolzen, und nicht mehr der Glanz des Kostbaren, sondern der Wert des seltenen Materials, mit dem man die Welt kaufen kann, macht das Gold begehrenswert. In dem goldenen Stierbild verbinden sich die naive und moralisch indifferente Verehrung der brutalen Naturkraft und die Faszination durch den Glanz des edelsten unter allen toten Stoffen; aber erst durch die Verwandlung des Goldes aus dem schönen Schmuck in die Kostbarkeit, deren Besitz Reichtum und Macht verleiht, wird nun auch das unschuldige Gold dämonisch, und das gegenüber der Verehrung tierischer Wildheit ordinäre Interesse an Geld-und Geldeswert zerstört Menschen und Welt, verdirbt Landschaften, Ehen und Ehre; und erst auf diesem Boden, mit dem der Bereich echter heidnischer Verehrung naturhafter Gewalten zugunsten schnöder Gewinnsucht und Machtgier verlassen ist, geschieht nun jener „Tanz um das goldene Kalb”, so wie ihn die sprichwörtliche Redensart versteht. Wie fromm war noch der Kultus der animalischen Vitalität gegenüber der den Menschen entwürdigenden Alleinherrschaft des Geldes; und so schroff die Propheten gegen jeden Rückfall in die naturhafte Religion gekämpft haben, wieviel schroffer und unversöhnlicher ist die Feindschaft zwischen Gott und Mammon! Über die Art, wie Gott - oder Mose in Gottes Auftrag - den Abfall des Volkes bestraft, enthält die biblische Erzählung verschiedene Berichte. Der originellste und aufschlußreichste dieser Berichte besagt (Vers 20), daß Mose das goldene Bild zerschlagen und zu Staub zermahlen und diesen Goldstaub auf das Wasser geschüttet habe, das die Israeliten trinken mußten. Diese seltsame Strafe hat ihren tiefen Sinn und Hintergrund: sie müssen „ihre eigenen Götter saufen”; sie müssen das zu sich nehmen und sich einverleiben, was sie mit fanatischer Begeisterung angebetet und umtanzt haben. Dieser verfluchte Trank erinnert an das böse Drohwort des Propheten (Jes. 50, 11), daß die Abtrünnigen in die Flammen stürzen und von ihnen verzehrt werden sollen, die sie selber entzündet haben; aber nicht minder an das unheimliche Wort des Apostels (1. Kor. 10, 21), daß, wer aus dem Becher der Dämonen trinkt, mit seinem ganzen Sein in die unheimliche Verbindung mit dieser Welt der Dämonen gerät. Die Nähe des Berges Sinai, als der Stätte der großen Offenbarung sittlicher Ordnung, ist unheimlich und bedrohlich; aber man kann ihr nicht entfliehen, indem man der Faszination durch das Bild des Stieres oder den Glanz des Goldes erliegt; wo sich Menschen in diesen verführerischen Tanz um das „Goldene Kalb” hineinziehen lassen, da sind die Tafeln des göttlichen Gebotes zerbrochen. Quatember 1963, S. 9-13 |
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