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Zwei Beiträge zum Verständnis des Hinduismus
von Raymond Panikkar

1. Brief an einen christlichen Studenten des Hinduismus

LeerMein lieber Freund!

LeerIch weiß, daß Sie den Hinduismus nicht nur mit den besten Vorsätzen, sondern auch frei von Vorurteilen studieren. Andererseits können Sie einen gewissen - und sehr anerkennenswerten - Eifer nicht unterdrücken, das, was am Hinduismus wertvoll ist, Ihrem christlichen Glauben einzuordnen und zu integrieren. Vorausgesetzt, daß Sie beidem gerecht werden, ist das eine fruchtbare Arbeit und des Schweißes der Edlen wert. Ich möchte dazu nur eine oder zwei Bemerkungen machen, die vielleicht einiges Licht auf dieses Problem werfen.

LeerIch stimme Ihren Gedanken im wesentlichen zu. Da man aber Gefahr läuft, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, möchte ich zunächst das Hauptmerkmal des Hinduismus hervorheben. Wenn das gelingt, kann es dazu beitragen, den Hinduismus von innen her zu verstehen, was gewiß nicht ohne Bedeutung für die Begegnung zwischen Christen und Hindus wäre.

LeerIm Laufe unseres Gesprächs stellten wir fest, daß das Christentum den Indern nicht immer in seiner eigentlichen Gestalt nahegebracht wurde und daß der Mangel an theologischer Einsicht in das Wesen des Christentums ebenso wie in das Wesen des Hinduismus ein Grund dafür war, daß die in sovieler Beziehung großartige Missionsarbeit verhältnismäßig wenig ausrichtete. Hierfür ein zwingendes Beispiel: Oft haben Christen einen Zugang zum Hinduismus gesucht, ohne eigentlich zu wissen, wofür dieser eintritt, und ohne sich in ihn einzufühlen. Sie sind an ihn mit allgemeinen Begriffen und vorgefaßten Meinungen von einer „heidnischen Religion” herangegangen, die für die christliche Religion nichts eintragen kann. Allerdings haben die christlichen Missionare schließlich gelernt, das Leben des Hindu richtig zu sehen. Unter den vielen Ausländern, die nach Indien kamen, hat es gewiß nicht an solchen gefehlt, die dieses Land geliebt, studiert und verstanden haben. Aber diese Einstellung reichte nicht aus, die christlichen Annäherungsversuche im großen und ganzen zu bestimmen.

LeerDie Aufmerksamkeit des christlichen Ausländers richtete sich ferner sehr oft auf primitive Entartungserscheinungen, die mit dem reinen Hinduismus wenig zu tun haben. In dem Bemühen, Mißbräuche und üble Praktiken zu bekämpfen, übersah man zu leicht den guten Kern, der hinter diesen Auswüchsen des Aberglaubens steckt. Aber es geht noch um mehr als das. Oft sind gerade die Dinge, die von einem westlichen, ja sogar von einem christlichen Standpunkt aus verkehrt oder schlecht sind, gar nicht so verwerflich, wenn man sie in der existentiellen und subjektiven Sicht des Hinduismus und im Zusammenhang mit der Lebensweise des Hindu sieht. Es besteht eine geheimnisvolle und enge Verbindung zwischen Sünde und Gesetz, mit der sich der heilige Paulus in seinem Brief an die Römer auseinandersetzt. Geschlechtsleben, Selbstzucht, menschliche und gesellschaftliche Beziehungen liefern uns viele Beispiele dafür.

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LeerAber, um auf das zurückzukommen, was Hinduismus ist: Es ist festzustellen, daß die Antworten vieler Christen, auch solcher, die fraglos sachkundig sind, von den Antworten abweichen, welche die Hindus selber geben. Vielleicht sind die christlichen Gelehrten objektiver, aber ich möchte wissen, ob sie umgekehrt die nicht-christlichen Anschauungen über das Christentum im wesentlichen richtig finden würden. Es steht sicherlich außer Diskussion, daß wir nur dann zu einem wirklichen Verständnis des Hinduismus gelangen werden, wenn wir in Rechnung stellen, was repräsentative Hindus über sich selber sagen. Was sagen sie also?

LeerZunächst einmal ist der Name selbst irreführend, verhältnismäßig neu und kein „Hindu”-Wort. Ein wirklich gelehrter Hindu wird nicht sagen, daß er ein Hindu ist, er wird diesen Namen ablehnen und sofort darauf hinweisen, daß die anderen, Mohammedaner und Christen, ihn eingeführt haben, um sich selber von dem sanâtana dharma zu unterscheiden und abzugrenzen, das heißt, von der ewigen Ordnung (Religion), die keinen Gründer, keinen Urheber, keinen Anfang, kein Ende und keine wie immer gearteten Grenzen hat.

LeerSo wie der Hinduismus sich selber versteht, beansprucht er, die Wahrheit schlechthin, die ewige Ordnung, das immerwährende dharma, die Universalreligion des indischen Volkes zu sein. Der Hinduismus ist der Meinung, daß er alle Krisen in der Welt bestehen kann, weil er nicht an irgendwelchen besonderen Glaubenswahrheiten hängt. Er befaßt sich nicht mit der Vergangenheit und ist äußerst anpassungsfähig. Im Hinduismus findet jeder einen Platz, der nicht gegen die Wahrheit ist und die Religion gelten läßt, sei es auch nur in dem weiten Sinn, in dem Buddha selbst für einen Hindu gehalten wird, obwohl er mit dem traditionellen Hinduismus gebrochen hat. Es stimmt auch, daß alle, von Atheisten und Götzendienern angefangen bis zu den größten Mystikern, ihre geistliche Heimat im Hinduismus finden können. Der Hinduismus schließt alles ein und verachtet nichts, was irgendwie Wert hat. Alles kann eingeordnet werden, vorausgesetzt, daß es nicht den Anspruch auf Alleingültigkeit oder Ausschließlichkeit erhebt.

LeerIch kann als Hindu über alle Arten äußerlicher Kultformen erhaben sein, ja, sogar dem Götzendienst ganz fern stehen; trotzdem werde ich diese primitiven Formen der Verehrung nicht verachten und nicht nur bereit sein, meine Mutter zu ihren Götzenbildern zu begleiten, sondern auch in mir selber Schichten entdecken, chthonische und tellurische Schichten meines Seins, in denen der Götzendienst immer noch etwas bedeutet. Die Erhöhung, die Überwindung jeglichen Glaubens und selbst die echte Bekehrung bedeutet nicht Zerstörung, Verdrängung oder Verrat der existentiellen Ansprüche meines Seins, sondern deren Erhebung, Verwandlung und Bekehrung in ihrem tiefsten, umfassenden Sinn. Selbst wenn der Weg ein Weg der Selbstentäußerung und Selbstverleugnung sein muß, so ist das Ende doch Auferstehung und Bejahung.

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LeerHindu dharma ist ferner für Änderungen fortschrittlicher Art und für eine gleichmäßige Höherentwicklung aufgeschlossen. Er verabscheut nur die Revolution. Er ist bereit, sich anzupassen und zu erneuern, sich in irgendeine höhere Form bekehren zu lassen, die er in Zusammenhang bringen und bejahen kann. Er verlangt nur etwas Geduld und Verständnis für die primitiven Formen der Verehrung und für die einseitigen oder objektiv weniger angemessenen Vorstellungen, die jemand von Gott oder von der Wirklichkeit haben könnte. Anbeter Visnus mögen Nachfolger Sivas bekämpfen und über kultische Bräuche oder gar Glaubenswahrheiten streiten; aber die Exkommunikation hat auf diesem Gebiet für den Hindu keinen Sinn. Lehrunterschiede und Verschiedenheiten im Kultus schließen nicht aus, daß man sich gegenseitig beeinflußt und auf einer höheren Ebene zusammenfindet.

LeerIch nehme damit keinen synkretistischen Standpunkt ein und verkenne auch nicht all das, was mit Erbsünde, Erlösung, Gnade und dergleichen zusammenhängt und unsere freundlichen Träume von „natürlicher” Harmonie und Kontinuität zerstört. Ich mache auch keine Vorschläge für irgendeine Art von Apologetik. Aber ich muß sagen, daß ich im Gespräch mit guten, gelehrten und rechtgläubigen Hindus den Eindruck habe: Hier ist nicht nur kein Platz für ein Christentum, wie es den Indern im allgemeinen vorgesetzt oder wenigstens von ihnen verstanden wird; vielmehr können sie, moralisch gesprochen, diese Art Christentum überhaupt nicht zulassen. Sie würden gegen ihr eigenes Gewissen und gegen die elementarsten Grundsätze menschlichen Denkens verstoßen, wenn sie das täten.

LeerZugleich habe ich auch den Eindruck, daß jene Gelehrten in Bharat (Indien) dem Reich Gottes sehr nahe sind, und daß die christliche Antwort vom lebendigen Christus, der kam, nicht um zu zerstören, sondern um zu erfüllen, ihnen sozusagen schon auf der Zunge liegt.

LeerIch will mich jetzt nicht in Theorien über die anima naturaliter christiana ergehen, über die von Natur christliche Seele. Ich denke nur an das Beispiel des heiligen Paulus und vergegenwärtige mir, wie wunderbar die Wege des Herrn, wie erhaben die Pfade der Vorsehung sind. Es scheint mir, daß Christus diese Wege durch Seine „Propheten” im Hinduismus ausgezeichnet vorbereitet hat, daß die Christen ernten, was andere gesät haben, und daß sie nur in aller Niedrigkeit zu dienen und der Sehnsucht ihrer Hindu-Brüder zum Ziel zu verhelfen haben, zu dem, wonach sie dürstet, zur Enthüllung dessen, was sie suchen, zur Erfüllung der Veden. All das läßt sich nicht mit fertigen Antworten oder damit erreichen, daß man ihnen eine Masse von Dogmen vorsetzt, sondern nur so, daß wir zu ihnen halten und den Hindus ein Hindu sind, um mit ihnen das Brahmanentum zu erlangen auf dem einzigen Zugang zum Vater: durch Seinen Fleisch gewordenen Sohn.

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LeerWie oft habe ich selbst gespürt und ihnen auch gesagt: Dieser „Hinduismus”, der euch vorschwebt, dieser Dharma, den ihr zu verwirklichen sucht, diese Religion, die immer in Bewegung ist, die den Menschen annimmt, wie er ist, und nicht den Tod des Sünders und Götzendieners will, sondern seine Bekehrung und sein Leben, diese Wahrheit, die ihr zu beschreiben sucht, ist ja das Christentum, ist Christus. Das Christentum will nichts anderes sein. Mag sein, daß wir in dem, was wir feststellen, nicht übereinstimmen - noch nicht -, aber wenn es so etwas gibt wie Christentum, dann ist es genau dieser Satya (Wahrheit), Dharma (Ordnung), Brahman (Gott); und wenn es überhaupt ein Ziel hat, dann ist es nichts anderes als Sat, Cit, Ânanda (Sein, Geist, Wonne). Erst wenn Hindus und Christen sich in dieser Sprache verständigt haben, kann der Ruf des lebendigen Christus und das Mysterium Seines Kreuzes, das noch immer von dem Blut Seiner kämpfenden Kirche besprengt ist, seine ganze, Geschichte schaffende Kraft erlangen. Wenn es soweit ist, dann gehört zu dem Auftrag der Kirche noch Mut. Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen und verlangt freies Auftreten, Gnade, Gebet, Heiligkeit . . .

LeerDas ist nichts Neues. Es ist beinahe ein Gemeinplatz, aber deswegen nicht weniger wahr, daß die gesamte Kultur des Hellenismus im letzten vorchristlichen und in den ersten zwei oder drei nachchristlichen Jahrhunderten ein einziger gequälter Schrei nach Erlösung und ein verzweifeltes Ringen um Errettung war. Dies um so mehr, als gerade die existentielle Auslegung der Apologeten und Väter in ihrem Verhalten zu der Sehnsucht und zu dem in der Folge eingetretenen Umschwung in der griechischen Denkweise und Kultur beitrug. Bemerken Sie jetzt das geradezu tragische Mißverständnis zwischen Hindus und Christen? Der Hinduismus ist potentiell christlicher, als man sich im allgemeinen klar macht oder, um es anders auszudrücken, der Hinduismus ist eher vorchristlich als antichristlich, eher unvollkommen und unvollständig als irrig, er ist eher auf dem Wege zur Wahrheit als wirklich falsch.

LeerHinduismus ist nur ein Rahmen, eine offene Form. Er hat keinen eigentlichen Inhalt, keine Glaubenswahrheiten. Oder er hat soviele Formen und Inhalte, daß man schließlich keine von ihnen für wesentlich und charakteristisch halten kann. Die Inhalte, die er heute hat, sind nicht wesentlich, sondern nur auf historische oder kulturelle Umstände zurückzuführen. Da der Hinduismus für das Wahre und Güte, für Gott eintritt und die Vorläufigkeit dieses Erdenlebens und all dessen, was dazu gehört, betont, können wir wirklich nicht eine andere Wahrheit, einen anderen Gott, eine andere Religion verkündigen. Wir müssen vielmehr darlegen, worin eben dieses Wahre und Gute besteht, und das wirkliche Antlitz Gottes zeigen. Das wäre der wichtige Beitrag, den Sie zu leisten hätten und für den ich nur in aller Demut beten kann: Jene wesentliche Offenheit und Universalität des Hinduismus mit der konkreten, fleischgewordenen, aber nicht minder allgemeingültigen und göttlichen Wahrheit, die Christus ist, zu erfüllen. Erhebt der Hinduismus den Anspruch, die Religion der Wahrheit zu sein, so ist das Christentum nichts anderes als die Wahrheit der Religion.

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2. Die Einordnung indischen Denkens in das Christentum

Leer„Denn durch Ihn ist alles geschaffen (Kol 1,15)”

LeerUnsere Frage ist nicht apologetischer, sondern theologischer Art. Der Apologet würde hier das Problem behandeln, wie man christliches Gedankengut in die nicht christliche Welt einführen und annehmbar machen kann. Wir fragen umgekehrt: Wie und inwieweit kann die indische Philosophie uns helfen, das christliche Glaubensgut zu verstehen und auszudrücken?

LeerEs ist ein alter Gedanke, daß die Philosophie die „Magd der Theologie” ist, und die Frage, die am Anfang unserer Erörterung steht, lautet deshalb, ob die indische Philosophie einen solchen Magddienst verrichten kann. Selbstverständlich meint „Magd” nicht Sklavin und müssen wir der indischen Philosophie die Freiheit einräumen, ganze Arbeit zu tun - und dazu muß sie frei sein. Ohne diese Freiheit wäre sie weder „Magd” noch „Philosophie”.

LeerDie Philosophie und die religiöse Denkweise Indiens wird sich dann in die christliche Theologie einordnen, integrieren lassen, wenn sie sich als ein gutes Werkzeug erweist, das christliche Dogma auszudrücken und verständlich zu machen. Eben dies, daß sie als Werkzeug Verwendung findet, wird der Verwandlung, oder richtiger, der Bekehrung des Hinduismus zugute kommen.

LeerEinordnung ist mehr als bloße Anpassung und geht auch einen Schritt weiter als bloße Adoption. Bei einer Adoption eignen wir uns etwas an, was uns von Haus aus nicht gehört. Adoption ist in erster Linie ein Begriff aus dem Rechtsleben. Wir sind gewiß berechtigt, die indische Kultur zu adoptieren, aber wenn wir nicht darüber hinausgehen, wird sie immer das adoptierte Kind anderer Eltern bleiben. Und da besteht die Gefahr, daß die Eltern ihr Kind zurückverlangen könnten. Selbst wenn die Eltern tot wären - was sie nicht sind -, werden die zukünftigen Geschlechter, die lediglich von angepaßten oder einfach adoptierten Begriffen leben, darin schwerlich die Fülle des christlichen Lebens finden, die für ein eigenständiges und echtes Wachstum erforderlich wäre. Anpassung mag vielleicht ein notwendiger erster Schritt und Adoption ein nützlicher Versuch sein, aber sie bieten uns nicht mehr Möglichkeiten als eine fremde Sprache, die wir nur benutzen, um unsere eigenen Gedanken auszudrücken.

LeerEinordnung bedingt aber - das wollen wir voranstellen -, daß wir in derselben Sprache denken, in der wir sprechen. Bei diesem Vergleich mit der Sprache geht es um mehr als um eine bloße Metapher. Von der christlichen Theologie muß heute verlangt werden, daß sie die Sprache der indischen Philosophie beherrscht, wenn sie beansprucht, die mit dem Verstande faßbare Darstellung einer Wahrheit zu sein, die sich für universal und katholisch ausgibt.

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LeerNun gibt es zwei Wege, um eine Sprache zu lernen. Von dem einen machen Erwachsene und Ausländer Gebrauch, den anderen benutzen Kinder und Einheimische. Der erste Weg besteht darin, daß man „Worte” mit „Worten” vergleicht, das heißt in unserem Fall, Begriffe mit Begriffen und - im fortgeschrittenen Stadium - Redewendungen mit Redewendungen, sprich Systeme mit Systemen. Wer in einer Sprache denkt - in einer Kultur oder Philosophie - und in einer anderen spricht, wird in der zweiten Sprache - Kultur oder Philosophie - immer ein Fremdling bleiben, mag seine Technik und Meisterschaft auch noch so groß sein. Der andere Weg, eine Sprache zu lernen, ist der des Kindes. Das Kind vergleicht nicht Worte mit Worten, sondern entdeckt Beziehungen zwischen Worten und Dingen. Wir können die indische Kultur nicht verstehen, wenn wir bei ihr nicht in die Schule gehen und versuchen, die Dinge und deren Bedeutung kennen zu lernen. „Was ist das?” fragt das Kind und zeigt mit dem Finger auf einen bestimmten Gegenstand. Nur wenn wir es fertig bringen, mit unserem Intellekt (in seiner intuitiven Funktion: intellectus) auf eben diese „Dinge” zu zeigen, denen gegenüber Begriffe und Worte bereits Übersetzungen sind, werden wir die Antworten der verschiedenen Philosophien verstehen und dann vielleicht auch einordnen können.

LeerEinordnung bedeutet, daß man Grundsätze, Gedanken, Haltungen wirklich übernimmt und ihnen nicht nur einen Platz in einem vorher festgelegten Schema anweist, sondern sie in die christliche Lebensführung, Überlieferung und Lehre hineinverwandelt und konvertiert (denn diese Verwandlung ist ja eine wirkliche Konversion). Um einzuordnen, müssen wir uns einverleiben, was wir übernehmen, wir müssen es uns so zu eigen machen, daß die Unterschiede zwischen neuen und alten Elementen schließlich irrelevant werden. Einordnung, Übernahme, Angleichung und dergleichen sind nur bildliche Ausdrücke, die richtig verstanden werden müssen. Sie gehören der „essentiellen” Ordnung an. Im „existentiellen” Bereich drücken Worte wie „Entfaltung” und „organisches Wachstum” die andere Seite dieses Vorgangs aus. Das Christentum als pleroma (Fülle) Christi braucht sich nichts einzuordnen, weil alles, was ist, schon in irgendeiner Weise in Christus eingeordnet ist.

LeerWir ordnen Ideen, Haltungen, Grundsätze ein, die christliche Wirklichkeit dagegen wird zur Entfaltung, zur Entwicklung und zum Wachstum gebracht. Die Einordnung besteht nicht darin, daß wir völlig neue und fremde Elemente hinzufügen, sie ist vielmehr eine organische Bereicherung, eine neue Synthese, ein Entdecken (oder eine Erlösung) von Wahrheitsfragmenten (die als solche christlich sind, wenn anders das Christentum die ganze Wahrheit ist), die in diesem Wachstumsvorgang dem mystischen Leib „einverleibt” werden. Es ist klar, daß eine Einordnung nicht möglich ist, wenn wir die Natur und den Umfang der christlichen Theologie einengen und verringern. Theologie ist weder eine Art übernatürlicher Metaphysik noch ein reines Verstandeswissen, das aus gewissen „geoffenbarten” Obersätzen Schlüsse zieht. Gott offenbart nicht Obersätze für Vernunftschlüsse, sondern Sich Selbst. Theologie ist ferner nicht die Privatangelegenheit eines einzelnen, noch ein zurechtgemachtes und geschlossenes Lehrgebäude. Wenn wir noch immer darauf bestehen, sie als Wissenschaft zu bezeichnen, dann sollten wir nicht vergessen, daß sie eine scientia subalternata, eine Teilhabe am göttlichen Wissen ist, an der eigentlichen scientia, in der Gott Sich Selbst und in Sich den ganzen Kosmos erkennt.

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LeerTheologie oder theologia viae (Unterwegs-Theologie), wie der heilige Thomas sie nennt, ist nach seiner Meinung die normale Ausbreitung des Glaubens, die fides quaerens intellectum, der Glauben, der die Wirklichkeit zu verstehen sucht, welche uns im Glauben und durch den Glauben gegeben ist. Diese lebendige Theologie ist die ständige Begleiterin des Menschen auf seiner irdischen Pilgerfahrt und hilft ihm, das lebendige Wort Gottes, das sich herabließ und unter uns wohnte, in seinem Sinn zu entziffern und in seiner Wirklichkeit anzubeten. Sie ist das ständige Gespräch, das der Glaubende - und das heißt immer auch, der in der Kirche Stehende - in seiner Kontemplation mit Gott und in seiner Aktion mit der Umwelt führt. Eine Theologie, die in dem Bereich, in dem sie leben muß, taub wäre, würde in diesem Milieu auch sehr bald verstummen. „Gottes Wort ist nicht gebunden”, sagt der heilige Paulus. Es kann nicht an eine bestimmte Klasse, Umwelt und Kultur gebunden werden. Eine isolierte und chemisch-reine Theologie, die Angst hat, unrein zu werden - so wie die Juden, die Christus kreuzigten, davor zurückscheuten, den Palast des „Heiden” Pilatus zu betreten - eine solche Theologie würde zumindest steril und wirkungslos bleiben.

LeerIn Indien muß die Theologie heute den Hinduismus zum Gegenstand ihres Studiums machen, aus dem doppelten Grunde, weil hier vielleicht Gottes Wort, ganz bestimmt aber Menschenworte über Gott zu hören sind. Das „Wort Gottes” in diesem doppelten Sinn gehört zur christlichen Theologie, die auch mit jenem ausdrücklichen Befehl Christi gemeint sein könnte: „Sammelt die übrigen Brocken!”: Versucht all diese Brocken einzubeziehen, all diese abgebröckelten Teile aufzulesen, die vom Himmel auf die Erde gefallen sind, seitdem die Menschen in diesem indischen Land leben, lieben, denken, sündigen; denn Seine umfassende Fürsorge erstreckt sich über alle Seine Kinder.

LeerUnter diesem theologischen Gesichtspunkt erscheint die indische Philosophie nicht als ein bloßes Gedankengefüge, über das sich sprechen und urteilen ließe, sondern als eine existentielle Wirklichkeit, die einerseits das Denken und damit die Kultur des indischen Volkes gestaltet hat und deren Funktion andererseits (in ihren positiven Elementen) darin bestand, daß sie das indische Volk anleitete, die einzig wahre Wirklichkeit der Dinge, die alle Erkenntnis übersteigt, zu erkennen, zu lieben und zu erlangen. Es ist Tatsache, daß die indische (Hindu) Weisheit Geist und Verstand dieses weiten Landes seit Jahrtausenden ernährt hat. Nun haben die Inder, soweit sie recht lebten und gerettet wurden, das heißt zum Heil gelangten, dies letzten Endes in und durch Christus, den alleinigen Mittler, vermocht, unmittelbar aber mit Hilfe der indischen Kultur und Religion. Mit den ihr eigentümlichen Werten hat die Spiritualität Indiens sozusagen als Werkzeug der Erlösung gedient; mit anderen Worten: Die Gnade Gottes, die sich in Christus herabließ, hat sich in den Werten des Hinduismus eingehüllt und einverleibt. Eine Zeit lang haben Hinduismus und indische Philosophie geradezu den Platz des Christentums und der christlichen Theologie eingenommen, sie waren ihre Vorläufer, ja, sie haben sie in einem gewissen Sinn ersetzt.

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LeerDie Möglichkeit der Einordnung hängt ganz davon ab, daß dieser existentielle Charakter der indischen Philosophie gesehen wird. Ihre Gedanken sind vielleicht nicht orthodox, aber in dem tragenden Grund dieser Gedanken ist durchaus ein Hinweis auf die christliche Wirklichkeit gegeben. Es kann zum Beispiel sein, daß der Inder die Beziehung zwischen Geschöpf und Schöpfer noch nicht in philosophisch einwandfreien Formulierungen dargelegt hat: gleichwohl muß, wo immer ein guter Hindu betet, diese Beziehung „existieren”.

LeerWenn die Theologie so verfährt, vermeidet sie auch einen falschen „Irenizismus” (friedliche Einigung um den Preis der Wahrheit); wird doch weder der Platz und die Rolle des Bösen in der Welt verkannt, noch die Notwendigkeit, Lehren und Gedanken zu überprüfen. Letztere können der Wirksamkeit der göttlichen Gnade oft entgegenstehen. Nicht jede Lehre ist geeignet, die Botschaft von der Erlösung auszudrücken oder auch nur in sich aufzunehmen. Einordnung ist zunächst nur eine Möglichkeit. Erst nachträglich kann eine ernsthafte Untersuchung in concreto ergeben, ob sie wirklich gelungen ist.

LeerBei der Einordnung des indischen Denkens in die christliche Theologie sind drei Prinzipien zu beachten:

1. Das Prinzip der Gleichartigkeit

LeerNur auf gemeinsamer Grundlage kann eine wirkliche Begegnung stattfinden. Wo - scholastisch gesprochen - nicht dasselbe Formalobjekt vorhanden ist, ist kein Gespräch möglich. Nur gleichartige Elemente lassen sich unter einen Hut bringen.

LeerWenn man dieses Prinzip außer acht läßt, kommt man entweder zum Synkretismus, indem man zum Beispiel zwei verschiedene Philosophien, Religionen oder Kulturen nur deshalb zusammenfaßt, weil sie sich in ähnlicher Weise ausdrücken; oder man kommt zu einer verneinenden Haltung und Ablehnung, indem man nur die verschiedene Ausdrucksweise - oder auch nur die verschiedenen Bedeutungen - beachtet. Wie oft steht hinter übereinstimmenden Feststellungen eine völlig verschiedene Sicht der Wirklichkeit; und nicht selten versucht man durch verschiedene Ausdrücke ein und dieselbe Wahrheit zu vermitteln. Homologie ist nicht Analogie und umgekehrt.

LeerWenn zum Beispiel die These eines Skotisten von einem intern-thomistischen Standpunkt aus nicht beurteilt und verstanden werden kann, so lassen sich scholastische Formulierungen noch viel weniger mit der mehr symbolischen und intuitiven Ausdrucksweise der Upanishaden vergleichen. Ebensowenig vergleichbar sind die Glaubensvorstellüngen des Volkes mit sorgfältigen theologischen Formulierungen.

2. Das Prinzip der inneren Erfahrung

Leer„Was ist das?” fragt das Kind, wie wir oben gesagt haben. Erst von der Einsicht in dieses das, von der eigentlichen Quelle ihrer Eingebung her wird eine Philosphie verständlich. Erst hier entdecken wir ihre Wahrheit, und unter Umständen auch ihr Abweichen von der Wahrheit, und sind in der Lage, das, was unser Gesprächspartner wirklich sagen will, besser auszudrücken als er selbst.

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LeerEine echte Inkarnation ist nötig, damit die Erlösung Platz greifen kann. Wir müssen das Problem, das in Frage steht, jenseits aller Worte und Begriffe, in seiner Nacktheit an uns selber erleben und erfahren. Es ist hier nicht der Ort zu entscheiden, wie weit sich diese Erfahrung überhaupt mit dem Hinduismus machen läßt, aber wir wollen uns daran erinnern lassen, daß die Väter und auch die heiligen Lehrer der Kirche etwas derartiges getan haben. Gerade die Fülle Christi gibt uns die Möglichkeit, jede andere Wahrheit auf diesem inneren Wege zu erfahren. Aber das gehört zum organischen Wachstum der Kirche. Die Entwicklung muß von innen her kommen. Das besagt unser drittes Prinzip.

3. Das Prinzip der Überlieferung

LeerDie Einordnung in das Christentum kann niemals ein völlig neues System oder einen von Grund auf neuen Ausgangspunkt bedeuten, in dem man sich über Jahrhunderte christlicher Theologie und Jahrtausende menschlichen Denkens einfach hinwegsetzt. Der Logos ist von Anbeginn am Werk, und die Geschichte ist eine die Kirche bestimmende Dimension. Selbst wenn der Theologe zuweilen die Vergangenheit als Bürde empfindet, so gehört es doch zu seiner Mitwirkung am Erlösungswerk, daß er diese Bürde auf sich nimmt. Dieses Prinzip besagt, daß es nicht genügt, sagen wir einmal, die Philosophie Sankaras zu christianisieren. Wenn sie überhaupt echte Werte enthält, dann sollten diese der christlichen Lehre einverleibt werden, um den Preis, daß wir unter Umständen weniger angemessene philosophische Gesichtspunkte aufgeben.

LeerDas Prinzip der Überlieferung ist kein statisches Prinzip. Das würde Stagnation bedeuten. Es ist im Gegenteil ein dynamisches Prinzip; denn die Tradition ist ein lebendiger Strom in der Kirche, der nicht eingefroren oder angehalten werden kann. In dem Augenblick, in dem wir die Tradition anhalten, vermitteln wir nicht mehr die lebendige Botschaft, wuchern wir nicht mit ihr - wie es uns in der Parabel von den Pfunden geboten ist -, sondern vergraben sie aus lauter Angst, sie zu verlieren, weil unser Glauben nicht mehr lebendig ist. Es liegt im Wesen der Tradition, daß wir die Stufen hinter uns lassen müssen, wenn wir den Berg erklimmen, wo der lebendige Gott wohnt.

LeerDie Frage, wie diese Einordnung erfolgen kann, ist brennend. Aber das war hier nicht meine Aufgabe, es ist auch nicht die Aufgabe eines einzelnen, sondern das Arbeitspensum einer ganzen Generation. Und ich bin davon überzeugt, daß diese Generation die unsere ist.

(Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von H. C. von Haebler)

Quatember 1963, S. 51-59

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-13
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