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Eichstätt 1962
von Hans Carl von Haebler

LeerIch habe nicht die Absicht, den Verlauf der Tagung, welche die Abendländische Akademie im Herbst vergangenen Jahres wiederum in Eichstätt abhielt, im einzelnen zu schildern. Die Vorträge, die unter das Gesamtthema „Das Europäische Erbe in der heutigen Welt” gestellt waren, sind vom Tonband festgehalten worden und dürften demnächst im Druck erscheinen. Was das Tonband dem Berichterstatter aber nicht abnehmen kann, sind die persönlichen Eindrücke, die er empfangen und die Gedanken, die er sich gemacht hat.

LeerSchade, daß der Mann, der berufen gewesen wäre, uns Europäern einen Spiegel vorzuhalten, - daß der indische Professor Raymond Pannikar, Direktor des internationalen Studienkollegs in Rom, am Kommen verhindert war. Doch fand sich in dem schweizerischen Botschafter in Neu-Delhi, Herrn J. A. Cuttat ein vorzüglicher Vertreter und Dolmetscher seiner Gedanken. Vom Osten aus gesehen - so mußten wir uns sagen lassen - erscheine Europa als das unreligiöseste Land auf der Erde. Es habe in der Periode des Humanismus, der Renaissance, der Säkularisation eine Kultursünde begangen und seinen Glauben verloren. Aber die christlichen Werte des Abendlandes seien nur verschüttet, und der Europäer habe noch eine Aufgabe, die er freilich nur erfüllen könne, wenn er sich seines Kulturstolzes entäußere. Herr Cuttat wies dann auf die drei Formen hin, in denen das Christentum heute zu finden sei: die von diesem geprägte Zivilisation, die institutionelle und die verborgene Kirche. Während die institutionelle Kirche nur geringe Fortschritte mache, lägen in den beiden anderen Formen einzigartige Chancen. Wichtig vor allem sei der Begriff der Person, der in den christologischen Auseinandersetzungen des 4. und 5. Jahrhunderts gewonnen wurde. Außerhalb des Christentums kenne man nur ein vergängliches Ich oder ein unpersönliches Selbst. Mit Hilfe der christlichen Kategorien hoffe der Inder mit der Realität der Materie fertig zu werden.

LeerDie Schuld, die der abendländische Christ trägt, darf nicht verwechselt werden mit dem Schuldkomplex, den man heute oft antrifft und der in Wirklichkeit ein Hochmutskomplex ist. Hier ist vor allem der Kolonialkomplex zu nennen. Der Salzburger Historiker Professor von Randa entzerrte das Bild, das wir von der Conquista haben und stellte der Kolonialverwaltung der Casa d'Austria ein ehrenvolles und schönes Zeugnis aus. Zwar lebten die ersten Conquistadoren noch in den Vorstellungen, die sich in den jahrhundertelangen Glaubenskämpfen mit den Mauren herausgebildet hatten, sie glaubten zunächst, in „Westindien” Mohammedaner anzutreffen, und kannten, von dem barbarischen und grausamen Kult der Azteken abgestoßen, kein Mitleid. Aber schon bald griffen Männer der Kirche (Montesino, Las Casas) ein mit dem Erfolg, daß Karl V. verkündigte: „Es ist mein Wille, daß die Indianer frei seien und nicht versklavt.” Die Indianer besäßen ihr Land jure gentium, auf Grund des Völkerrechts. Ja, Karl wollte Peru wieder aufgeben, weil es ihm nicht gehörte, und behielt das Land schließlich nur um der getauften Indios willen, die sonst umgebracht worden wären. Als ein Beispiel für die soziale Gesetzgebung des Hauses Österreich sei hier nur der 1593 eingeführte Acht-Stunden-Tag genannt.

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LeerKennzeichnend für das europäische Erbe ist zweifellos die ratio, jene Bemächtigung der Welt durch begriffliches Denken, die nach Wilhelm Stählin dazu geführt hat, daß man Europäisierung geradezu mit Rationalisierung gleichsetzen kann und daß die ratio zum eigentlichen Exportartikel Europas geworden ist. Der Altbischof beschrieb die ratio als eine Form menschlichen Denkens, die definierend Begriffe gewinnt, im Gegensatz zum mythisch-symbolischen Denken das Subjekt-Objekt-Schema anwendet und sich logischer und kausaler Kategorien bedient. In ihrer Unduldsamkeit und mit dem Anspruch, für alles zuständig zu sein, übersieht die ratio, daß sie nur an das heran kommt, was sich begrifflich fassen läßt. Andererseits nimmt sie den Menschen in die hohe und strenge Schule der Sachlichkeit und verhilft ihm zu jener Klarheit und Nüchternheit, die er für seine Selbstbehauptung braucht. Sie ist auch die Wurzel der Technik und ihrer großen Erfolge.

LeerAber gerade der Erfolg der Technik hat zum Machtrausch der ratio geführt. Wo das Mittel zum Zweck wird, zerstört der Zweck sich selber. Eine durchrationalisierte Sprache zum Beispiel ist keine Sprache mehr und ihre Eindeutigkeit ein sehr fragwürdiges Ideal. Die ratio verträgt nicht das menschliche Du, und die Rationalisierung der erotischen Beziehungen zerstört die Liebesfähigkeit. Das Paradies der Ratio ist die Diskussion. Ihre Ohnmacht aber tritt besonders in der Gotteserkenntnis zu Tage. Wer auf ihrem Boden steht, muß der Gottlosenpropaganda rechtgeben, teilt die Voraussetzungen des Kommunismus und lehnt als Aberglauben ab, was mit der rationalistischen Theologie nicht zu fassen ist. Die Freiheit von den kosmischen Mächten, welche die ratio dem Christentum verdankt - darf nicht die Leugnung dieser Mächte zur Folge haben. Sonst werden wir dem komplexen Charakter der Welt nicht mehr gerecht und bringen uns um ihre Tiefendimension. Der Vortrag Stählins bildete den Höhepunkt der Tagung und erntete bei den evangelischen und katholischen Hörern reichen Beifall.

LeerWeitere Redner behandelten die praktischen Fragen der politischen Verantwortung Europas und der Entwicklungshilfe, die nicht nur in Sachgütern, sondern auch in human Investments bestehen müsse. So entschieden dieser Ausdruck abgelehnt wurde, der als solcher ein rationalisiertes Menschenverständnis verrät, so sehr wurde die menschliche Hilfe betont, die Europa zu leisten hat.

LeerUnsere Vorfahren bannten die heidnischen Dämonen im Bilde an die Portale ihrer Kirchen. Sie haben sie gebändigt und dienstbar gemacht. Der Dämon, der heute in Europa umgeht, ist die ratio: ein Menschen fressendes Ungeheuer, wenn sie sich emanzipiert, ein Engelwesen, wenn man sie in den Dienst Christi stellt.

Quatember 1963, S. 82-83

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-13
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