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von Wilhelm Stählin |
Das Wort „Heiden” ist in der Überschrift dieser Betrachtung in Anführungszeichen gesetzt, weil sich im christlichen Sprachgebrauch mit diesem Wort nur allzuleicht der Unterton eines Mangels an religiöser Einsicht und an sittlicher Bildung, also einer gewissen Unvollkommenheit und Minderwertigkeit verbindet; diese Wertung oder vielmehr Nicht-Wertung der „Heiden” klingt deutlich auch aus Sätzen wie Matthäus 6, 7. 32 (= Luk. 12, 30) heraus, wo der Herr seine Jünger davor warnt, wie die „Heiden” nach der Sicherung des irdischen Lebens zu trachten und Gott mit wortreichen Gebeten zu bestürmen. Es ist darum auch bedenklich, wenn das griechische Wort ethne zumeist mit „Heiden” übersetzt wird, weil damit zunächst einfach die ganze Völkerwelt außerhalb Israels bezeichnet wird, ähnlich wie für die Griechen alles Nicht-Griechische als „barbarisch” galt; freilich so wie hier die Nähe oder Ferne zu der Welt griechischer Kultur eine stark empfundene Grenze bildete, so hatte für Israel, wahrscheinlich noch mehr für das späte Judentum, diese Grenze einen religiösen Charakter. Die „Völker” hatten keinen Anteil an der Gottesoffenbarung, deren das Volk Israel gewürdigt war und deren Bewahrung für das Judentum der Sinn seiner geschichtlichen Existenz war. Diese Grenze gegenüber den „Heiden” hat auch Jesus empfunden. Er verweigert der Frau aus der Gegend von Tyrus und Sidon, dem „kanaanäischen” Weibe, die erbetene Hilfe, weil seine Sendung nur den verlorenen Schafen aus dem Haus Israel gelte (Matth. 15, 24), und genau dem entsprechend weist er in der großen Aussendungsrede seine Jünger an, nicht „auf der Heiden Straße” oder „in die Städte der Samariter” zu gehen (Matth. 10, 5). Aber gerade auf diesem Hintergrund hat es nun seine besondere Bedeutung und Wichtigkeit, daß diese Grenze auch überschritten werden kann und mit vollem Bewußtsein überschritten wird. Das geschieht zunächst im äußerlichen Sinn und mehr oder weniger freiwillig. Vor der persönlichen Gefährdung, die ihn von selten seiner jüdischen Gegner bedroht, entflieht Jesus in die „heidnische” Gegend von Tyrus und Sidon (Matth. 15, 21), und gerade dort, jenseits der Grenze, kommt es zu jener Frage an seine Jünger, wer er selbst denn sei, und zu jenem entscheidenden Gespräch mit Petrus, dem ersten Bekenntnis zu ihm als dem Messias und zu der Antwort, in der Petrus als der Fels bezeichnet wird, auf den Er seine ekklesia bauen wolle (Matth. 16,13 ff.). Weil die Ortsangaben (besonders im Johannes-Evangelium, aber auch in den drei ersten Evangelien) fast immer sehr hintergründig sind und mit dem, was gerade an diesem und keinem anderen Ort sich ereignet hat, einen geheimnisvollen Zusammenhang haben, so ist es auch nicht zufällig, daß dieses entscheidende Bekenntnis, mit dem die Schranke der jüdischen Messias-Erwartung zum ersten Male durchbrochen wird, außerhalb des von diesem Volk bewohnten Gebietes laut geworden ist. Wer gelesen hat, was Paul Tillich anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 23. September 1962 in Frankfurt über die Bedeutung der Grenze gesagt hat, wird keinen Augenblick über die Tragweite einer solchen Grenzüberschreitung im unklaren sein. Etwas Ähnliches ereignet sich in der Begegnung mit dem Centurio der römischen Besatzungstruppe, den wir als den „Hauptmann von Kapernaum” kennen (Matth. 8, 5 ff.; vgl. Luk. 7, 2 ff.). Er bittet den Herrn (oder läßt ihn bitten) um Hilfe für seinen todkranken „Knecht”. (In dem parallelen Bericht in Joh. 4, 47 ff. ist es der Sohn des Hauptmanns, bei Lukas eindeutig der Diener, während das Wort, das Matthäus gebraucht, pais, sowohl den Sohn wie den Diener bezeichnen kann.) Der Herr heilt den Kranken durch sein bloßes Wort, ohne in das Haus jenes Hauptmanns zu gehen. Dieser „heidnische” Offizier ist einer zwiefachen Ehre teilhaftig geworden. Der Herr ist so stark berührt von dem Vertrauen dieses Mannes, daß er in den Ruf ausbricht, dessen wehmütiger Unterton nicht zu überhören ist: „Wahrlich, solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden” (Matth. 8, 9 f.). Daß dieser Hauptmann sehr unvollkommene religiöse Vorstellungen gehabt haben mag, daß er von Mose und den Propheten, selbst von den 10 Geboten wahrscheinlich nichts wußte, und daß er sein rührendes Vertrauen nur in einer fast kindlichen Weise, in den Begriffen, die ihm von seinem Kasernenhof her nahelagen, aussprechen konnte, spielt gar keine Rolle gegenüber diesem elementaren Vertrauen auf die überlegene Macht und Güte, die ihm begegnet war. Wenn es so steht, wo ist dann die Grenze zwischen dem Volk der Offenbarung und denen „draußen” vor dem Tor des Heiligtums? Diese entscheidende Erfahrung entlockt dann dem Herrn jene, alle Grenzen - nur nicht die eine Grenze des Vertrauens! - auflösende Verheißung und Drohung: „Viele werden kommen vom Morgen und vom Abend und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich sitzen; aber die Kinder des Reichs werden ausgestoßen in die Finsternis hinaus” (Matth. 8,11 f.). Das andere, das fast noch Erstaunlichere, ist: Das demütige Wort jenes Hauptmanns „Herr, ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehest; aber sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund” wird mit einer ganz leisen Änderung in der Ordnung der römischen Messe - und nicht nur der römischen Messe! - vor dem Empfang der gesegneten Speise dreimal wiederholt. Welche seltsame Ehrung für den heidnischen Hauptmann! Wieviel mehr gilt also das kindliche und unbedingte Vertrauen als alle Unterschiede der frommen Vorstellungen und Gebräuche! Im 12. Kapitel wird erzählt von „Griechen” (das heißt wohl jüdischen „Proselyten”, die ihrer Volkszugehörigkeit und Sprache nach Griechen waren), die bei einem Festbesuch in Jerusalem den Wunsch äußerten, Jesus zu sehen. Jesus scheint auf diese Bitte, die ihm von den beiden Jüngern Philippus und Andreas vorgetragen wurde, überhaupt nicht zu achten; aber was er dann, scheinbar ohne jeden Zusammenhang mit jener Bitte, sagt (12, 23 ff.), scheint doch in einer besonderen Weise zu jenen Griechen gesagt zu sein. Es ist schwer zu entscheiden, ob das Wort von dem Weizenkorn, das in die Erde gelegt wird und „ersterben” muß, damit es fruchtbar werde, im Gegensatz zu der hellenischen Verherrlichung des gesunden und schönen Menschenleibes und der damit überhaupt zusammenhängenden Lebensgläubigkeit gesprochen ist oder ob es umgekehrt jene Festpilger erinnern soll an das innerste Geheimnis der griechischen Mysterien, bei denen es immer um das Geheimnis des Todes und um das nur durch ein Sterben zu erringende Leben gegangen ist und bei denen auch das Weizenkorn, das sich in die Erde gelegt zur vollen Ähre entwickelt, eine entscheidende Rolle gespielt hat. In beiden Fällen war das Wort Jesu in einer besonderen Weise zu den Griechen gesagt, ohne den leisesten Versuch, sie als Außenseiter zunächst mit einigen religiösen Grundbegriffen aus der Welt der israelitischen Offenbarung vertraut zu machen. Die Grenze ist nicht nur überschritten, sondern sie ist einfach nicht da. Es muß erlaubt sein, in diesem Zusammenhang auch an das Gespräch Jesu mit seinem Richter, dem „Landpfleger” Pontius Pilatus, zu erinnern, wie es uns im Johannes-Evangelium (18, 33 ff.) überliefert es. Oswald Spengler hat seinerzeit gemeint, in diesem Gespräch seien „Wirklichkeit und Wahrheit” aufeinandergestoßen; als ob nicht auch die Wahrheit, von der Jesus zeugen will, und das Reich, das nicht von dieser Welt ist, eine Wirklichkeit wäre, wenn auch eine Wirklichkeit höherer Art und Ordnung! Wenn man an jene klugen, nüchternen, etwas mißtrauischen Köpfe denkt, die uns in den Sammlungen römischer Porträtbüsten anblicken, dann versteht man unmittelbar, daß aus einem solchen Munde die skeptische Frage kommen kann: „Was ist Wahrheit?” Mit dem Tod und der Auferstehung Jesu ist nicht nur das Grab gesprengt, in das der Leichnam Jesu gelegt war, sondern auch die Grenze gegenüber der ganzen Völkerwelt außerhalb der biblischen Offenbarung, und nur weil diese Grenze schon in dem Erdenleben Jesu deutlich überschritten war, konnten die Jünger es als die Weisung des Auferstandenen verstehen und annehmen, daß sie „in alle Welt” hinausgehen und alle Völker - auch die sogenannten Heiden - in die Jüngerschaft Jesu hineinziehen sollten (Matth. 28,19 f.). Und wenn die erste Christenheit sich als Kirche aus Juden und Heiden verstand und darüber Gott pries, daß er den „Zaun” zwischen beiden hinweggenommen hatte (Eph. 2,14), wie hätten wir dann das Recht, neue Zäune aufzurichten an einer Grenze, die Gott selbst längst überschritten und überwunden hat? Quatember 1963, S. 108-111 |
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