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Helsinki - Meilenstein oder Endstation des Weltluthertums ?
von Hans Joachim Thilo

LeerEs war nicht nur die Hitze der hochsommerlichen Tage, die in der finnischen Hauptstadt die beinahe achthundert Delegierten aus wirklich allen Teilen der Erde zum Schwitzen brachte. Was sich da im Plenarsaal der Universität und noch mehr in den Sektions- und Diskussionsgruppen tat, war wahrlich angetan, die drückende Schwüle des so unfinnischen Wetters noch zu vermehren. Seit Neu-Delhi war innerhalb des Lutherischen Weltbundes, der hier seine 4. Vollversammlung vom 30. August bis 11. September abhielt, die Frage nicht mehr verstummt, ob denn im sogenannten ökumenischen Zeitalter konfessionelle Weltbünde noch Existenzberechtigung haben. Noch lag einem Teil der Delegierten der Mahnruf einiger junger Kirchen aus Neu-Delhi im Ohr, die - anspielend auf die neutestamentliche Situation zwischen Juden- und Heidenchristen - ihren eigenen Weg gefordert hatten, der oft allzukühn und diskontinuierlich jede Verbindung zur Geschichte der Lutherischen Kirchen abbrach. Aber es waren ja keineswegs kirchenpolitische oder konfessionstaktische Überlegungen, die nach Helsinki geführt hatten

LeerLutherische Kirche vermag nur zu verstehen, wer ihren Herzschlag für das spürt, was die Väter die „reine Lehre” genannt haben. Ihr Mühen, aus der Unverbindlichkeit sentimentaler und personal geprägter theologischer Aussagen herauszukommen, ihr Abwehrkampf gegen alle Schwärmerei zu allen Zeiten, ihr Wille, im besten Sinne des Wortes Kirche zu werden, alles das stand dahinter, als die theologische Kommission in der Genfer Zentrale den Nationalkomitees vor Jahren vorschlug, das reformatorische Zentraldogma von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben zum Thema der vierten Vollversammlung zu machen. Nun sollte aber gerade das nicht so geschehen, als ob man Formulierungen des 16. Jahrhunderts aufwärmen und als alte Ladenhüter neu in das Schaufenster modernen kirchlichen Angebotes stellen wollte. Es ging vielmehr allen Ernstes um die Zentralfrage, ob und in wie weit Luthers Grundlehre noch heute die der Lutherischen Kirchen in der Welt des zu Ende gehenden zweiten Jahrtausends sein könnte. Es ging also um eine weit vielschichtigere und weit radikalere Frage, als es den meisten Besuchern bei Konferenzbeginn klar war. Wenn nun heute die Pressestimmen ein wenig altklug hervorheben, man habe sich mit eben dieser Fragestellung übernommen, so sollte doch auch einmal der Mut und das Verantwortungsbewußtsein gewürdigt werden, sich einem solchen Thema gestellt zu haben. Es waren gerade die beiden römisch-katholischen Beobachter, die offiziell an der Konferenz teilnahmen, die in einer vielbeachteten Pressekonferenz diesen Punkt in die Debatte warfen. Das ökumenische Gespräch steuert mit aller Deutlichkeit hin auf die Fragestellungen der Ecclesiologie. Hier fallen die eigentlichen Entscheidungen. So gesehen, war Helsinki eine eminent ökumenische Konferenz, denn sie wagte, an die Grundlagen der Ecclesiologie heranzugehen.

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LeerHat die Konferenz ihr Ziel erreicht? Hat sie unter dem Gesamtthema „Christus heute” eine Neuformulierung der alten Wahrheit erreicht? Hat sie dem Menschen in der Säkularisation eine ihm verständliche und ihn fordernde Antwort geben können? Die Antwort ist eindeutig: Nein, das hat sie nicht gekonnt. Wir saßen an einem Abend zusammen, Pfarrer aus fünf Nationen und fragten uns, was wir in unseren Gemeinden oder in den uns anvertrauten Arbeitsbereichen der Kirche nach Helsinki nun wohl anders und besser tun könnten. Wir konnten hierauf keine Antwort finden. Das wird sicherlich manche Beobachter und Pragmatisten zu der Äußerung veranlassen, daß damit das Urteil über die Konferenz gefallen sei. Ich würde dem leidenschaftlich widersprechen.

LeerWeltkonferenzen haben es an sich, daß sie sich oft anders entwickeln, als ihre Erzeuger wollten. Das ging dem Weltrat der Kirchen in Amsterdam und Evanston so, das passierte dem Lutherischen Weltbund in Lund und nun wieder in Helsinki. Die eigentlichen Schwerpunkte der Konferenz verschoben sich von Tag zu Tag. Es kriselte zum ersten Male, als bei Konferenzbeginn über die Aufnahme der kleinen lutherischen Kirchen aus dem politischen Raum der UdSSR entschieden werden sollte. Die jeweiligen Exilkirchen hatten anläßlich der zweiten Weltkonferenz für Soziale Verantwortung, die eine der Vorkonferenzen für Helsinki war, in Stockholm alle nur möglichen Hebel in Bewegung gesetzt, um diese Aufnahme zu verhindern. Es gelang erfreulicherweise nicht. Mit nur dreizehn Gegenstimmen bekannte sich das Plenum zu den Konsequenzen des dritten Glaubensartikels und vollzog damit eine erste Weichenstellung. Es war grünes Licht für eine evolutionäre Haltung der Konferenz gegeben. Am nächsten Tage aber kam die Weichenstellung in die andere Richtung. Nach Professor Gloeges mutigem Vortrag „Gnade für die Welt”, der die Rechtfertigungslehre aus ihrer individualistischen Einseitigkeit herausholen sollte, zeigten die ersten professoralen Kommentare, wohin der Weg gehen würde.

LeerUnd nun muß einfach rund heraus gesagt werden, daß es eine oft unerträgliche theologische Beckmesserei bestimmter Theologen gewesen ist, die der Konferenz den inneren Schwung und den Mut zum Wagnis zerschlagen hat. Bis dahin, daß die Schlußsitzung das theologische Hauptdokument über die Rechtfertigung im Lichte des Zentralthemas „Christus heute” an die theologische Kommission zurück verwies. Ich hätte etwas darum gegeben, zu wissen, was in diesem Augenblick in Bischof Liljes Kopf für Gedanken waren. Er war in diesen zwei Wochen die treibende Kraft der Konferenz gewesen. Er sah von Anfang an die großen Gefahren, die als theologische Reaktion und Stagnation aus solcher Haltung heraus kommen mußten. Aber - und das ist wiederum typisch für diese Konferenz gewesen - wenige Minuten später nahm das gleiche Plenum ohne Gegenstimmen das nun wirklich ausgezeichnete „Grußwort” an, das alles das enthält, was die theologische Reaktion der Tagung in dem Diskussionsbericht „Christus heute” meinte ablehnen zu müssen. Da heißt es: „Der Mensch von heute fragt nicht mehr: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Er fragt radikaler, elementarer, er fragt nach Gott schlechthin: Wo bist Du Gott?” Da wird dann endlich formuliert: „Wir müssen den neuen Strukturen der Gesellschaft aufgeschlossen gegenüberstehen und unsere organisatorischen Formen im Lichte dieser neuen Entwicklung kritisch überprüfen (!!)” Da heißt es weiterhin: „Theologische Schulmeinungen, liturgische und kirchliche Formen sind in bestimmten geschichtlichen Situationen entstanden und haben am Aufstieg und Niedergang der Geschichte teil.” Das sind beachtliche Worte, die mehr über den Stand des heutigen Luthertums aussagen, als die nicht sehr greifbaren „Ergebnisse” der Tage von Helsinki.

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LeerWie immer in solchen Konferenzen, geschah das Eigentliche nicht im Plenum, sondern in den Gruppen und Sektionen. Um den Weg der Diakonie war schon in der Vorkonferenz in Stockholm hart gerungen worden. Hier ging es weiter. Die bisherige Kommission „Innere Mission” wird nicht weiter bestehen, sondern in erweiterter Form, vor allem unter stärkerer Einbeziehung der Gesellschaftsdiakonie, in der großen Abteilung „World Service” verankert werden.

LeerHat Helsinki konzilähnlichen Charakter? Das war eine oft gehörte Frage. Nach wie vor kann sich das Luthertum den Weg zur Einheit der Kirche nur über die Einheit der Lehre vorstellen. Man sollte das nicht voreilig mit „Konfessionalismus” abtun. Wer bereit ist, den Anglikanern und den Orthodoxen zuzugestehen, daß sie ihre Kirchen als Lehr- und Bekenntnisgemeinschaften ernst nehmen, hat keinen Grund, den Lutheranern das gleiche Anliegen zu verargen. Darum scheint mir die Frage, ob der Lutherische Weltbund mehr als ein „Bund” ist, theologisch durchaus legitim. Man sollte auch nicht so vorschnell mit dem ökumenischen Schlagwort von der „Superkirche” bei der Hand sein. Wann beginnt eigentlich eine Superkirche? Beim Zusammenschluß von 10 Gemeinden? Oder bei der Vereinigung von drei Kirchen? Sind die Kirchen des amerikanischen Luthertums und die VELKD nun „Superkirchen”?

LeerEs bleibt eine offene Wunde am Corpus Christianum, wenn Kirchen gleichen Bekenntnisses keine Abendmahlsgemeinschaft miteinander haben. Das kann nicht angehen. Weil aber nun eben Abendmahlsgemeinschaft die volle Kirchengemeinschaft bedingt - jedenfalls nach lutherischer Auffassung - darum ist in Helsinki mit Ernst nach der organisatorischen Form gefragt worden. Gerade wir sollten dafür viel Verständnis haben, die wir unter der Formlosigkeit des herkömmlichen Protestantismus leiden. Aber hier steht auch die Kernfrage: Meilenstein oder Endstation. Es ist in Helsinki den lutherischen Kirchen nicht gelungen auf dem Wege des verbindlichen Lehrgesprächs zur Frage der Einheit des Luthertums etwas Konkretes auszusagen. Es hat sich im Gegenteil ergeben, daß noch nicht einmal in einer so einhellig reformatorischen Lehrfrage, wie in der der Rechtfertigung, gemeinsam akzeptierte Formulierungen gefunden werden konnten. Das ist unendlich belastend.

LeerDie Einheit der lutherischen Kirche hat sich an einer ganz anderen Stelle in schlechthin überzeugender Form dargestellt: In den täglichen Abendmahlsfeiern, in den Stundengebeten und im gottesdienstlichen Handeln innerhalb der finnischen Gastkirche. Es ist heute so weit, daß lutherische Christen im Vollzug der Liturgie sich in ihrer Kirche überall zu Hause fühlen können. An dieser Stelle lag für mich das besondere Erlebnis und der Dank für die Tage von Helsinki.

Quatember 1964, S. 31-33

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-27
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