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Tragisches Geschick?
von Wilhelm Stählin

LeerAus einem Brief: Sie haben mir geschrieben, daß Sie Ihren Sohn durch einen tragischen Unglücksfall verloren haben, und so stand es auch in der Todesanzeige, die sie geschickt haben, zu lesen. Sie dürfen gewiß sein, daß ich mit herzlicher Teilnahme an den tiefen Schmerz denke, den dieser jähe Tod Ihnen bereitet. Aber Sie müssen mir doch die Frage erlauben, was das Wort „tragisch” in diesem Zusammenhang bedeuten soll. So weit ich Sie kenne, kann ich nicht glauben, daß Sie damit einfach eine konventionelle Redensart verwendet haben, ohne nach dem Sinn eines solchen Wortes zu fragen. Es ist freilich eine sehr verbreitete Gewohnheit geworden, das Wort „tragisch” einfach als einen gesteigerten Ausdruck für etwas zu gebrauchen, das sehr traurig und erschütternd ist. Daß wir immer wieder vor dunklen Rätseln stehen und selbst in Schicksale verstrickt sind, in denen wir keinen tröstlichen Sinn zu erkennen vermögen, wissen wir alle, und niemand soll dann mit raschen Deutungen sich und andere über die Unbegreiflichkeit solcher Schicksale beruhigen.

LeerAber es ist einfach ein Mißbrauch des Wortes tragisch, wenn man dann ein solches anscheinend sinnloses Geschehen als tragisch bezeichnet. Tragik ist nie ohne Schuld, und das tief Erregende eines tragischen Geschehens ist das Mißverhältnis zwischen der geringen Schuld und der grausamen Härte, mit der das Schicksal dann zuschlägt. Eine falsche Reaktion, ein unentrinnbarer Konflikt der Pflichten, in dem wir es so oder so nicht vermeiden können uns in Schuld zu verstricken, vielleicht sogar eine gute Absicht, die dann zum Bösen ausschlägt, eine gutmütige Hilfsbereitschaft, die an einen Unwürdigen und Bösen verschwendet worden ist, und der in solcher Weise schuldig gewordene Mensch erleidet dann ein Schicksal, das menschlich gesprochen in keinem Verhältnis steht zu dem, was ihm ernsthaft vorzuwerfen ist. Wer wollte bestreiten, daß solches tragische Mißverhältnis zu den Grunderfahrungen der Menschheit gehört und daß es also wohl zu verstehen ist, daß ein tragisches Lebensgefühl solche Verstrickungen in Schuld und Schicksal zu den Grundstrukturen der Welt überhaupt rechnet. Ich frage noch einmal, und da Sie ein Recht darauf haben, daß Ihre Worte ernst genommen werden, darf ich mir diese Frage wohl erlauben, ob der Unfall, dem Ihr Sohn zum Opfer gefallen ist, in diesem Sinn tragisch genannt werden kann. Ich begehre keinesfalls Einzelheiten zu erfahren, die mich nichts angehen, am wenigsten dann, wenn hier wirklich eine solche tragische Verkettung im Spiele sein sollte.

LeerAber wenn ich schon solche Fragen stelle, darf ich weiter fragen, ob es uns Christen überhaupt erlaubt ist, in diesem Sinn von tragischen Schicksalen zu sprechen. Nicht nur weil der Tod Christi selbst gewiß nicht tragisch genannt werden kann und weil durch Christus alles Leiden in der Welt in einen Zusammenhang gerückt ist, der jenseits von solcher tragischen Verstrickung liegt; sondern vor allem deswegen, weil wir durch Christus belehrt werden, nicht nach den Ursachen zu fragen, also auch, nicht nach dem Verhältnis einer etwa vorliegenden Schuld und ihrer erschreckenden etwaigen Folge, sondern vielmehr danach zu fragen, was nach Gottes Willen aus solchen Leiden erwachsen soll. Nicht warum, sondern wozu?! - Der Glauben, daß in allem, auch dem dunkelsten und unverständlichsten Schicksal Gott eine bestimmte Absicht hat, und zwar „Gedanken des Friedens und nicht des Leides”, erlaubt uns nicht mehr, von einem tragischen Geschick zu sprechen.

Quatember 1964, S. 142

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-29
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