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Die Seelenwaage
von Hans Carl von Haebler

SeelenwaageLeerDie Seelenwaage geht auf uralte Vorstellungen zurück. Im Buche Daniel lesen wir, wie der Prophet die unheimliche Schrift entzifferte, die an der Wand in Belsazers Königssaal erschien, und dem König das Urteil verkündete: „Man hat dich gewogen und zu leicht befunden” (5, 27). Noch älter ist das ägyptische Totenbuch mit der Schilderung des Totengerichts, bei dem der falkenköpfige Horus den Verstorbenen vorführt und der hundsköpfige Anubis ihm das Herz aus der Brust nimmt und auf die Waage legt. Der Geheimschreiber Thot verzeichnet dann auf einem Papyrus das Ergebnis, auf Grund von dem Osiris sein Urteil spricht. In dem jüdisch-christlichen Schrifttums Ägyptens scheint sich eine Erinnerung an das Totengericht erhalten zu haben. So heißt es in den christlichen Sibyllinen:

Wenn aber nun die unsterblichen Boten des ewigen Gottes
Michael, Gabriel kommen zusammen mit Raphael, Uriel,
die da wissen genau, was vordem Böses begangen
jeglicher Mensch, die führen sodann aus dem nebligen Dunkel
alle die Seelen zum Richterstuhle des großen ewigen Gottes und Herrn . . .
LeerVon der Seelenwaage ist hier freilich nicht die Rede. Statt dessen kämpfen die Engel mit den bösen Geistern um die Seelen der Verstorbenen, um diese dem „nebligen Dunkel” zu entreißen und vor Gottes Richterstuhl zu stellen, aber dieser Kampf, der hin und her geht, läßt uns nun doch wieder an das Schwanken einer Waage denken. So begeht auch die Kirche das Fest des Erzengels Michael und aller Engel im Sternbild der Waage, zur Zeit der herbstlichen Tag- und Nachtgleiche, in der die Ernte eingebracht wird und über die Waage geht und in der der Absterbe-Prozeß in der Natur beginnt.

LeerIn der christlichen Kunst finden wir die Seelenwaage zum ersten Male um das Jahr 1100 als Bestandteil des Jüngsten Gerichts. Wenn sie im ägyptischen Totengericht das Sinnbild einer nicht manipulierbaren Gerechtigkeit war, so scheint sie hier das Resultat eines Kampfes anzuzeigen. Auf unserem Bilde versuchen böse Geister das Wägeergebnis zu ihren Gunsten zu verfälschen. Ein Teufel wirft eine Kröte in die Waagschale. Ein zweiter hockt in ihr und sucht sie mit aller Gewalt niederzudrücken. Der Oberteufel hängt sich selbst an den Waagebalken, um ihn herabzuzerren, während er mit der Linken schon ein neues Opfer am Schopf packt. Mit weit aufgerissenen Mäulern brüllen und kreischen sie und erheben Anspruch auf die Seele, in der sie soviele böse Gedanken und Taten investiert haben. Wehe ihr, wenn sie jetzt angesichts ihrer Sünden verzweifelt, angesichts der Teufel und Kröten und der Schlange, die sich um das Gebein des Teufels windet und ihr entgegenzüngelt! Wehe ihr, wenn sie nicht Zuflucht bei dem Engel findet, den Gott herabgesandt hat, um Seinen Willen zu vollstrecken!

Linie

LeerWer glaubt, weiß, daß alles Zerren und Kreischen der Teufel vergeblich ist. Die Waagschale mit der Seele - im Bilde einer (stark beschädigten) kleinen Menschengestalt - senkt sich und wird von dem Engel in Empfang genommen: Das Menschlein ist freigesprochen und wird seinem Vorgänger folgen, der sich bereits, sichtlich entlastet, mit ausgebreiteten Armen gen Himmel bewegt. Ein zweiter Engel, der an den Geheimschreiber Thot erinnert, überbringt das in einem Buche eingetragene Wägeergebnis dem Weltenrichter.

LeerWie kommt es, daß die Waagschale mit der Seele des Menschen herabgesunken ist, obwohl die Teufel alle ihre Gegengewichte, große und kleine Laster und Unterlassungen des Verstorbenen, in die Gegenschale geworfen haben? Die Herabkunft des Engels, in der sich die Gnade des Weltenrichters ausdrückt, hat das Wunder vollbracht. Die Gnade wiegt schwerer als das Recht, das vor Menschen gilt und das die Teufel zu beugen suchen.

LeerIn dem wägenden Engel hat man von Alters her den Erzengel Michael gesehen. (K. Künstle irrt, wenn er in seiner Ikonographie meint, die Identifizierung sei erst im 15. Jahrhundert erfolgt. Ich habe im Museum zu Pisa ein ikonenartiges Bild des wägenden Engels gesehen, das aus dem 13. Jahrhundert stammt und mit dem Namen Michael versehen ist; und das wird nicht das erste gewesen sein.) Die Bibel liefert keinen Anhaltspunkt dafür, aber deutet nicht der Name des Erzengels (= Wer ist wie Gott?) darauf hin, daß er eine wägende Funktion hat? Aus einem mechanischen Vorgang ist eine persönliche Entscheidung geworden, die Gott durch seinen Engel, und das heißt in souveräner und doch jeder einzelnen Seele gerecht werdender Weise trifft. Daß der Engel nicht eigenmächtig handelt, sondern im Auftrag Gottes amtiert, ergibt sich aus der Gesamtkomposition des Bildwerks, von dein wir hier nur einen Ausschnitt bringen können, insbesondere aus der ausgestreckten Linken des Weltenrichters, die auf den Engel hinweist und sich geradezu in ihn hinein verlängert.

LeerDer Gegensatz zwischen der linken und rechten Bildhälfte springt in die Augen. Hier das lärmende, drohende Manipulieren und Zähnefletschen furchterregender Dämonen, deren maskenhafte Fratzen und knitterige, morsche Knochen vom Tode gezeichnet sind, dort die lebendige Anmut der Diener Gottes! Dort der Engel, in dem die Gnade Gottes sich herabläßt, hier der Teufel, der von dem Waagebalken in die Höhe geschnellt wird und dazu beitragen muß, das Gewicht der Gnade zur Anschauung und zum Bewußtsein zu bringen!

Quatember 1964, S. 145-146

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-29
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