In der Agende und dem Festtagskalender der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche ist, ebenso wie in den von unserer Bruderschaft herausgegebenen Büchern, der „Lesung für das Jahr der Kirche” und der Ordnung der „Eucharistischen Feier”, eine besondere Gottesdienstordnung und eine besondere Lesung für den 1. November als den „Gedenktag der Heiligen” vorgesehen. Es ist aber eine offene Frage, ob unsere Gemeinden bereit und willens sind, diesen Gedenktag in ihr Bewußtsein und in ihre kirchliche Sitte aufzunehmen. Die „Heiligen-Allergie” - wie der Schriftleiter im Osterheft unserer Blätter mit Recht die protestantische Empfindlichkeit gegen jede Erwähnung der Heiligen genannt hat - ist zu stark, als daß dieses reformatorische Erbe mit Wissen und Willen gewahrt werden könnte. Denn das Gedächtnis aller Heiligen gehört in der Tat zu dem Erbe der Reformation. Wer jede Verehrung der Heiligen für eine der evangelischen Christenheit nicht geziemende „katholisierende Neigung” hält, lese Artikel XXI der Augsburgischen Konfession, wo es ausdrücklich heißt, daß man der Heiligen gedenken soll, auf daß sie unseren Glauben stärken, so wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren, auch wie ihnen durch Glauben geholfen. Und er überzeuge sich etwa aus dem Buch meines Schülers Robert Lansemann über „Die Heiligentage, besonders die Marien-, Apostel-und Engeltage in der Reformationszeit” (Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1939), welche Rolle die Gedenktage der Apostel, Märtyrer und Heiligen in den Kirchenordnungen und Postillen des 16. Jahrhunderts gespielt haben. Freilich hat schon im 16. Jahrhundert der notwendige Protest gegen die Abgötterei, zu der die Verehrung der Heiligen im Hohen Mittelalter entartet war (sie war und ist in romanischen Ländern bisweilen nichts anderes als ein unter christlichem Namen fortwirkender Polytheismus), dazu geführt, daß auch eine evangelisch verstandene Verehrung der Heiligen praktisch verfiel und der Raum, in dem in einem christlich verstandenen Kosmos die Heiligen ihren Ort haben, entleert wurde und leer blieb.
Ohne Zweifel wird im Neuen Testament die Bezeichnung der „Heiligen” auf alle Christen angewendet (Kol. 3, 12 u. ö.), weil sie zu dem heiligen Volk gehören, das heilig ist, weil Gott, der Heilige, seine Hand darauf gelegt hat (3. Mose 19, 2); das entspricht dem umfassenden Begriff der Heiligkeit, der allem zukommt, was Gott zugehört, was Gott erwählt und zu seinem Eigentum gemacht hat. In diesem Sinn hängen die neutrische und die maskulinische Bedeutung des Genitivs in dem Bekenntnis zur communio sanctorum unauflöslich zusammen, weil die sancti eben diejenigen sind, die an den sancta, an der in Christus erschlossenen Dimension des Heiligen, Anteil haben (2). Aber das hindert nicht, daß das gleiche Wort auch in einem engeren und spezifischen Sinn gebraucht wird, wie ja das Neue Testament auch einen engeren und weiteren Gebrauch des Wortes apostolos kennt, und das Priestertum, das allen Gläubigen zugesprochen wird (1. Petr. 2, 9), den priesterlichen Charakter des geistlichen Amtes in der Kirche keineswegs ausschließt. In diesem Sinn schreibt Max Thurian, der Subprior von Taizé: „Wir nehmen den Ausdruck ‚Heilige’ im Sinn des Evangeliums und meinen den an Christus Gläubigen, der seinem Leib eingegliedert und durch seinen Geist gereinigt ist. Indes ragen offensichtlich einige Gläubige durch ihre Berufung aus der gesamten Gemeinschaft der Heiligen hervor, um durch ihr Zeugnis zum Beispiel und Ansporn für die Kirche zu werden, zu einem besonderen Zeichen der allen Gläubigen gemeinsamen Heiligkeit.” Genau in diesem Sinn ist es gemeint, wenn die Augsburgische Konfession an der vorhin schon erwähnten Stelle zur Verehrung der Heiligen, zum cultus sanctorum aufruft.
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Das verdienstvolle Buch von Walter Nigg über die Großen Heiligen hat die Aufmerksamkeit besonders auf etliche geschichtliche Gestalten gerichtet, in denen jene Heiligkeit in einer außerordentlichen Weise verwirklicht war. Diese Erinnerung ist um so nötiger, als im Protestantismus eine starke Neigung vorhanden und wirksam ist, das Recht des Außerordentlichen und Außergewöhnlichen zugunsten des Normalen und Alltäglichen zu unterschätzen. „Gegenüber jenem Menschen, der darauf ausgeht, das Ewige, Unentbehrliche problematisch zu machen und es als das scheinbar Unmögliche hinzustellen, steht der Heilige für die absoluten Werte ein, die nicht der skeptischen Fäulnis anheimgegeben werden dürfen. Mit einer göttlichen Erleuchtung tritt er als der unbedingte Mensch dem Dämon der Zersetzung entgegen” (Walter Nigg). Aber jene großen Heiligen, bei denen es dem Heiligen Geist gefallen hat, sich in einer außerordentlichen Weise zu manifestieren, dürfen den Blick nicht versperren auf jene „kleinen Heiligen”, die keine religiösen Genies gewesen sind, die keine andere Nahrung kannten als das trockene Brot von Glaube und Gehorsam (Ida Friederike Görres). Gerade diese „kleinen Heiligen”, deren Namen kaum oder gar nicht bekannt ist, können uns davor bewahren, das Wesentliche an den Heiligen in dem Außerordentlichen und Ungemeinen zu suchen und darüber zu vergessen, daß die Heiligen Gottes oft sehr angefochtene Menschen mit großen Versuchungen und Schwächen gewesen sind, bisweilen sehr wunderliche Menschen, von denen wir nicht einmal mit Sicherheit sagen können, ob sie nicht vielleicht den Ruf Gottes, durch den sie sich zu solchen außerordentlichen Formen der Frömmigkeit getrieben fühlten, mißverstanden haben.
Darum ist uns die offizielle Heiligsprechung durch eine für ein solches Verfahren zuständige Instanz eine mehr als fragwürdige und bedenkliche Sache. Wir dürfen nicht vergessen, daß die wirklichen Heiligen in großer Demut gelebt haben, daß sie eher die Niedrigkeit und Verborgenheit als den Ruhm der Welt oder den Ruhm der Kirche gesucht haben. Wahrscheinlich würden die wirklichen Heiligen sich am meisten darüber wundern und dagegen wehren, daß sie in diesem besonderen Sinn als Heilige eingestuft werden. Diese Bedenken bestehen zweifellos zu Recht. Auf der anderen Seite hat gewiß auch Hans Asmussen recht, wenn er mit Bezug auf die Seligpreisungen, die der Herr Christus ausgesprochen hat, sagt: „Es ist ein Stück der Ehre, die wir unserem Herrn schuldig sind, daß wir ihm zutrauen, er werde sich auf dieser Erde so herrlich erweisen, daß die christliche Gemeinde die Gefäße der Gnade auch als solche erkennt.” Wenn die Seligpreisungen für uns nicht den Charakter eines allgemeinen Ideals haben sollen, dann muß die Kirche die Möglichkeit und Vollmacht haben, die Seligkeit und Heiligkeit der christlichen Existenz an bestimmten Menschen zu erkennen und in der gleichen Konkretion auszusprechen, wie das in der Heiligen Schrift selbst in dem Wort der Elisabeth an die Mutter des Herrn (Luk. 1, 45) und in dem Wort des Herrn selbst an Petrus (Matth. 16, 17) geschieht.
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Die „Heiligen” - so verstanden - sind die ständige und immer neue Verleiblichung der christlichen Existenz, die Konkretisierung des Heiligen Geistes, und an ihnen kann die Fülle und Mannigfaltigkeit angeschaut werden, in der sich die Gnade Jesu Christi an Menschen und durch Menschen verherrlicht hat. So gewiß die Gestalten der Heiligen zu dem Bild der Kirchengeschichte gehören, so wenig erfüllt andererseits das Gedächtnis der Heiligen seinen Sinn in kirchengeschichtlichen Kenntnissen. Vielmehr schaut, liebt und verehrt die Kirche, indem sie ihrer Heiligen gedenkt, ihre eigene Wirklichkeit in einer Himmel und Erde umfassenden Weite. Wenn es von jedem christlichen Gottesdienst gilt, was wir bei der Feier der Messe sagen: „Siehe, mit uns feiert die ganze Kirche aus allen Völkern” (und nicht minder aus allen Zeiten), so ist offenbar der Gottesdienst, insbesondere die „Feier des Neuen Bundes”, der angemessene Ort für das Gedächtnis der Heiligen. Die Heiligen leben bei Gott und vor Gott, und man kann des zur himmlischen Herrlichkeit erhöhten Christus nicht recht gedenken, ohne ihn „inmitten seiner Heiligen” zu sehen, an denen er sich verherrlicht hat und in deren Mitte er herrlich erscheinen will (2. Thess. 1, 10). Wenn man meint, um der alleinigen Ehre Christi willen das Gedächtnis der Heiligen als bedenklich beiseitesetzen zu sollen, so trennt man das Haupt der Kirche von der Fülle seiner Glieder, man entleert den Himmel und verleugnet um einer angeblichen Unmittelbarkeit der Christusbeziehung willen die tröstliche Gegenwart der Seligen und Vollendeten, die in dem Raum zwischen Christus und seinen Gläubigen auf Erden, zwischen Gott und Menschen, nicht trennend, sondern verbindend leben.
Luther und die Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts haben keineswegs geleugnet, daß die Heiligen für uns beten und daß diese Fürbitte für uns ein Trost und eine wirksame Hilfe ist. Dabei darf man freilich nicht übersehen, daß das lateinische Wort, das in der deutschen Sprache mit „Fürbitte” wiedergegeben wird, intercessio, in seinem Wortsinn nichts anderes ausdrückt, als daß diese Fürbitter eben in dem Raum zwischen Himmel und Erde da sind, ich wiederhole: nicht trennend sondern verbindend, und daß dieses ihr „Dazwischensein” für uns ein großer Trost ist, so wie schon auf Erden das Dasein bestimmter Menschen, ganz abgesehen von dem, was sie sagen oder tun, eine echte Hilfe in unserem eigenen Dasein sein kann. Es ist ein kühnes Bild, wenn die Offenbarung St. Johannis (5, 8) wagt zu sagen, daß die „Brüder der oberen Schar” (wie Otto von Taube sein Buch über etliche dieser Gestalten genannt hat) unsere, der irdischen Menschen, Gebete als edles Räucherwerk vor Gottes Thron darbringen. Aber dieses biblisch legitime Bild drückt unter einem bestimmten Gesichtspunkt genau das aus, was das Gedächtnis der Heiligen für die Kirche bedeutet. Es besteht also keine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche in dem einen Punkt, daß das gottesdienstliche Gedächtnis der Heiligen in erster Linie die Gestalt des Gotteslobes hat. Gott wird gepriesen, daß er Menschen seine Gnade erzeigt und an ihnen seine Gnade mächtig erwiesen hat. Statt vieler Beispiele das Kollektengebet aus der Ordnung zum Gedenktag der Heiligen (aus der „Eucharistischen Feier”):
Heiliger, ewiger Gott, wir gedenken vor Dir der Wolke von Zeugen, die Du erweckt hast zu allen Zeiten und an allen Orten, und bitten Dich: schenke uns, daß wir durch ihr Zeugnis gestärkt in der Gemeinschaft Deiner Heiligen Dich loben und dereinst mit ihnen Deine Herrlichkeit schauen. -
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Daß wir dereinst mit all denen, die wir die Heiligen nennen, vor Gott vereinigt werden in dem gemeinsamen Lobpreis Gottes, gehört zu dem Hoffnungsziel, dem sich die auf Erden streitende und leidende Kirche entgegenstreckt. Dafür ist etwa auch das Lied von Johann Matthäus Meyfart ein unüberhörbares Bekenntnis, wo es von Jerusalem, der hochgebauten Stadt, als dem Zielpunkt unserer Sehnsucht und unserer Hoffnung heißt:
Propheten groß und Patriarchen hoch,
auch Christen insgemein,
die weiland dort trugen des Kreuzes Joch
und der Tyrannen Pein,
schau ich in Ehren schweben
in Freiheit überall,
mit Klarheit hell umgeben
mit Sonnenlichtern Strahl.
Und dieses Bild der Heiligen als der vollendeten Kirche sollte, so oft wir dieses Lied singen, ernster genommen werden, als es wohl zumeist geschieht.
Es bedarf freilich einer zwiefachen Voraussetzung, wenn dieses Gedächtnis der Heiligen für die Kirche wirklich fruchtbar werden soll. Die Fülle und Mannigfaltigkeit dieser von dem Geist Gottes erweckten und gewirkten Heiligkeit muß in konkreten Gestalten angeschaut werden, wenn sie nicht unter der Herrschaft eines protestantischen horror concreti (einer Angst vor jeder konkreten Aussage) in einer abstrakten und unanschaulichen Begrifflichkeit hängen bleiben soll. Das heißt: es bedarf einer Reihe von Namen, deren Träger als die Heiligen (vorsichtiger ausgedrückt, als Beispiel für die Heiligen) der christlichen Kirche angeschaut und verehrt werden sollen. Es liegt nahe, eine solche Namensreihe in der Form eines Kalenders aufzustellen, so daß jeder Tag einen bestimmten Namen dem Gedächtnis empfiehlt.
Als ich im Jahr 1924 das von Walter Kalbe begründete Jahrbuch „Das Gottesjahr” übernahm, gehörte zu dieser Erbschaft auch ein Namenkalender, der freilich alles andere eher als ein „Heiligen-Kalender” gewesen ist. Es waren zunächst geschichtliche Daten, zumeist ohne kirchliche Beziehung; ich schrieb damals, im Gottesjahr 1925: „Alle die Menschen und Ereignisse, an die sie (diese Namen) erinnern, sind alle in ihrer Weise . . . Offenbarungen des umfassenden Lebens, dessen vielgestaltigen Wechsel der Ewige in seiner Hand hält”, weil „Gott allerlei Menschen, auch die großen Ketzer, die eigenwilligen, bösen und feindseligen Menschen in seinem Weltenhaushalt braucht.” „Darum mag ich die wunderlichen Heiligen in meinem Kalender nicht missen, Friedrich Nietzsche, Ignaz von Loyola und Voltaire und Ferdinand Lasalle, neben Friedrich von Bodelschwingh und Angelus Silesius und Augustin und Jakobus.”
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Aber im Laufe der 15 Jahre, in denen ich dieses Jahrbuch mit seinem Kalendarium herausgegeben habe, hat sich dieser Namenkalender gründlich gewandelt und zwar mit innerer Notwendigkeit als ein Prozeß der „Verchristlichung”. Dieser damals begonnene Prozeß ist dann unter dem maßgebenden Einfluß unseres Freundes Jörg Erb (von dessen entscheidendem Beitrag hernach noch mehr gesagt werden soll) entschieden weitergeführt worden, und seit auch die Lutherische Liturgische Konferenz sich für diesen Namenkalender interessiert hat (1961), war der Gedanke, der 1924 noch kaum in unserem Gesichtskreis liegen konnte, daß es nämlich einmal einen offiziellen Namenkalender der evangelischen Kirche geben könne, nicht nur in erreichbare Nähe, sondern der Verwirklichung nahe gerückt. Ich entnehme dem am Eingang dieses Aufsatzes erwähnten (ungedruckten) Aufsatz von Jörg Erb einen Vergleich der Namen, der in einer unmißverständlich, ja geradezu grotesken Weise die Wandlung zeigt, die dieser Namenkalender im Lauf der Jahre genommen hat, oder richtiger gesagt: die an diesen in einer charakteristischen Weise sichtbar geworden ist:
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