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Monat und Zeitrhythmen
von Wilhelm Stählin

LeerIrgendjemand hat mir zu Weihnachten einen Kalender geschenkt mit sehr schönen Kunstblättern, für jeden Monat eines; oder vielmehr, ich habe gleich zwei solche Kalender bekommen, so verschieden, wie die beiden Menschen, die sie mir geschenkt haben; der eine Kalender bringt in trefflichen Wiedergaben Werke der christlichen Kunst, der andere in meisterhaften Farbfotos Bilder aus dem Schweizer Hochgebirge; und sie hängen nun in verschiedenen Räumen meines Hauses. Aber sie haben dieses gemein, daß sie eben je ein Blatt für jeden Monat bieten, und eben dies beeinträchtigt in der empfindlichsten Weise meine Freude an den schönen Blättern, obwohl natürlich die Geber entschieden die Absicht gehabt haben, mir eine Freude zu bereiten. Denn was soll ich mit einem solchen Monatskalender anfangen? Gerade an diesen Kalendern kommt mir wieder ganz unmittelbar zum Bewußtsein, wie wenig der Monat, dieses künstliche Gebilde der Kalendermacher, mit dem Rhythmus unseres Lebens zu tun hat. Am Monatsersten will ich gern meine Kasse in Ordnung bringen, bestimmte Zahlungen leisten und in meinem Kalender nachsehen, welche Geburtstage und andere Termine in dem neuen Monat zu beachten sind-, aber ein neues Bild zum Anschauen, einen ganzen Monat lang? Das neue Blatt gehörte zu den regelmäßigen Freuden des Sonntagmorgens, mit Spannung erwartet und zumeist mit Freude betrachtet und begrüßt-, und eine Woche ist gerade das rechte Zeitmaß, um mit einem solchen Bild vertraut zu werden, ohne daß die Dauer durch Langeweile den Reiz abstumpft; am Samstag freut man sich schon auf die Entdeckung, die am anderen Morgen erfreuen wird.

LeerAber ein Monat? Der Monat ist gar nichts, nämlich er ist nichts, an den natürlichen Ordnungen der geschaffenen Zeit gemessen, die keinen anderen Rhythmus kennt als den des Tages, der Woche und des Jahres. Der Monat ist auch keineswegs identisch mit dem Vier-Wochen-Rhythmus des Mondwechsels, der im Jahr nicht zwölf- sondern dreizehnmal wiederkehrt. Der Monat ist nützlich für alle möglichen praktischen Zwecke der Wirtschaft und dergleichen, aber es entspricht ihm nichts in dem echten Rhythmus, in dem natürlichen Zeitgefühl unseres Lebens. Ich habe es immer für einen bedenklichen Mangel an theologischer Einsicht gehalten, daß man aus rein praktischen Gründen auf den seltsamen Einfalt gekommen ist, Monatssprüche und Monatslieder, statt Wochensprüche und Wochenlieder zu erfinden; sie mögen für Zwecke des Lernens und des Einübens praktisch sein, weil man mit einer neuen Aufgabe in dem knappen Raum einer Woche vielleicht nicht fertig wird-, aber für den Gebrauch im Gottesdienst der Kirche und in der persönlichen Andacht sind sie schlechthin nicht zu brauchen oder doch nur für den, der sich von dem mechanistischen Gesetz des Kalenders, statt von seinem natürlichen Zeitempfinden beherrschen läßt. Vor vielen Jahren habe ich einen kleinen Aufsatz über diese Frage mit einem Satz geschlossen, den mir dann die Schriftleitung gestrichen hat, weil er ihr zu boshaft vorkam-, aber nun will ich ihn doch noch einmal schreiben und hoffe, daß er mir diesmal nicht weggeschnitten wird: Wer sich an der Verbreitung von Monatssprüchen oder Monatsliedern beteiligt, beteiligt sich an der Zerstörung der kirchlichen Ordnung. Ich würde es heute nur noch deutlicher und viel schärfer sagen: er beteiligt sich nicht nur an der Zerstörung kirchlicher Ordnung, sondern er zeigt, daß er selbst das Gefühl für schöpfungsmäßige Ordnung verloren hat, in der es eben schlechterdings keinen Monat gibt. - Das ist mir bei dem ehrlichen Versuch, diese beiden mir geschenkten Kalender lieb zu gewinnen, wieder unmittelbar und unwidersprechlich klar geworden. Und um dieser wertvollen Bestätigung einer wertvollen Einsicht willen bin ich den freundlichen Gebern doch herzlich dankbar.

Quatember 1964, S. 188-189

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-12-03
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