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Zum gegenwärtigen Gespräch mit dem Zen-Buddhismus
von Günter Howe

LeerDer nachstehende Vortrag wurde am 20. Februar 1963 in einem Seminar gehalten, das Professor Dr. Werner Kohler gemeinsam mit dem japanischen Abt Professor Hirata in Heidelberg durchgeführt hat. Es war vorgesehen, diesen Vortrag gemeinsam mit den übrigen Unterlagen des Seminars in einem Sammelband zu veröffentlichen. Da sich die Fertigstellung des Sammelbandes jedoch stark verzögert, hat Professor Kohler vorgeschlagen, den Vortrag vorweg im „Quatember” abzudrucken in der Hoffnung, daß er auch ohne den Kontext verständlich sein möchte.

I.


LeerDer Zweck der nachstehenden Überlegungen ist mehr ein praktischer als ein theoretischer. In früheren Zeiten war man es gewohnt, auf dem Missionsfelde mit der Begegnung jeweils zweier Partner, des Christentums mit einer der dort ansässigen Religionen, in unserem Falle also dem Zen-Buddhismus zu rechnen. In den letzten Jahrzehnten ist aber als dritter, übermächtiger Gesprächspartner die moderne säkulare Welt des Abendlandes hinzugekommen, die uns vor allem in ihrer Gestalt als physikalisch-technische Welt beschäftigen soll.

LeerDadurch ist nun wiederum eine wesentlich veränderte Gesprächssituation zwischen dem Christentum und den großen Religionen entstanden, die wir uns hier zunächst nur an einem Beispiel verdeutlichen wollen: Im CVJM hat man sich in Südamerika sehr schnell damit abgefunden, daß die örtlichen Gruppen bald zur Mehrheit aus Katholiken bestanden. Im Vorderen und Fernen Osten steht man aber oft genug vor der Lage, daß bis zu 90 Prozent der örtlichen Vereine aus Nichtchristen, Moslems, Hindus oder Buddhisten bestehen, und prinzipielle Schwierigkeiten sieht man nur noch in der Frage, ob auch Nichtchristen Leiter der örtlichen Vereine sein können. (Vgl. E. Müller-Gangloff „Gottes drittes Volk” 1961, S. 18.)

LeerWenn wir es unternehmen wollen, diese neue Gesprächssituation tiefer zu erkennen und für beide Seiten fruchtbar zu machen, müssen wir zunächst versuchen, den dritten Gesprächspartner, die physikalisch-technische Welt, in ihrer neuzeitlichen Entwicklung ein wenig schärfer ins Auge zu fassen.


II.


LeerWenn wir diese Welt als die cartesische bezeichnen, so soll das nicht bedeuten, daß wir nun einen einzelnen Menschen als den entscheidenden Verantwortlichen festnageln wollen, sondern wir meinen eine bestimmte Wirkungsgeschichte, von der wir nicht unterscheiden können, wie weit sie sich mit Recht oder mit Unrecht auf einen bestimmten Namen beruft.

LeerWir beschreiben zunächst die für uns wichtigsten Positionen:

Leer1. Der Glaube an die absolute Objektivierbarkeit der Welt, wie er in der klassischen Physik seine wirksamste Ausprägung gefunden hat und durch den in der technischen Welt alles Seiende zum Material der Arbeit, zum Gegenstand der technischen Weltbemächtigung geworden ist. Der Glaube an die Machbarkeit aller Dinge hat sein wirtschaftliches Korrelat in der Meinung, daß alles kaufbar und verkaufbar sei und seinen Preis habe, was im Mittelalter durchaus nicht der Fall war, angefangen von den Emblemen und Kleidungsstücken, die einem bestimmten Stande vorbehalten waren.

Leer2. Der Glaube an die absolute Objektivierbarkeit setzt voraus, daß in der Neuzeit das menschliche Bewußtsein das eigentliche subjectum im Sinne des Zugrundeliegenden geworden ist. Den Einwand, daß das cogito ergo sum bereits bei Augustin zu finden sei, hat Descartes mit Recht mit der Bemerkung abgewehrt, daß Augustin keinesfalls versucht habe, das menschliche Bewußtsein zu dem allein Zugrundeliegenden zu machen, wobei man freilich hinzufügen kann, daß Augustin Gründe gehabt haben mag, einen solchen Versuch zu unterlassen.

Leer3. Die dieser Subjektivität eigene Weise der Wahrheit, die Descartes als fundamentum inconcussum zu stabilisieren sucht, ist die certitudo, die ihren geschichtlich entscheidenden Ausdruck in der Weise der mathematischen Gewißheit findet, so sehr, daß auch die Geisteswissenschaften, ohne es zu wissen und zu wollen, ihre Wahrheit letztlich im Rahmen der gleichen Gewißheit suchen.

LeerÜber dem allen schwebt ein metaphysischer Gott, dessen Existenz man zwar beweisen muß, an den man aber auch glauben kann, und die neuere französische Descartes-Forschung hat zu zeigen versucht, wie stark trotz allem die religiöse Bindung von Descartes gewesen ist.


III.


LeerWir können uns die Position unseres Gesprächspartners, des Zen-Buddhismus, am bequemsten vergegenwärtigen, indem wir sie mit dem eben dargestellten Schema vergleichen, das wir aus der Wirkungsgeschichte des Descartes abzulesen versuchten.

Leer1. Der Buddhismus in seinen verschiedenen Formen erstrebt gerade die Lösung des Menschen aus der Gegenstandswelt, ganz gleich, wie weit er die Existenz der Dinge leugnet oder ob er die Dinge in ihrem So-Sein beläßt oder gar einen neuen Zugang zu ihnen findet.

Leer2. Das anatā - (die ametaphysische Lehre von der Nichtselbstheit) - des Buddhisten leugnet nicht die Phänomenalität der menschlichen Seele, bestreitet aber gerade jene überzeitliche Beständigkeit des Bewußtseins, die im cogito ergo sum zur Grundlage alles Philosophierens geworden ist.

Leer3. Damit entfällt auch das fundamentum inconcussum (unumstrittene Grundlage) der Wahrheit, und so eignet der Wahrheit im Buddhismus jener eigentümlich schwebende Charakter, der dem westlichen Denken so schwer faßbar ist. Jede Frage nach einem solchen fundamentum inconcussum würde wohl der Meister Lindji mit Schlägen sowohl mit dem Stützbrett wie mit dem Polster beantwortet haben, wenn er sich nicht vollständig abgewandt hätte.

LeerEbenso entfällt mit diesen drei Sätzen jede Grundlage zum Beweise eines metaphysischen Gottes. Die Stärke aber der buddhistischen Position zeigt sich darin, daß man von ihr her den Prozeß gegen Giordano Bruno nicht hätte zu führen brauchen. Weder die im Ansatz des Renaissance-Pantheismus liegende Kreaturvergötterung noch der gegen diese Kreaturvergötterung ausgespielte metaphysische Gott sind Möglichkeiten für den Buddhismus, so daß der Buddhismus außerhalb und vielleicht oberhalb dieses ganzen Streites steht.

LeerEs ist dennoch nicht zu verwundern, daß es in der Gottesfrage auch im Buddhismus objektivistische und subjektivistische Spielarten gibt, die objektivistische etwa im Jodoismus, die subjektivistische beim Zen, aber um das zu studieren, bedarf es keiner Reise nach Kioto, da uns der Blick in die gegenwärtige deutsche evangelische Theologie vor die gleichen Probleme führt.


IV.


LeerDie soeben geschilderte Position des Buddhismus ist darum für uns von Wichtigkeit, weil sie eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit gegen bestimmte grundlegende Gefahren unseres eigenen Weges mit sich bringt.

LeerWir folgen hier einem Gedanken, den Professor Kohler in der Abhandlung „Religion ohne Projektionen” niedergelegt hat, und bedienen uns dabei der Denk-und Sprechweise von Martin Heidegger, die vielen Physikern von der sogenannten Kopenhagener Schule darum naheliegt, weil sie die geistige Wendung der Jahre 1925/1927, die sie erfahren haben, noch am ehesten in der Sprache von Heidegger sagbar machen können. Dabei verwenden wir wieder unser Schema:

Leer1. Der (westliche) Mensch neigt dazu, sich indirekt zu verstehen, indem er gleichsam seine Seele in die Welt hineinlegt, um sich dann wieder von der Welt her auszulegen. So zum Beispiel zeigt das Eindringen technischer Ausdrücke in den anthropologischen Bereich, wie der Mensch zunehmend dazu geführt wird, sich von der von ihm selbst geschaffenen technischen Welt her zu verstehen. Dieser Weg wird dem Zen-Buddhisten durch die von ihm erstrebte Loslösung von der Dingwelt abgeschnitten, und der Mensch wird zum Beispiel daran gehindert, sich seiner eigenen Beständigkeit mit Hilfe einer von ihm postulierten Beständigkeit der Dinge zu versichern.

Leer2. In gleicher Weise schneidet das anatā dem Menschen die Möglichkeit ab, sich im Blick auf seinesgleichen oder im Blick auf das eigene Bewußtsein oder auf ein hypostasiertes kollektives Bewußtsein der Beständigkeit seiner selbst und damit zugleich der Wahrheit als Gewißheit zu versichern.

Leer3. Auch an der jeweils in einem geschichtlichen Augenblick entborgenen Wahrheit kann sich der Mensch in der geschilderten Weise versehen, etwa indem er glaubt, die Wahrheit in seiner Verfügung zu haben, .wofür wir als einziges Beispiel nur die pharisäische Gesetzesfrömmigkeit erwähnen wollen, wie sie uns zur Zeit Jesu entgegentritt. Der Zen-Buddhismus dagegen weiß von der Unverfügbarkeit der Wahrheit.

LeerIndem der Zen-Buddhismus von den drei geschilderten Möglichkeiten keinen Gebrauch macht, gibt er damit zugleich jede der uns geläufigen Voraussetzungen preis, vom Menschen und von der Welt des Menschen her Aussagen über Gott machen zu können. Damit ist im Zen-Buddhismus die Überzeugung verbunden, die Gefangenschaft des Ichs in einer selbstgemachten Scheinwelt überwinden zu können und den Menschen zur wirklichen Welt und zum wirklichen Menschen zu befreien. Damit eröffnet sich aber gerade im gegenwärtigen Augenblick eine überraschende Aussicht, daß die Weise des Zen-Buddhismus für uns von Wichtigkeit werden könnte.


V.


LeerWir vergegenwärtigen uns die geistige Wandlung, die wir heute durchleben, an der Hand des bekannten Stückes 125 aus Nietzsches „Fröhlicher Wissenschaft”:

LeerDer tolle Mensch. - Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!” - Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? - so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott?” rief er, „ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!”

Leer„Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? - auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, das die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet - wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat - und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!”

LeerHier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert - es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne - und doch haben sie diesselbe getan!

LeerMan erzählt noch, daß der tolle Mensch des-selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?”

LeerEs geht aus anderen Äußerungen Nietzsches unzweideutig hervor, daß hier der christliche Gott gemeint ist, aber da für Nietzsche Christentum nur Platonismus für das Volk, die Vulgärform der von ihm so heftig bekämpften Unterscheidung einer wahren und einer scheinbaren Welt war, ist in diesem Stück doch zunächst nur der philosophische Gott, insbesondere der Gott der Ideen und Ideale gemeint. Umgekehrt aber hat das Christentum seit alters seinen Gott so sehr mit dem Gott des Xenophanes und des Parmenides identifiziert, daß es dennoch durch Nietzsches Feststellung vom Tode Gottes so sehr mit getroffen ist. So wird es einer tiefgehenden Neubesinnung bedürfen, um zu zeigen, daß das Christentum auch nach der durch Nietzsches Wort bezeichneten geschichtlichen Wegmarke neue Lebenskräfte zu entwickeln vermag.


VI.


LeerWir müssen darauf verzichten, den Satz des tollen Menschen: „Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?” mit den Ausführungen von Hisamatsu über das ostasiatische Nichts zu vergleichen und wenden uns zugleich zu den drei Sätzen: „Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?”

LeerDiese Sätze sind von Nietzsche als Interpretation seines Wortes „Gott ist tot” gedacht. Sie geben zugleich eine überraschende Deutung der durch die physikalisch-technische Welt heraufgeführten Situation, wobei wir uns weitgehend der Interpretation von Heidegger anschließen.

Leer1. „Wie vermochten wir das Meer auszutrinken?”

LeerDer Mensch hat das Meer des Seienden ausgetrunken, indem er alles Seiende zum Gegenstand und damit zum Objekt seiner Subjektivität gemacht hat. Aber die Zuversicht des neuzeitlichen Menschen, das Seiende auf diese Weise feststellen zu können, beginnt heute zu zerbrechen. Auch wenn man von dem ein wenig mythisierend so bezeichneten „Aufstand der Mittel” absieht, wie er sich etwa in der Atombombe darstellt, so sehen wir, wie die Welt der Dinge uns entgleitet, indem sie in ein rasendes Funktionieren hineingerissen wird. Gewiß kann man, um ein von Heidegger gewähltes Beispiel hier anzuführen, ein auf dem Rollfeld stehendes Flugzeug als Gegenstand bezeichnen. Die Wirklichkeit dieses Flugzeuges erfahre ich aber erst, wenn ich einen Flug buche und mich zur angegebenen Zeit auf dem Flugplatz einfinde, das heißt mich selbst in das rasende Funktionieren mit hinein begebe.

Leer2. „Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen?”

LeerDer Horizont, das heißt die übersinnliche Welt der Ideen und Ideale ist weggewischt. Damit verliert David Riesmans „innengeleiter Mensch” den Polarstern, nach welchem er den Kreiselkompaß seines moralisch-idealistischen Wertens ausrichten könnte, und muß zum „außengeleiteten Menschen” werden, der sich mit seinem Radargerät so geschickt wie möglich der Übermacht der jeweiligen Konstellation der technisch-bürokratischen Welt anzupassen vermag. Damit aber verliert der Mensch seine Einheit und beginnt sich in seine verschiedenen Funktionen hinein aufzulösen. Nach einem Worte von Gabriel Marcel ist der französische Unternehmer für seine wissenschaftlichen Bedürfnisse Nachfolger der französischen Rationalisten, in der Politik Demokrat, in seinen geschäftlichen Bezügen „Realist”, für seine religiösen Bedürfnisse römischer Katholik und in seinem eigenen Hause Tyrann. Noch erschreckender ist, wie gute Zeugnisse oft die KZ-Wärter nach 1945 von ihren Kirchengemeinden als Familienväter oder gar als Kirchenbesucher erhalten haben - ein Zeichen, mit welcher Selbstverständlichkeit der heutige Mensch den Schalthebel betätigt, der ihn jeden Nachmittag nach Dienstschluß verwandelt, in unserem Falle vom Vernichtungsbeamten zum zärtlichen Familienvater.

Leer3. „Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?”

LeerMartin Heidegger meint, daß wir es Nietzsche als einem Professor der klassischen Philologie wohl zutrauen dürfen, daß er bei dem Bilde der Sonne nicht so sehr an die sogenannte kopernikanische Wende, sondern mehr an das Höhlengleichnis im siebenten Buch von Platons Staat gedacht habe. Die Sonne der Wahrheit leuchtet uns nicht mehr. Die Wahrheit hat sich aufgelöst in eine Summe von wissenschaftlichen Richtigkeiten.

LeerDie Welt entgleitet uns, der Mensch zerbricht, die Wahrheit bleibt aus - das ist die Bilanz des Ineinanders von verwissenschaftlichter Technik und technisierter Wissenschaft, die vom Abendland ausgehend unseren ganzen Planeten zu beherrschen beginnt und alle Religionen vor die Existenzfrage stellt, das Christentum noch mehr als den Zen-Buddhismus, weil diese Bilanz zugleich die Interpretation von Nietzsches Wort „Gott ist tot” darstellt, von welchem das Christentum zum mindesten mitbetroffen ist, soweit es den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs mit dem Gott der Gelehrten und Philosophen identifiziert hat, ohne bis in die Gegenwart hinein ernstlich auf Pascals Mahnung zu hören.


VII.


LeerZugleich aber bezeichnet die genannte Bilanz eine überraschende Nähe zu den drei genannten Gründpositionen des Zen-Buddhismus, wie wir nicht noch einmal ausführlich darzulegen brauchen.

LeerBei seiner Frage, wie man die von ihm so genannte Welt der „sekundären Systeme” bewahrend überwinden kann, ist Hans Freyer zu der Überzeugung geführt worden, daß die autochthonen Kräfte etwa der verschiedenen Bereiche Asiens mit ihren Religionen jeweils einen eigenen Beitrag leisten könnten.

LeerEs ist sicher, daß Freyer unseren eigenen Beitrag, wie er sich etwa in der mit dem Namen Niels Bohr bezeichneten Wendung der Physik ankündigt, nicht wirklich gesehen hat. Dennoch hat unsere Überlegung gezeigt, daß der Zen-Buddhismus wesentliche Möglichkeiten zur bewahrenden Überwindung der physikalisch-technischen Welt in sich birgt, da er in langer Erfahrung eine Einübung in eine Geisteshaltung zu leisten vermocht hat, die wir meist nur mit dem unter einem abwertenden Vorzeichen verstandenen Wort „Nihilismus” bezeichnen und als Moment des Verfalls betrachten. Dagegen wäre an das von C. F. v. Weizsäcker einmal im kleinen Kreise ausgesprochene Wort zu erinnern: „Wir sind darum so schlechte Christen, weil wir so schlechte Nihilisten sind!” Damit ist gesagt, daß wir darum eine unserer heutigen physikalisch-technischen Welt entsprechende Gestalt der christlichen Theologie nicht zu finden - und die bewahrende Überwindung dieser Welt nicht zu leisten vermögen, weil wir der von Wissenschaft und Technik an unseren Glauben gestellten Existenzfrage nicht standhalten.

LeerUmgekehrt zeigen manche Begegnungen etwa mit japanischen, aus dem Buddhismus stammenden Mathematikern und Physikern, wie schnell und vollständig die angestammte Geisteshaltung von einem Neopositivismus verdrängt wird, und so wird es einer brüderlichen Hilfe von seiten der abendländischen und auch der japanischen Christen bedürfen, um den Zen-Buddhismus zur produktiven Ausnutzung seiner eigenen Möglichkeiten zu erwecken und zu ermutigen, für deren geschichtliche Einordnung ihm vorerst noch der Horizont fehlt.

Quatember 1965, S. 23-29

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-09
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