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Der heilige Seraphim von Sarow
(19. Juli 1759 bis 2. Januar 1833)
von Hans Carl von Haebler

I.

LeerMit Peter dem Großen war ein Zar zur Herrschaft gelangt, der das Fenster Rußlands zum Abendland geöffnet hatte und mit allen Mitteln bestrebt war, sein Reich nach dem Muster Westeuropas umzugestalten. Auch die Kirche unterwarf er seinem Willen, indem er das Moskauer Patriarchat aufhob, einer seiner Kreaturen die Aufsicht über den heiligen Synod übertrug und in das Leben der Klöster eingriff. So verbot er zum Beispiel den Mönchen Tinte und Papier, weil er hoffte, mit der Kirche leichter fertig zu werden, wenn sie ungebildet blieben. Unter den Nachfolgern dieses Gewaltherrschers wurde das alte Rußland immer mehr vom Geist der Aufklärung erfaßt. Viele Klöster wurden aufgehoben, andere in ihrer Freiheit beschränkt und um ihre Einkünfte gebracht, so daß sie ohne Nachwuchs blieben und allmählich verödeten. In diese Zeit fällt die Geburt des heiligen Seraphim.

LeerProchor Moschnin - das war sein bürgerlicher Name - wurde 1759 als Sohn eines Kaufmanns in Kursk geboren. Bald darauf starb sein Vater. Seine Mutter gab ihm eine gute Erziehung. Von seiner Kindheit an wurden ihm wunderbare Heilungen, Erscheinungen der Mutter Gottes und Prophezeiungen zuteil, die ihn dazu bestimmten, ins Kloster zu gehen. Er war ein hochgewachsener, kräftiger junger Mann, lebhaft und klug, belesen in der Heiligen Schrift und in den Schriften der Kirchenväter, eine durchgeistigte Schönheit strahlte von ihm aus, als er mit neunzehn Jahren Novize wurde. Die Mutter segnete ihn zum Mönchsstand mit einem kupfernen Kreuz, das sie ihm dann mitgab und das er zeitlebens über den Kleidern auf der Brust trug.

LeerDas Kloster Sarow, in das er eintrat, gehört zur Diözese Tambow und war damals noch von undurchdringlichen Wäldern umgeben. Hier übte sich der junge Novize zunächst im Gehorsam und arbeitete in der Bäckerei und Tischlerei. Auf das Tischlerhandwerk verstand er sich so gut, daß man ihn kurzweg „Prochor, den Tischler” nannte. So eifrig er bei der Arbeit war, so eifrig war er im Gebet. Im Jahre 1786 ging sein Noviziat zu Ende. Er empfing die Zeichen des „engelgleichen Lebens”, wie man auf Grund von Luk. 20, 36 das Mönchsleben nannte, und im Winter desselben Jahres die Weihe zum Diakonat. Damals erhielt er den Namen Seraphim. Das Wort, das aus dem Hebräischen kommt und die oberste Engelhierarchie bezeichnet, heißt soviel wie „strahlend”, und die Kirche singt an dem Namenstag des Heiligen von dem „irdischen Engel und von dem himmlischen Menschen”. Bei seiner Weihe erblickte er Christus mit seinen Engeln. Seitdem brannte das Feuer seines Gebets unaufhörlich. Fast ohne Unterbrechung verbrachte er Tag und Nacht betend in der Kirche. Schon seine Lesung war ein Gebet. Indem er las, nahm er betend in sich auf, was er las. Er las langsam, vor der Ikone stehend, und bemühte sich jedes Wort, jeden Satz in seiner Tiefe zu erfassen. Deshalb waren auch seine Ansprachen vom Geist des Evangeliums und der Kirchenväter durchdrungen. „Wie der Efeu um den Baum, so rankten sich die heiligen Sprüche um seine Predigt.”

LeerAls sein Abt, kurz nach seiner Priesterweihe, im Jahre 1793 starb, verließ Seraphim das Kloster und zog sich in einen dunklen Fichtenwald zurück, um hier sein Herz zu erforschen und sich dem unablässigen Dienst Gottes zu weihen.


II.

LeerAn einem kalten Wintertag bahnte sich der Heilige mühsam den Weg zu der kleinen Zelle, die ihm als Aufenthaltsort dienen sollte. Er nahm nichts mit außer dem Evangelium und dem Altargerät, das er zur Feier der Liturgie brauchte. Die Einsiedelei lag fünf Werst von dem Kloster entfernt mitten im Wald.

LeerAber die Bewohner der umliegenden Dörfer machten ihn bald ausfindig, besuchten ihn und störten ihn in seinen Übungen und Betrachtungen. Auch Frauen kamen, um ihn zu sehen. Als er zu Weihnachten die Klosterkirche aufsuchte, um die heiligen Sakramente zu empfangen, bat er deshalb den Abt mitten im Gottesdienst: „Vater Abt, gib den Segen, daß keine Frau in meine Waldhütte kommen darf!” Der Abt entgegnete ihm verwundert: „Was soll das, daß du in diesem Augenblick mit einer solchen Bitte zu mir kommst, Vater Seraphim?” Seraphim aber bat ihn inständig und demütig. „Eben jetzt gib den Segen, Väterchen!” Schließlich gab der Abt nach, nahm die Ikone der Gottesmutter, segnete Seraphim damit und sprach: „Ich gebe meinen Segen, daß keine Frau Zutritt zu deiner Zelle haben soll; aber du selbst wache darüber!” Seraphim küßte die Ikone, empfing die heiligen Sakramente und blieb seitdem 'ungestört.

LeerDer Mönchsvater Basilius hat einmal das Einsiedlerleben mit folgenden Worten gepriesen: „O Einsiedlerleben! Wohnstätte der Belehrung, Schule der himmlischen und göttlichen Erkenntnis, wo Gott alles ist, was wir lernen können! Wüste, Paradies der Süßigkeit, wo die Blumen der Liebe ihren Duft ausströmen, bald wirst du im Herbstlicht brennen, bald leuchtest du in zarter Reinheit. Von dir geht Ruhe und Frieden aus, die sich tief in dir verbergen und die kein Wind bewegt. Hier steigt der Weihrauch empor, der nicht nur das Fleisch abtötet, sondern - was noch wichtiger ist - den Willen. Hier brennt unaufhörlich die Flamme der göttlichen Liebe, die Lampe des unablässigen Gebets.” Diese Worte machte sich Seraphim zu eigen.

LeerDoch darf man sich durch dieses Loblied auf das Einsiedlerleben nicht verführen lassen, es zu idyllisieren.

LeerIn der Wildnis und in den langen Herbst- und Winternächten packte den Heiligen die Angst. Zweifel quälten ihn, und er fürchtete von Gott verlassen zu sein. Was er durchmachte, hat er später angedeutet, wenn er sagte: „Wer die Einsamkeit und das Schweigen wählt, der muß sich ständig gekreuzigt fühlen.” Er erfuhr, was die alten Mönche erfahren und in den Satz gefaßt hatten: „Gib dein Blut und empfange den Geist!” Es wird glaubwürdig berichtet, daß er in dieser Zeit das Leben eines Säulenheiligen auf sich nahm und tausend Tage mit erhobenen Händen im Gebet zubrachte. Er wunde selbst zu einem lebenden Gebet, zu einer Verkörperung des Gebets. Gegen Ende dieser Feuerprobe wich die Macht des Bösen, und ein himmlischer Friede zog in seine Seele ein.

LeerAm 12. November 1804 wurde der Heilige das Opfer eines furchtbaren Verbrechens. Als er beim Holzfällen war, überfielen ihn zwei Räuber, die bei ihm Geld zu finden hofften. Er legte sein Beil auf die Erde, kreuzte die Arme über der Brust und sagte: „Ich nehme von niemandem Geld. Tut, was ihr nicht lassen könnt!” Die Räuber griffen zu seinem Beil, schlugen ihn nieder, fesselten ihn und traten ihn mit Füßen. Blutüberströmt und bewußtlos ließen sie ihn liegen und durchwühlten seine Zelle. Als er beim Morgengrauen zu sich kam und sich auf das Vorgefallene besann, betete er zunächst für die Räuber. Dann befreite er sich mit großer Mühe von den Stricken, mit denen er gefesselt war, und schleppte sich zum Kloster. Ein Arzt, der herbeigeholt wurde, erklärte, daß die Wunden tödlich wären. Der Heilige aber vertraute einem größeren Arzt und ließ sich nicht von ihm behandeln. Eine Woche lang befand er sich in Lebensgefahr. Da erschien ihm die Mutter Gottes in Begleitung der Apostel Petrus und Johannes. Seraphim hörte, wie sie zu ihnen sagte: „Das ist einer von uns.” Von diesem Augenblick an wurde er schnell wieder gesund. Doch hatte er seitdem eine gebückte Haltung und mußte sich beim Gehen auf einen Stock stützen. Die Räuber, die man ergriffen hatte, bat er wieder loszulassen, ja er drohte, daß er Sarow verlassen würde, wenn man ihm diese Bitte abschlüge. Nach fünf Monaten kehrte er in seine Einsiedelei zurück.

LeerWie die alten Hesychasten auf dem Sinai und auf dem Athos hatte der Heilige das Gelübde des Schweigens abgelegt. Auch als er auf Befehl seines Bischofs im Jahre 1810 in das Kloster zurückkehrte, setzte er diese Übung fort. Am 9. Mai dieses Jahres schloß er sich in seine Zelle ein. Am 25. November 1825 verließ er sie. Die Zelle war ungeheizt. Die Einrichtung bestand aus einem Tisch und einem Holzklotz, der ihm als Stuhl diente. Zuerst schlief er sitzend auf einem Holzbündel, später in dem Sarg, den er sich selber gezimmert hatte. Man könnte hieraus auf eine lebensfeindliche Einstellung schließen. Aber Metropolit Seraphim betont in seinem Buche über die Ostkirche, daß der Heilige sich nur deshalb an den Tod erinnern ließ, weil er nicht wollte, daß seine Seele sich an vergängliche Dinge klammerte. Weit davon entfernt, die „arge, schnöde Welt” zu bejammern, stellte er sich in den Dienst ihrer Wiedergeburt, und, als er zu den Menschen zurückkehrte, lehrte er sie nicht, der Welt den Rücken zu kehren, sondern wollte, daß sie an dem Licht, dem Duft und der Wärme dieser Erde ihre Freude haben und sich schon hier vom Heiligen Geist erfüllen lassen sollten.


III.

LeerFünfzehn Jahre hatte der Heilige in der Klosterzelle zugebracht, sechsundsechzig Jahre alt war er, als die Mutter Gottes ihm wiederum erschien und befahl, das Kloster zu verlassen und als Starez und Helfer unter die Menschen zu gehen. In der äußeren Askese hatte er den Weg zum Gebet gefunden, das bei ihm eine geistliche Tat war. (Es kam vor, daß er sich beim Beten vom Boden erhob und in der Luft schwebte.) Das Ziel dieser geistlichen Taten aber war die Wiedergeburt und Erlösung der Menschen. Auf die Frage, ob man dem kontemplativen oder aktiven Leben den Vorzug geben sollte, konnte er antworten: „Komm zum inneren Frieden, und viele werden durch dich Erlösung finden.” Wer den langen, leidvollen und gefährlichen Weg eines Anachoreten und Asketen vollendet und die göttliche Liebe in sich aufgenommen hat, der muß die Liebe, von der er überströmt, auf diejenigen ausgießen, die Gott ihm in den Weg schickt. Die Sinne des Heiligen hatten sich verfeinert und vertieft. Sein Gesicht und sein Gehör blieben nicht an der Oberfläche der Erscheinungen haften, sondern drang in Geist und Sinn der Menschen und der Dinge ein. Er empfing die Gabe der Herzenserkenntnis und der Prophetie. Sein Wille, den er nicht abgetötet, sondern durch den Gehorsam und die Hingabe an Gott geläutert und gestählt hatte, gab ihm Macht über die Kreatur. So wie der heilige Hieronymus sich des Löwen angenommen hatte, erzählt man sich von ihm, daß er einen Bären fütterte.

LeerUm einen Zugang zu seinen Heilungswundern zu finden, muß man von den Heilungen ausgehen, die ihm selber widerfuhren. Als er einmal ein schweres Leiden überstanden hatte, begann er sofort Geld zu sammeln, um für das Klosterspital eine Kapelle zu bauen. Das Spital war für ihn ein Sinnbild für das geistliche Krankenhaus der Kirche. Wir haben es hier mit der dem christlichen Osten eigenen Auffassung zu tun, die im Sakrament eine Arznei sieht. Christus ist das Leben, der Heilige Geist macht lebendig, und die Sünder sind Patienten, todkranke Patienten, für die schon das Erdendasein Hölle ist. Da fragt man bei den Bußfertigen nicht, wie sie zu bestrafen sind, sondern, was geschehen muß, damit sie nicht mehr von der Sünde angefallen werden. So sagt schon das Konzil von Trullo (680 n. Chr.): „Beichtväter sind wie Ärzte, die für jedes Beichtkind die richtige Medizin finden müssen.” Der heilige Seraphim war ein begnadeter Seelenarzt, der in der Menge sofort die „Mühseligen und Beladenen” erspähte. Er tröstete sie dann gern mit den Worten der Liturgie: „Heiligste Jungfrau, du vertreibst alle sündhafte Sorge; erfülle auch mein Herz mit Freude!”

LeerEs gibt eine Art von Sorge - auch die Existenzangst des modernen Menschen gehört dazu -, die eine Sünde gegen den Heiligen Geist ist. Sie hat ihren Grund in dem Terror, den der Tod ausübt, und befällt die Menschen, die auf Erden noch nicht aus der Taufgnade der „kleinen Auferstehung” leben. Die Auferstehung Christi bedeutet nach der Meinung des heiligen Seraphim, daß die Auferstehung der Toten und das Leben der zukünftigen Welt für den, der sich vom heiligen Geist erfüllen läßt, schon hier auf Erden beginnt. Sein eigenes Leben war ein unablässiges Erwerben des Heiligen Geistes, und, wenn man die Starzen als Schüler des Heiligen Geistes bezeichnet, so gilt das für ihn in besonderer Weise. Seine Seele war erfüllt von Osterjubel. Sein Antlitz strahlte Liebe und Freude aus, und sein ständiger Gruß lautete: „Christus, meine Freude, ist auferstanden.” Über seiner armseligen Kleidung trug er einen weißen Kittel, der mit einem reinen, weißen Handtuch umgürtet war. So wie er überhaupt von Ostern und von der Eucharistie her dachte, verlieh er auch seiner Liebe zu den Menschen, die zu ihm kamen, eucharistische Gestalt, indem er ihnen von seinem Brot gab und sich dadurch mit ihnen verband.


IV.

LeerAls der heilige Seraphim noch in der Ensiedelei lebte, hatte er sich die Frauen ferngehalten. Nach seiner Rückkehr wandte er ihnen seine besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge zu. Die Vermutung ist ausgesprochen worden, daß sein prophetischer Blick schon damals die Zeiten des Materialismus und Atheismus kommen sah und daß er seine Hoffnung auf die Seele der Frau setzte, die er durch Askese und Gebet zu stärken gedachte. In der Tat hat er von der Zeit gesprochen, in welcher der Antichrist die Kreuze von den Kirchen entfernen und die Klöster zerstören würde, und Einzelheiten der großen russischen Revolution mit erstaunlicher Genauigkeit vorausgesagt. Besonders nahm er sich der Nonnen des Klosters Diwejew an, das in der Nähe von Sarow lag und sich unter die Regel von Sarow gestellt hatte.

LeerSeit 1825 war er ihr geistlicher Vater. Die Ratschläge des Heiligen zeugen von väterlicher Weisheit. So trennte er sofort die Witwen von den jungen Mädchen; denn, so sagte er, „in einer Gemeinschaft ist es leichter mit sieben Mädchen fertig zu werden als mit einer Witwe”. Die Klosterfrauen bauten eigenhändig eine neue Unterkunft, die sie die „Mühle” nannten und in der fortan die Mädchen unter der geistlichen Führung Vater Seraphims streng asketisch lebten und schwere körperliche Arbeit verrichteten. Sie sollten tun, was dem einfachen Volk angemessen ist, und immer eine Arbeit in der Hand und ein Gebet im Munde haben. Goldstickerei und alles, was mit Kunst zu tun hat, war nicht nach dem Sinn des Heiligen. Doch hatte er Nachsicht mit den Schwachen und warnte vor Übertreibungen. Einer Nonne, die das Fasten zu weit trieb, riet er einmal: „Du solltest leben wie die anderen auch. Nur iß dich nicht satt, laß noch einen Platz für den Heiligen Geist!”

LeerSo nachsichtig er mit den Schwachen war, so unerbittlich streng waren die Forderungen, die er starken Seelen abverlangte. Einigen Frauen hat er ein unsagbar hartes Schicksal aufgebürdet. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte der seligen Pelagia. Sie war die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns und hatte als Kind eine Krankheit durchgemacht, die zu einer völligen Veränderung ihres Wesens führte. Das kluge Mädchen zeigte seitdem ein törichtes Gebaren, das sich nicht wieder verlor. Als sie gegen ihren Willen verheiratet wurde, suchte sie Rat bei Seraphim. Nach dieser Begegnung lag Pelagia tage- und nächtelang auf den Knien und verrichtete das Jesus-Gebet. Aber das törichte Gebaren kam wieder. lhr Mann redete ihr gütlich zu, er schlug sie, legte sie an die Kette und gab sie schließlich ihrer Mutter zurück.

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LeerNach dem Tode des Heiligen nahmen die Nonnen von Diwejew das unglückliche Menschenkind auf. Sie verbrachte fortan den größten Teil des Tages, das Jesus-Gebet sprechend, in einer Grube, die sie sich selbst gegraben hatte. Sommer und Winter ging sie barfuß, stand auf Nägeln, so daß ihre Füße ganz wund waren, und nahm nur selten Wasser und Brot zu sich. Eine gußeiserne Gedächtnisplatte in der Klosterkirche enthüllt ihr Geheimnis, nicht ohne uns vor ein noch größeres zu stellen. Die Inschrift lautet: „Pelagia verließ nach dem Segen des Priestermönchs Seraphim im Gehorsam alles Glück des irdischen Lebens - ihren Mann, ihre Kinder -, nahm die asketische Übung der Torheit, Verfolgung und Schläge auf sich und ließ sich für Christus an die Kette legen. Geboren 1809, im Kloster 47 Jahre gelebt und am 3. Januar 1884 zu Gott gerufen im Alter von 75 Jahren.”

LeerNoch rätselhafter ist vielleicht, was über das Ende der Nonne Elena berichtet wird, die sich durch Demut und Mildtätigkeit auszeichnete und von Seraphim sehr geschätzt wurde. Die junge Nonne hatte schon oft gesagt, daß sie nicht die Kraft in sich spürte, ohne die Führung des Starzen zu leben, und daß sie den Wunsch hätte, vor ihm zu sterben, als ihr Bruder, der Gutsbesitzer Maturow lebensgefährlich erkrankte und Seraphim kommen ließ, damit er ihn gesund betete. Seraphim sagte ihm: „Es steht nicht in meiner Macht, Menschen leben oder sterben zu lassen, aber auf Grund der Gnade, die mir gegeben ist, will ich dich behandeln” und gab ihm die noch warme Krume eines frisch gebackenen Roggenbrots zu kauen.

LeerDanach rief er Elena zu sich. „Du meine Freude”, sagte er, „warst mir immer gehorsam. Ich will dir noch einen Dienst des Gehorsams auferlegen. Dein Bruder ist krank, und seine Sterbestunde ist gekommen. Ich brauche ihn aber noch für die Gemeinschaft. Stirb du an seiner Stelle, Mütterchen!” Als wenn er ihr einen ganz gewöhnlichen Auftrag gegeben hätte, bei dem es nichts zu fragen gibt, antwortete die. Nonne: „Segne mich, Väterchen, zum Sterben!” Aber als der Heilige ihr den Segen erteilt hatte und über den Tod und das ewige Leben sprach, um ihr das Herz zu versüßen, wurde sie schwach und unterbrach ihn: „Väterchen, ich fürchte mich zu sterben”, worauf er sie mit den Worten tröstete: „Was sollen wir uns denn vor dem Tode fürchten, du meine Freude? Für uns gibt es doch nur die ewige Seligkeit.” Ins Kloster zurückgekehrt erkrankte Elena und starb kurz darauf stellvertretend für ihren Bruder, der seine Krankheit überstand.

LeerIn den Geschichten der Nonnen Pelagia und Elena erreicht die geheimnisvolle Macht des Starzen ein mythisches Ausmaß und läßt an Elia, den großen Vorläufer der Mönchsväter, denken. Aber Elia weckte Tote auf, während Seraphim Lebende zur Passion und zum Tode einsegnete. Vielleicht löst sich das Rätsel, wenn man sich der Worte erinnert, die der Heilige in der Einsiedelei durchlebte: „Gib dein Blut und empfange den Geist!” Er hatte in seinem Gebetskampf den Kreuzestod auf mystische Weise erfahren, und er wußte, welches Kreuz er seinen geistlichen Kindern auferlegen konnte. Er wußte Kreuze zu verschenken. Wer es fassen kann, der fasse es!


V.

LeerIn dem Leben des heiligen Seraphim nimmt die Mutter Gottes einen besonderen Platz ein. Sie macht den halbtot Geschlagenen und vom Arzt Aufgegebenen wieder gesund, sie befiehlt ihm, seine Zelle zu verlassen und Starez zu werden; nicht weniger als zwölfmal erscheint sie ihm in seinem Leben. Zum letzten Male besuchte sie den Heiligen im Jahre 1831, am Vorabend von Mariä Verkündigung. Über diesen Besuch besitzen wir den Bericht der Nonne Eudokia aus der Mühle, die ihm als Augenzeugin beiwohnte. Vater Seraphim schien darauf vorbereitet. Er hatte Eudokia unterrichtet und ihr geraten, sich an ihm festzuhalten. Als die beiden niedergekniet waren und ihre Gebete verrichteten, erschien die „Allerreinste” von hellem Licht umflossen mit einem Gefolge von Heiligen. Eudokia fiel in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich kam, erzählten ihr die Heiligen, von der Mutter Gottes dazu aufgefordert, ihre Geschichte. Eudokia erinnerte sich auch noch, daß der Vater Seraphim nicht mehr auf den Knien lag, sondern vor der Gottesmutter stand und daß sie sehr freundlich mit ihm sprach wie mit einem Verwandten. Sie war gekommen, um ihn auf seinen Tod vorzubereiten, und tat das mit den Worten: „Bald, mein Freund, wirst du bei uns sein.” Er selbst sagte später, der Besuch hätte vier Stunden gedauert.

LeerAm Neujahrstage 1833, einem Sonntag, wohnte der heilige Seraphim noch der Liturgie bei, empfing die heiligen Sakramente und verabschiedete sich von seinen Brüdern. Dann zog er sich zurück. Im Laufe des Tages ging er dreimal an den Platz, den er für sein Grab bestimmt hatte. Bis in die Nacht hinein hörte man ihn in seiner Zelle Osterlieder singen. In der Frühe des 2. Januar bemerkten die Mönche, daß Rauch aus der Zelle drang. Sie brachen die Tür auf und sahen, daß eine Kerze umgefallen war. Vater Seraphim kniete vor der Ikone der Mutter Gottes, die den Namen trägt „Freude aller Freuden”. Seine Augen waren geschlossen, seine Arme gekreuzt, sein Gesichtsausdruck war der eines Betenden. Der Heilige war, wie es in seiner Lebensgeschichte heißt, „vor Gott getreten”.


Literatur:
Igor Smolitsch, Leben und Lehre der Starzen. Köln und Olten 1952;
Metropolit Seraphim, Die Ostkirche. Stuttgart 1950, S. 282 ff.;
Paul Evdokimov, Saint Seraphim of Sarow. In „The Ecumenical Review”, April 1963;
Iwan Tschetwerikow, Das Starzentum. In Ev. Jahresbriefe 1951/52, S. 190 ff.;
Claire Louise Claus, Die russischen Frauenklöster um die Wende des 18. Jahrhunderts. In „Kirche im Osten”, Band IV, 1961.

Quatember 1965, S. 69-75

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-07
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