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von Walter Lotz |
Die ökumenische Bewegung zeigt zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten eine sehr verschiedene Gangart. Man hat den Eindruck, daß heute manche Uhren reichlich vorgehen, andere bleiben weit zurück. Manche aber scheinen völlig still zu stehen. Das sollte uns weder erschrecken noch deprimieren. Solche Beobachtungen sind kritisch zu beurteilen und in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Wenn die Kurse einer Wertpapiergruppe von 1910 bis 1970 bei manchem Auf und Ab im Ganzen eine steigende Tendenz gehabt haben, im Augenblick aber stark absinken, so ist das in aller Regel kein Grund zum Abstoßen, sondern zum Einsteigen für den, der Gewinne erzielen will. Ähnliche Vergleiche aus dem Geschäftsleben werden auch im Evangelium nicht verschmäht, um zu zeigen, was die Stunde geschlagen hat. Der erste ökumenische Impuls in unserem Jahrhundert ging 1910 von der Weltmissionskonferenz in Edinburgh aus. In der kleiner werdenden Welt mit der zunehmenden gegenseitigen Kenntnis waren die Missionare auf steigenden Widerstand gegen den Absolutheitsanspruch ihrer Heimatkirchen gestoßen: "Einigt euch untereinander, bevor ihr uns zu Christen machen wollt, denn wir können doch nicht entscheiden, wer von euch das wahre Christentum vertritt." Dieser Impuls hat bei der beschleunigten Kommunikation unserer Jahrzehnte nichts von seiner Dringlichkeit eingebüßt. Es geht um die Glaubwürdigkeit der Kirche in dieser Welt. Es geht in der Mission um Kooperation statt Konkurrenz, und das muß sich auf die Heimatkirchen auswirken. Eine andere Quelle für die Aufweichung starrer Konfessionsfronten war die Anwendung historisch-kritischer Methoden in der Auslegung der Heiligen Schrift. Nachdem die Gefahr zurückgedrängt war, daß diese Methoden zu einer bloß rationalistischen Auflösung führten und dem Unglauben dienten, fanden sich Theologen der verschiedenen reformatorischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche in dem gemeinsamen Bemühen, die Inhalte der Offenbarungsurkunde so zu interpretieren, daß sie von heutigen Menschen ohne Verleugnung gesicherter Erkenntnisse der Wissenschaften angenommen werden können. Ohne Abstriche am ursprünglich gemeinten Inhalt geht es um die im Horizont unseres gegenwärtigen Denkens und Lebens mögliche Form der Aussagen. Außerdem geht es darum, daß die verschiedenen Glaubensaussagen nicht alle den gleichen Stellenwert haben. Man muß zwischen zentral wichtigen und Randfragen in der Verkündigung unterscheiden und kann nicht mehr die Annahme jedes einzelnen Satzes unter Androhung ewiger Verdammung fordern, wie das doch einmal in allen Konfessionen üblich war. Es kann aber nicht verwundern, daß die ökumenische Bewegung auch aus der außerkirchlichen Welt fördernden Einfluß erfährt. Der Hinweis, daß die "Kinder dieser Welt" klüger sind als die "Kinder des Lichts" ist sicher nicht auf die Zeit Jesu zu beschränken. Es wächst heute die Einsicht, daß die Probleme dieser Welt nur zu lösen sind, wenn allmählich aus einer konkurrierenden nationalen Außenpolitik eine gemeinsam verantwortete Weltinnenpolitik wird. Der Ausschließlichkeitsanspruch der großen Machtblöcke muß einer Kooperation weichen, durch welche die Grenzen durchlässiger werden. Vergleicht man die Leichtigkeit, mit der heute die Grenzen zwischen westeuropäischen Staaten hin und her überschritten werden können, mit der Lage an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten, so kann die dortige Abriegelung nur als völlig unzeitgemäß empfunden werden. Eine Änderung dieses Zustands ist jedoch nicht zu erreichen, wenn von vornherein volle Gegenseitigkeit, gefordert wird. Auch Vereinbarungen, die zunächst einmal nur in einer Richtung den Verkehr erleichtern, müssen begrüßt werden, und man darf hoffen, daß mit der Zeit auch Erleichterungen in der anderen Richtung folgen. Den Kirchen stünde es in dieser Zeit schlecht an, wenn sie nach wie vor auf der absoluten Undurchlässigkeit ihrer Grenzen beharren wollten, um jeden außerordentlichen Grenzübertritt als ein Sakrileg zu verfolgen und jede Konversion als einen Sieg zu feiern. Wo mehr auf dem Spiel steht als irdischer Friede und menschliche Wohlfahrt kann man um der Sache willen einen gegenseitig sich verdammenden Ausschließlichkeitsanspruch nicht länger vertreten. Gottlob sind die Konfessionsgrenzen seit langem immer poröser geworden, wenn auch der volle gegenseitige Austausch im Geben und Nehmen geistlicher Gaben noch nicht erreicht ist. In diesem Stadium wäre es weltfremd und töricht, in jeder Einzelfrage nur dann einen Schritt über die Grenze zu wagen, wenn volle gegenseitige Parität zugesichert wird. Eine solche Haltung hieße den ökumenischen Fortschritt in unnötiger Weise durch ungeistliche Bedingungen blockieren. Wer zur Kommunion in einer katholischen Eucharistiefeier nur dann bereit ist, wenn volle Gegenseitigkeit garantiert wird, muß sich fragen lassen, ob er aufrichtig bereit ist, unter Brüdern den unteren Weg zu wählen. Es ist verständlich, daß Kirchenleitungen, die von einem schwer beweglichen Verwaltungsapparat umgeben sind, den Veränderungen in der Praxis nur langsam und oft zögernd folgen, selten aber einmal selbst vorangehen. Dennoch ist nicht alles, was an der Basis in "vorausschauender Loyalität" geschieht, als Unordnung und Willkür abzuwerten. Manche sehen nun in diesem Zusammenhang die Gefahr einer neuen Kirchenspaltung heraufkommen. Man spricht von einer dritten Konfession, um diejenigen zurückzuhalten, die mit Entschlossenheit schon jetzt so viel als irgend möglich im kirchlichen Leben gemeinsam tun, in der Erwartung, daß eine wachsende Kooperation der Konfessionen unvermeidlich ist. Die Gefahr einer neuen Spaltung dürfte jedoch in Wirklichkeit sehr gering sein. Wir leben nicht mehr in einer Zeit, in der schon eine geringe Abweichung in theologischen Fragen genügte, um ein neues Kirchengebilde aufzubauen. Abgesehen von kleineren sektiererischen Neubildungen, die in Zeiten des Übergangs immer zu wuchern pflegen, ist heute vielmehr die Zeit der größeren Zusammenschlüsse. Obwohl vorwärtsdrängende und bremsende Kreise in beiden großen Konfessionen sich oft den Gleichgesinnten in der anderen Konfession sehr eng verbunden fühlen, erwächst daraus doch nicht die Absicht einer Loslösung von der eigenen und Gründung einer dritten Konfession, sondern viel eher drängt dieser Sachverhalt zu einer stärkeren Annäherung der Kirchen im Ganzen. Dabei werden Unterschiede so ähnlich zu respektieren sein, wie es in der anglikanischen Kirche schon seit dem vorigen Jahrhundert selbstverständlich geworden ist, daß die gegensätzlichsten Gruppen von "high" und "low" unter dem Dach der gleichen Diözese leben. Schrift und Tradition werden immer weniger in einem starren Gegensatz, sondern immer deutlicher in einem lebendigen Zusammenhang gesehen. Ansätze dazu gab es schon in der Reformationszeit, etwa in Luthers Leitlinie für die Auslegung: entscheidend ist das "was Christus treibt". Das trinitarische Grundbekenntnis der alten Kirche wird darüber hinaus helfen können, Engführungen zu vermeiden, die sich aus einer rein christozentrischen Auslegung ergeben könnten. Jedenfalls hat das gemeinsame Bemühen um eine sachgemäße geschichtlich-existentielle Auslegung der Heiligen Schrift dazu geführt, daß theologisch der Boden für eine Überwindung bisheriger Bekenntnisgegensätze bereitet wurde. Zwischen Reformierten und Lutheranern ebenso wie zwischen Theologen aus den reformatorischen und aus der römisch-katholischen Kirche haben Gespräche stattgefunden, deren Ergebnis gemeinsame Thesen waren, die künftigen kirchlichen Einigungsverhandlungen zu dienen geeignet sind. Es ist deutlich, daß Aussagen der Confessio Augustana oder des Heidelberger Katechismus oder auch des tridentinischen Konzils nicht länger ungeprüft als bleibende Gründe für das Getrenntsein von Kirchen ins Feld geführt werden können, wenn ein tieferes Eindringen in die Urkunde der göttlichen Offenbarung und eine über die bisherigen Abgrenzungen hinausführende Erkenntnis der Wahrheit zu neuer geistlicher Gemeinschaft führt. Wer demgegenüber die Unabänderlichkeit dogmatischer Definitionen und ausschließender Verdammungsurteile betont, verkennt die Geschichtlichkeit unserer Existenz. War es für Petrus zunächst selbstverständlich, daß neu hinzukommende Christen aus dem griechischen Bereich sich dem jüdischen Ritus der Beschneidung zu unterziehen hatten, so hat Paulus die Freiheit von diesem Joch nicht etwa erkämpft, um eine bestimmte griechische Philosophie als neues Joch einzuführen. Das Gebet Christi, "daß sie alle eins seien", wird vielleicht manchmal mißverstanden als ein Programm menschlichen Bemühens. Wer aber dem eigenen Bemühen weniger zutraut als dem Wirken des Geistes Gottes, muß doch auf jeden Fall mit einer Erhörung aufrichtigen Betens rechnen. Die Überzeugung, daß man um die Einheit der Christenheit "nur" beten könne, darf nicht dazu führen, daß man sich der Verwirklichung dieser Einheit entgegenstemmt, wenn Gott sie schenken will. Und daß es sich dabei um eine eschatologische Bitte handelt, kann nicht bedeuten, daß man an den St. Nimmerleinstag denken müßte. An eine jenseitige, metaphysische Verwirklichung zu denken, steht in krassem Widerspruch zu Jesu eigenem Beten. Er betet um die Einheit der Christen, "damit die Welt glaube" (Joh. 17, 21). Damit kann aber nur diese Welt gemeint sein, in der wir leben. Hier fallen die eschatologischen Entscheidungen. Sind wir erst in der Welt des Schauens, dann bedarf es dieses Zeichens der Glaubwürdigkeit der Kirche nicht mehr, weil dann das letzte Ziel der Einheit in Gott selbst erreicht ist. Auf dem Weg in dieser Zeit und Welt aber ist die ökumenische Einigung der Christen eine sehr reale und schlechthin zentrale Lebensnotwendigkeit. Es ist erstaunlich, welche Ausflüchte gesucht werden, um den schwierigen Aufgaben der notwendigen ökumenischen Fortentwicklung auszuweichen. Selbst die Geschichte vom Turmbau zu Babel muß gelegentlich dazu dienen. Es wäre noch verständlich, wenn darauf hingewiesen würde, daß dieses Unternehmen scheitern mußte, weil es ein Ausdruck menschlicher Anmaßung war. Gott läßt keine Türme in den Himmel wachsen, und auf dem Bau einer monumentalen Einheitskirche im Sinn der Parole "Einigkeit macht stark" könnte kein göttlicher Segen ruhen. Aber die Behauptung aufzustellen, die Zerstreuung der Turmbauer und die babylonische Sprachverwirrung sei eine göttliche Setzung, aus der die Unabänderlichkeit der Spaltungen in der Christenheit abzuleiten sei, kann wohl nur aus einer innertheologischen Betriebsblindheit verstanden werden, der jedes Mittel recht ist, um die eigene Unbeweglichkeit zu rechtfertigen. Das Pfingstwunder ist die eindeutige Aufhebung der babylonischen Sprachverwirrung, und das Volk Gottes, das der Geist Gottes aus allen Völkern sammelt, kann auf die Dauer die Abschirmungen nicht dulden, hinter denen es durch die Konfessionshürden getrennt gehalten werden soll. Es will in der Tat werden, was es in Wahrheit ist: eine heilige, allumfassende, christliche Kirche. In einer Zeit, in der Nationalismus und Rassismus im politischen Raum überwunden werden, kann der Konfessionalismus keine Gefolgschaft mehr für seine These erwarten, daß die Einheit der Kirche nicht zu verwirklichen sei, da sie eine metaphysische Größe darstelle. Schließlich versteigt man sich zu der Behauptung, es habe von Anfang an und auch in der neutestamentlichen Zeit niemals eine Einheit der Christen gegeben. Dabei unterstellt man, daß mit Einheit immer auch Uniformität gemeint sein müsse, statt zu sehen, daß in der ökumenischen Bewegung eine kooperative Einheit in Mannigfaltigkeit vor Augen steht. Diese Einheit, für die das erste Jahrtausend durchaus kein äußeres Muster sein muß, setzt allerdings voraus, daß man zu Opfern bereit ist. Auch für konfessionsegoistische Gruppierungen gilt das Gesetz der Nachfolge: Wer sein altes Leben um Christi willen preisgibt, wird es neu gewinnen. Die Stunde ist ernst. Daß die faktische Kirchenspaltung die wahre unsichtbare Einheit der Kirche nicht beeinträchtige - das kann nur ein Zynismus formulieren, der ahnt, was die Stunde geschlagen hat, aber nicht bereit ist, Opfer und Mühsal auf sich zu nehmen, damit der Dienst der Kirche in dieser Zeit und Welt glaubwürdiger als bisher im Sinn und durch die Kraft unseres gemeinsamen Herrn geschehen könne. Es gibt noch manche Gründe für die Meinung, daß wir um der Wahrheit willen noch nicht eins sein könnten. Aber es gibt in Wahrheit keinen Grund, auf morgen zu verschieben, was uns Gott heute zumutet und was bei gutem Willen heute getan werden kann. Quatember 1972, S. 67-73 |
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