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Kierkegaard und die Folgen
von Bernhard Rang

LeerÜber Kierkegaard zu schreiben, ist ein Wagnis. Wer ist seinem radikalen Ernst gewachsen, wer der Genialität seiner Dialektik? Wer vermag die Masken, die Pseudonyme seiner Schriften so zu durchschauen, daß ihre dialektische Zuordnung untereinander und zum Gesamtwerk deutlich wird? Wer ermißt die Tiefe seiner Schwermut, die „stumme Unruhe” seiner Gedanken, die „stille Verzweiflung” einer Existenz der Schuld und des Scheiterns? „Seit meiner frühesten Kindheit hat ein Pfeil des Kummers in meinem Herzen gesessen. Solange er dort sitzt, bin ich ironisch - wird er herausgezogen, so sterbe ich”, heißt es in einer späten Tagebuchnotiz.

LeerWir fragen nach Kierkegaards Wirkung heute, in unserer Zeit, mehr als hundert Jahre nach seinem Tod. Wir fragen nach den Lesern seines Werkes. Wer aber ist schon der rechte Leser seiner Schriften? Ist es der Experte, der Wissenschaftler, der fundierte Theologe? Wer ist „jener Einzelne”, den Kierkegaard seinen Leser nannte? Oder: „Jener Bekümmerte und Leidende, der die Rede liest, ohne an den Redner zu denken, weil er an Gott denkt?” Müssen wir als Leser heute nicht erschrecken vor Kierkegaards Bekenntnis, schlimmer als das Mißverständnis der Gegenwart sei die Bewunderung der Nachwelt? Wie eine Verwünschung hat er es ausgesprochen, Gott möge ihn vor dem Schlimmsten aller Unwahrheiten bewahren - vor einem Anhänger.

LeerSo ist auch das Lesen seiner Schriften ein Wagnis. Sie wollen und können nicht „objektiv” gelesen werden. Denn Kierkegaard hat niemals eine Lehre verkündet, weder ein philosophische noch eine theologische. Was er zeigen wollte, war die Existenz des Christen, was er verhindern und aufhalten wollte, war der Abfall der Christenheit vom Ursprung, die lügenhafte Ausbreitung und weltliche Anpassung. „Tilbage” (zurück)! war sein Losungswort.

LeerWie also nähern wir uns diesem Fremdling, diesem Vereinzelten und Ausgesonderten? Er suchte keinen Schüler, keinen Anhänger. Er suchte den Menschen, den hörenden Menschen, der nicht auf ihn, aber auf Gott hören sollte. Vielleicht wünscht er sich auch heute als Leser mehr den noch Unmündigen, den noch immer Suchenden und Beunruhigten. Auf die Person, auf den konkreten, einzelnen Menschen zielte alles, was er schrieb. Eine Kindheits- oder Jugenderinnerung stand am Anfang. Auf Spaziergängen erzählte mein Vater die Geschichte von Kierkegaards Vater, wie sie der Sohn selbst berichtet hat: „Das Entsetzliche mit dem Mann, der einstmals als kleiner Junge, als er Schafe hütete auf der jütländischen Heide, viel Schlimmes litt, hungerte und fror, sich auf eine Anhöhe stellte und Gott verfluchte - und der Mann war nicht imstande, das zu vergessen, als er 82 Jahre alt war.” Seit diesem Fluch ist es Kierkegaards Vater in der Welt gut gegangen. Doch der Greis konnte den Fluch des Kindes nicht vergessen, und der Sohn erbte mit der Liebe des Vaters auch dessen Schwermut, Angst und stille Verzweiflung. „Ich bin schwermütig geboren und kam als Greis auf die Welt.”

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LeerEs gibt fromme Verfluchungen Gottes, wie wir sie beispielsweise in den „Lästergebeten”, den Gedichten der Christine Lavant vorfinden, Auflehnungen nicht aus prometheischem Trotz, sondern aus Angst, Verlassenheit und Verzweiflung. Davon hat auch Kierkegaard gewußt: „Zuinnerst in jedem Menschen wohnt doch die Angst, daß er in der Welt allein sein solle, vergessen von Gott, übersehen in dieser ungeheuren Haushaltung von Abermillionen.” Wer ist nun dieser Mann aus Dänemark, der als Jüngster von sieben Kindern am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geboren wurde, ein Kind alter Eltern - der Vater war damals 57 und die Mutter 45 Jahre - und der am 11. November 1855, erst zweiundvierzig Jahre alt, in seiner Heimatstadt starb? Kein Geistlicher durfte den Sterbenden besuchen. Wie er gelebt hatte, wollte Kierkegaard auch den Tod bestehen: allein, ein Einzelner, ein von Gott Ausgesonderter. Wer also ist dieser fluchgeweihte Mensch, dieser - um mit Guardini zu sprechen - „komplizierteste Mensch, der je über religiöse Dinge geschrieben hat”?

LeerKeine einfache Antwort kann gegeben werden. Zu vielschichtig, auch zu dissonant und widersprüchlich ist seine literarische Hinterlassenschaft. Eben darum geht von ihr eine eigentümliche Faszination aus. Seine Nachwirkung ist weltweit geworden. Um die Aktualität Kierkegaards gestern wie heute zu verstehen, ist es nötig, einige seiner wesentlichen Grund- und Denkkategorien aufzuzeigen. Schon die Methode, jenes dialektische Verfahren, das er mehr bei Sokrates und Platon als bei Hegel gelernt hatte, ein Verfahren, das Kierkegaard meisterlich und genial, fast schon übersteigert anzuwenden verstand, als die ihm gemäße „indirekte Mitteilung”, schon diese Darstellungsmethode hat durch ihren auch verführerischen Glanz nicht nur Faszination bewirkt, sondern auch Mißverstehen und Entstellungen.

LeerDoch zunächst muß in Kürze einiges über den Lebensweg Kierkegaards gesagt werden. Daß er Theologie studieren sollte, war nicht nur der Wunsch des frommen Vaters. Aber der junge Mensch, begabt, von brennender Leidenschaft erfüllt, das Leben zu erfahren, „er verirrte sich in die Welt”. Er wurde ein Flaneur, ein Genießer und wahrer Ästhetiker; doch immer umschattet von der verborgenen Schwermut. Wie es in seinem Herzen aussah, verrät eine Tagebuchnotiz aus dem Jahr 1836: „Ich komme jetzt eben aus einer Gesellschaft, wo ich die Seele war, die Witze strömten aus meinem Munde, alle lachten, alle bewunderten mich - aber ich, ja der Gedankenstrich müßte genau so lang sein wie die Radien der Erde - ging fort und wollte mich erschießen.” Dann trifft er 1837 die schöne junge sechzehnjährige Regine Olsen, Tochter eines angesehenen Etatsrats. 1840 verlobt er sich mit ihr, schon nach einem Jahr löst er die Verlobung auf. Warum? Auf dieses Warum antwortet Kierkegaard fortan, Jahr um Jahr, mit seinen Schriften, den dichterisch-philosophischen der ersten Zeit, mit den existentiell-theologischen der späteren Jahre, und ständig auch mit den „erbaulichen Reden”, diesen Predigten besonderer Art.

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LeerSein Leben mit Regine Olsen oder sein Nicht-Leben mit ihr, die nicht vollzogene Ehe, die Trennung, das Verbleiben im Schatten seiner eigenen Schwermut, seiner Vereinzelung, und das Wissen, daß für ihn das Tor zum schönen, reichen, unmittelbaren, gleichsam bewußtlosen und kindlichen Leben verschlossen bleibt, dies alles bestimmte fortan den Weg seiner inneren und eigentlichen Existenz. Er konnte da gar nicht zaudern. Regine und ihr Leben, ja das Leben aller Menschen war ihm durchsichtig geworden. Durchsichtigkeit, das innere seelisch-geistige Durchdringen und Erhellen gehörte zu seinen Grunderfahrungen. So hat er gewählt, eine Wahl für das ganze Leben. Und Kierkegaard brauchte sein ganzes Leben, zweiundvierzig Jahre, um zu wissen, daß er sich nicht geirrt habe in dieser Wahl.

LeerAuch dies war nun seinem Denken für immer eingeprägt: was Wahl, was Wählen für den ernsten Menschen bedeutet, und was es auf sich hat mit der „Möglichkeit”, so oder so sich zu entscheiden. Kierkegaard liebte die Möglichkeit. Davon zeugt nicht nur die ergreifende Geschichte in den „Stadien”, in jenem Rückblick auf die Liebe zu dem jungen Mädchen, dem er die Überschrift gab: „Schuldig? - Nicht-schuldig?” In der Trennung wählte er für sich selbst die Schuld, das Unrecht, obgleich er gegen sie redlich gehandelt hatte. Nur in der Paradoxie konnte er sein Verhältnis zu Regine für sich selbst fassen: „Es ist doch schwer, einen Menschen unglücklich gemacht zu haben, und schwer, daß eben dies: sie unglücklich gemacht zu haben, fast meine einzige Hoffnung ist, sie glücklich zu machen.” Es war der Trugschluß seiner Schwermut, deren „furchtbares Geheimnis” er in sich zu bewahren hatte. Unter der Überschrift „Mein ganzes Unglück” trägt er noch 1847 in sein Tagebuch ein: „Ich wäre gezwungen gewesen, entweder wahnsinnig zu werden oder hindurchzudringen. Nun glückte es mir, Kopfsprung (salto mortale) zu machen hinauf in die reine Geistes-Existenz. Aber so werde ich denn wieder völlig andersartig als die Menschen im allgemeinen. Was mir eigentlich fehlt, sind Leib und leibliche Voraussetzungen.”

LeerErstaunliche Selbsterkenntnis. Sie gibt den Schlüssel zu allem Dissonantischen, Übersteigerten seines Denkens, auch seines Glaubens. Mit solcher inneren Reflexion, einer ununterbrochenen Dialektik überwand Kierkegaard, was auch eine Seite seiner Genialität war: das Ästhetische, den Dichter, der das Leben verzaubern, verwandeln kann, doch nicht zur Wahrheit, sondern zur Täuschung, zur Lüge. Seit dem Tod des Vaters hatte er ernstlich Theologie studiert, 1840 die Examina absolviert, und seit der Auflösung des Verlöbnisses mit Regine Olsen gab es für ihn nur die eine Richtung, das eine Ziel: wie gewinne ich Dasein, Existenz, wie gewinne ich Religion, also Glauben, wie werde ich Christ, und wie verwirkliche ich als Christ mein Leben vor Gott? Daß dies nicht innerhalb der Staatskirche, als ordinierter Pfarrer und Prediger für ihn möglich war, daß er einen anderen Weg, auch der Verkündigung, zu gehen hatte, wurde ihm zur Gewißheit. Es waren drei Stadien des Lebens und Lebensweges, die er zu durchlaufen hatte, und die er selbst bezeichnete als die des Ästhetischen, des Ethischen und des Religiösen. Jede dieser Möglichkeiten hat er durchlebt und durchdacht. Es ist hier nicht der Ort, sie im einzelnen darzulegen. Wohl aber müssen einige seiner gedanklichen Grundkategorien skizziert werden. In ihnen bewegt sich Kierkegaards Denken und Glauben.

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LeerDer Einzelne: Der Mensch ist ein Einzelner, nicht bloß im Sinn der Individuation, und gar nicht im Sinn des Solipsistischen, wohl aber mit der Bestimmung, abgehoben zu sein von der unterschiedslosen Menge, den Vielen, Vielzuvielen, ein Einzelner vor Gott wie vor dem Nächsten, ein Einzelner im Dialog, im Ich-Du-Verhältnis, kein Einsamer, sondern zugehörend und zugeordnet der Gemeinschaft, der Gemeinde. In eben dieser Einzelheit vor Gott sind wir alle einander gleich. Für Kierkegaard zielt „die ganze Entwicklung der Welt auf die unbedingte Bedeutung der Katagorie der Einzelheit, die eben der Grundgedanke des Christentums ist”. Und so wichtig war für ihn dieser Grundgedanke, „daß ich wünschen möchte, man schriebe auf mein Grab: ‚Jener Einzelne’”.

LeerExistenz: „Das Christentum ist keine Lehre, sondern Existenzvermittlung.” Existenz ist mehr als nur Leben. Modern ausgedrückt ist es mündig gewordenes Leben. Existentiell bedeutet Betroffensein und Getroffensein, Angesprochen- und Befragtwerden. Im Tagebuch schreibt Kierkegaard: „Es bleibt stets mein Verdienst in der Literatur, die entscheidenden Bestimmungen des ganzen Umfangs des Existentiellen derart dialektisch scharf und ursprünglich dargelegt zu haben, wie es - zumindest meines Wissens - in der Literatur noch nicht geschehen ist; und ich habe auch keine Schriften gehabt, bei denen ich Rat suchen konnte.” Existieren heißt für ihn: Person sein, heißt: verwirklichen, konkret werden, nicht bloß in der Reflektion, und gar nicht im bloßen Betrachten und Zuschauen, sondern im Herausgerufenwerden, im Heraustreten aus dem Dunst der Ichhaftigkeit in das Licht Gottes.

LeerMit den Grundkategorien des Einzelnen und der Existenz, des Existentiellen im Denken, Glauben und Tun hängen weitere Grundbegriffe Kierkegaards zusammen: das Absurde, das Paradoxe, das Ärgernis, die Angst, die Sünde, das Dämonische, das „Plötzliche”, das Zeithafte, die Gleichzeitigkeit, der Augenblick, die Wiederholung, die Reflexion, die Innerlichkeit. Jeder dieser Grundgedanken ist von Kierkegaard dialektisch durchdacht und dargestellt worden. Sie hier im einzelnen zu entfalten, ist nicht angängig. Aber deutlich wird, wie modernes Denken, neuere und neueste Philosophie und auch Theologie an diese Kierkegaardschen Grundkategorien anknüpfen konnte, erweiternd, verändernd, mißverstehend, mißbilligend. Faßbar werden diese bestimmenden Grundgedanken erst in der meisterhaften Dialektik, wie sie Kierkegaard anzuwenden verstand. Es war die indirekte Methode, mit welcher er, gleichsam listig, seine Leser in den Glauben, in die christliche Existenz hineinführen, hineinintrigieren wollte.

LeerAuch dieses dialektische Verfahren wurde zum „Anstoß” in der Nachwirkung. Von dieser Nachwirkung wollen wir sprechen. Wie im Werk selbst, in den Schriften Kierkegaards sich die drei Schichten oder Stadien abzeichnen, die des Ästhetischen, des Ethischen und des Religiösen, sind es gleichsam auch drei verschiedene Leser und Charaktere, die dieses eigentümliche, widersprüchliche, faszinierende Werk in sich aufnehmen wollen. Man sollte nicht verächtlich sprechen von dem jungen Menschen, den es auch in unserer Gegenwart gibt, der, angelockt von dem Titel „Tagebuch eines Verführers”, zu Kierkegaard stößt und diese Schrift mit brennendem Interesse liest. Auf das „Interesse” kam es dem Autor sehr an; es war eine für sein Denken wichtige Kategorie. Der Wortsinn (inter-esse) macht es deutlich: Dazwischensein, Hineingenommensein, Gebanntwerden, vielleicht auch Verführtwerden.

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LeerDas „Tagebuch eines Verführers” finden wir in Kierkegaards Schrift „Entweder-Oder”, die bei ihrem Erscheinen 1843 Aufsehen erregte. Der Untertitel „Ein Lebensfragment” nennt als Herausgeber Viktor Eremita, ein Pseudonym. Damit beginnt die so wichtige, auch verwirrende Maskierung des eigentlichen Verfassers hinter Sprechern, die eben dialektisch Kierkegaards wahre Meinung oft nur im Gegensinn und immer gebrochen und indirekt bekunden. Dies dialektische Spiel pseudonymer, eingeschobener Verfasser steht ohne Beispiel in der Weltliteratur. Man könnte an Shakespeare denken, an die Vielfalt seiner Dramen-Figuren; aber der große Brite war ein Dichter, was zwar, im Übergang, Kierkegaard auch war.

LeerDer Titel „Entweder-Oder” zeigt den Ernst der hier geforderten Entscheidung. Der Christ, oder auch nur der „Ethiker” kann und darf nicht stehenbleiben und sowohl als Ästhet, als Genießender und Zuschauer, wie auch als ethisch Handelnder, Gefragter, Angesprochener existieren wollen. Um dies durchsichtig zu machen, läßt Kierkegaard zunächst und wesentlich eben die ästhetischen Elemente, das Phänomen des Erotischen, und das der erotisch-sexuellen Verführung und Verlockung von seinen „Sprechern” analysieren und verdeutlichen. Hier finden wir jene einzigartigen Betrachtungen über das Musikalisch-Erotische im Blick auf Mozart und den „Don Juan”. Oder hier werden differenziert psychologische Porträts gegeben jener Unglücklichen und Verführten, einer Marie Beaumarchais, der Donna Elvira oder des von Faust verführten Gretchens. Und dichterisch spricht Kierkegaard über die tragische Gestalt der Antigone, um sie zu messen am Tragischen seiner Epoche. Beigesellt sind diesen Analysen „erbauliche Reden”, in denen die dritte und eigentliche Existenz des Menschen zur Sprache kommt: die religiöse, christliche.

LeerAuch heute wird kein Leser diese so ganz aus persönlichster Existenzerfahrung geschriebene Schrift ohne Bewegung lesen. Kierkegaard selbst, der sich seinen Werken gegenüber oft weniger als Autor, sondern mehr als ihr Leser verstand, ihr eigentlicher und durchschauender Leser, hat zu diesem Buch in seinem Tagebuch notiert: „Es war ein junger Mensch, glücklich begabt wie ein Alkibiades. Er verirrte sich in der Welt. In seiner Not sah er sich nach einem Sokrates um, aber in seiner Mitwelt fand er keinen. Da bat er die Götter, ihn selbst in einen zu verwandeln, und siehe: Der, welcher so stolz gewesen war, ein Alkibiades zu sein, er ward so beschämt und gedemütigt durch die Hand der Götter, daß er sich, gerade als er das bekommen hatte, worauf er stolz sein konnte, geringer fühlte als alle.”

LeerJener Schrift folgten Jahr um Jahr neue, bedeutende Bücher, Werke wie „Furcht und Zittern” (1843), das den seltsamen Untertitel trägt: „Dialektische Lyrik”, herausgegeben von einem zweiten Pseudonym, Johannes de Silentio. In diesem Buch steht die grüblerisch wunderbare „Lobrede auf Abraham”, an der allein schon Tiefe und Problematik des Kierkegaardschen christlichen Denkens und Glaubens aufgewiesen werden kann. Es folgen die Bücher „Die Wiederholung” (von Constantin Constantius), worin wiederum eine wichtige Denkkategorie ausgebreitet wird, „Philosophische Brocken” (von Johannes Climacus) und das auch heute noch immer epochale Buch „Der Begriff Angst” (von Vigilius Haufniensis), beide 1844 erschienen; ein Jahr später „Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten” (diese wie alle Reden nicht pseudonym herausgegeben) und „Stadien auf dem Weg des Lebens” (von Hilarius Buchbinder), wiederum eine sehr persönliche Hauptschrift.

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Leer1849 erscheint, mit dem letzten Pseudonym Anti-Climacus, das außerordentliche Buch „Die Krankheit zum Tode”, mit dem Untertitel „Eine christliche psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung”. Und ein Jahr später „Einübung im Christentum von Anti-Climacus Nr. I., II., III.”, herausgegeben von S. Kierkegaard. Es ist die wichtigste Schrift für das Christliche, die „Forderung an das Christ Sein”. Dann erfolgte jener Durchbruch, der keinen Bruch im Leben, Denken und Glauben Kierkegaards bedeutete, aber das Verlassen der „indirekten Mitteilung”, der Dialektik und Pseudonyme, die direkte, aggressive Rede, schonungslos, fast brutal im Angriff gegen die dänische Staatskirche, den verehrten, nun gestorbenen Bischof Mynster und seine kirchlichen Lobsprecher: Flugblätter, deren Folge unter dem Titel „Der Augenblick” im Todesjahr des Verfassers, 1855, erschien.

LeerSchon dieser verkürzte Überblick läßt das Beispiellose und damit zugleich auch Beispielhafte seines Schreibens, Wirkens, seiner Sendung begreifen. Wieder kann gefragt werden: Welcher Leser ist diesem Werk, dem Ganzen und den einzelnen Schriften gewachsen? Die Frage beginnt bereits bei den ersten Übersetzern. Übersetzen heißt, Verdolmetschen, also auch Interpretieren, Auslegen. Da Kierkegaard gar nicht „objektiv” gelesen werden will, sondern durchaus subjektiv, persönlich, der eigenen Not und Situation entsprechend, wird es uns nicht verwundern, sehr verschiedenartigen Deutern und Interpreten zu begegnen. Wir beschränken uns auf einige Namen und eben auch namhafte Übersetzer und Leser.

LeerDem heute stark kritisierten Pfarrer schwäbisch-pietistischer Herkunft Christoph Schrempf (1860-1944) kommt das Verdienst zu, in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts die Werke des großen Dänen ins Deutsche übersetzt zu haben, wodurch in Deutschland jene Wiederentdeckung Kierkegaards eingeleitet wurde, deren weltweite Auswirkung und Intensität uns noch immer erstaunen läßt. Beispiellos ist auch, daß nunmehr in Deutschland zwei Gesamtausgaben, bei verschiedenen Verlagen, im Entstehen sind, mit dem Streben, eine endgültige und genaue Übersetzung deutschen Lesern zu ermöglichen. Wichtig aber, besonders für den Laien, sind die mannigfachen Auswahlbände, die einen ersten Zugang eröffnen. Hier muß vor allem Theodor Haecker (1879-1945) genannt werden. Er gab die so wichtigen Tagebücher Kierkegaards in guter Auswahl heraus, auch die geistlichen oder erbaulichen Reden. Ihn beschäftigte dieser christliche Denker außerordentlich. Noch in seinen die Jahre 1939-1945 erfassenden „Tag- und Nachtbüchern” tritt ihm Kierkegaard entgegen. Das Dämonische der Hitler-Zeit wird ihm bestätigt in der „These Kierkegaards von der vorherrschenden Bedeutung der Kategorie des ‚Plötzlichen’ im Wirken des Dämonischen”.

LeerDaß Haecker als dezidierter katholischer Christ in der Versuchung steht, den Dänen in seiner Haltung gegen den damaligen Protestantismus katholisch zu interpretieren, ist verständlich. Dies gilt auch für Romano Guardini (1885-1963), für den Gestalten wie Pascal, Dostojewskij und eben auch Kierkegaard von besonderer Bedeutung waren. Ein Antipode dieser beiden ist der Jaspers-Schüler, christlicher Denker, Psychotherapeut und Zeit-Diagnostiker Wilhelm Kütemeyer (1904 bis 1972). Auch ihm verdanken wir eigene Übersetzungen und wertvolle Auswahlbände insbesondere der Reden Kierkegaards. Mit Recht weist er auf das Erstaunliche hin, „daß die weltweite Auseinandersetzung mit Kierkegaard offenbar meint, die Beziehung auf die Reden entbehren zu können, daß diese ganz zurücktreten und hinter den Pseudonymen verschwinden”.

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LeerTheodor Haecker hat einmal jene früheren, psychologisch-philosophischen Schriften Kierkegaards als „Mythen” bezeichnet. Wir könnten sie auch Dichtungen mythischer Prägung nennen. Das Mythische ist im Gesamtwerk eine Vorstufe. Aber gerade diese Vorstufe hat etwas besonders Faszinierendes. So weist Haecker den noch unerfahrenen Leser auf jene sechs Einlagen hin, die wir in den „Stadien” und hier wieder in dem fingierten Tagebuch „Schuldig? - Nicht-schuldig?” finden, teilweise autobiographische Stücke, die „allein für sich ohne Beispiel sind in der Weltliteratur”. Es handelt sich um die Prosadichtungen: „Die stille Verzweiflung”, „Der Aussätzige”, „Salomos Traum”, „Eine Möglichkeit”, „Periander” und „Nebukadnezar”. Hier befinde sich, wie Haecker meint, der Leser mitten in Kierkegaards religiöser Erfahrung, wo er es nicht mit Begriffen zu tun hat, sondern mit den Realitäten des Lichtes und der Finsternis.

LeerHaecker gibt am Schluß seiner wertvollen Abhandlung (Essays. München 1958) einen Rat für jene, „die mit Kierkegaard und seinem Werke sich beschäftigen wollen” und „vor allem einer Jugend, deren Herz, ich weiß es, leicht von der Leidenschaft jenes großen Schriftstellers versucht und entflammt wird”. Es ist der Rat, „nicht so sehr an das Zeitliche und Auffällige in ihm sich zu halten, an das, was er selber ein ‚Korrektiv’ nennt, das nur für den Augenblick paßt, nicht so sehr an das Interessante, das eben wieder nur für den Augenblick interessant ist,. . . sondern sich zu halten an das Ewige in ihm, an die ernste Weise seines Denkens darüber, mit seinen eigenen Worten: an ‚. . . das Alte, Bekannte und von den Vätern Überlieferte’, das er ‚wiederum und noch einmal, wenn möglich auf eine innerliche Weise, durchlesen’ gewollt hat”.

LeerSolche Leser sind freilich selten. Wenn ein Mensch, ein Dichter, ein am Leben Gescheiterter wie Franz Kafka (1883-1924) Kierkegaard liest, geschieht es aus einer Not und damit auch Notwendigkeit, einer ähnlichen, bei aller Andersartigkeit vergleichbaren Existenz. In den Tagebüchern, den Briefen Kafkas stoßen wir immer wieder auf den Namen des Dänen. Auch in den Parabeln und Romanen ist sein Einfluß zu spüren. 1913 notiert Kafka nach der Lektüre des „Buch des Richters”: „Wie ich es ahnte, ist sein Fall trotz wesentlicher Unterschiede dem meinen sehr ähnlich, zumindest liegt er auf der gleichen Seite der Welt. Er bestätigt mich wie einen Freund.” Im Briefentwurf an den Vater seiner Verlobten, von der er sich nach qualvollen Jahren lösen wird, tritt etwas der Kierkegaard-Situation Ähnliches zutage. Um diese Frau, die verwandelt auch in seinen Büchern auftaucht, hat Kafka bis zur Erschöpfung gekämpft, gekämpft um die mögliche Unmöglichkeit oder unmögliche Möglichkeit einer Ehe: „Ich kann nicht glauben, daß in irgendeinem Märchen um irgendeine Frau mehr und verzweifelter gekämpft worden ist als um Dich in mir, seit dem Anfang und immer von neuem und vielleicht für immer.” Dies ist auch der Ton Kierkegaards. Er hat Regine Olsen nie vergessen. Sie als einzige hat er neben seinem Vater in sein „Gottesverhältnis” aufgenommen, womit er die letzte, unbedingteste persönliche Gemeinschaft bezeichnen wollte.

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LeerWir wissen, daß Kierkegaard ihr, nur ihr sein gesamtes Schrifttum, vorab die „Reden” gewidmet hat. So erging es auch Kafka. Wie Felice Bauer, wie später Milena: dem Ehelosen (nicht Ehefeind) wurde die Geliebte, wie es Kierkegaards „Quidam” in der „Leidensgeschichte” ausdrückt, „die unumgehbare Instanz”, durch die er allein und fast ausschließlich in „sympathetischer Weise”, das heißt in letzter Verantwortung vor Gott, mit den Menschen, mit allen Menschen zusammengeführt wurde. An Kierkegaard rühmt der mit sich uneinige, zerfallene Kafka „den geraden Willen” und das genaue Wissen, wie es um ihn stand. Kaum zwei Jahre vor seinem Tod liest er noch einmal jenes Frühwerk „Entweder-Oder”, in dem er auch sein Verführen und Verführtwerden widergespiegelt fand. Eine Formel, wie sie Kafka für sich als Schriftsteller geprägt hat: „Schreiben als Form des Gebets”, könnte auch von Kierkegaard stammen. Das Gemeinsame wie Unterscheidende zwischen beiden soll hier nicht untersucht werden. Es genüge das eine große Bekenntnis, in dem wiederum der Name des fernen „Freundes” genannt wird: „Ich bin nicht von der allerdings schon schwer lastenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang.”

LeerMit Walter Benjamin (1892-1940) begegnen wir einem anderen, ernsthaften Leser Kierkegaards. Der erst Einundzwanzigjährige wird bereits von der Lektüre des Buchs „Entweder - Oder” aufgewühlt. Er flüchtet von dem ihn ermüdenden Kant zu Kierkegaard, bewundert die psychologisch vernichtende Analyse und das hier ausgesprochene Ultimatum: Ästhetentum oder Sittlichkeit. „Kurz, dieses Buch, das mir Frage auf Frage stellte, die ich stets geahnt und nie mir ausgesprochen hatte, regte mich selbst mehr auf als irgend ein anderes.” Noch im gleichen Jahr liest er das auch für die Existenzphilosophie und Tiefenpsychologie aufschlußreiche Buch „Der Begriff Angst” und bemerkt: „Ich glaube, in wenigen anderen Büchern kommt so hohe Kunst im Darstellen und in der Gesamtanschauung als Nebenprodukt zum Vorschein wie bei Kierkegaard. Er hat wohl einen melancholischen Zyniker in sich im Leben gewaltig bezwungen, um dieses ‚Entweder-Oder’ - vor allem das ‚Tagebuch eines Verführers’ zu schreiben.” Im gereiften Mannesalter tritt ihm Kierkegaard noch einmal entgegen, aber reflektiert in der kritisch gehaltenen Habilitationsschrift seines Freundes Theodor W. Adorno. Er glaubt mit Adornos Kritik übereinzustimmen, Kierkegaards „trügerische Theologie der paradoxen Existenz” zu durchschauen. Damit bekomme „die Kierkegaardsche Innerlichkeit ihren bestimmten Ort in der Geschichte und Gesellschaft”.

LeerIn der Tat besitzt die später um eine Beilage „Kierkegaards Lehre von der Liebe” erweiterte Schrift des Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno (1903 bis 1968) „Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen” (Frankfurt 1962) besondere Relevanz. Mit den gleichen Mitteln des dialektischen Verfahrens versucht Adorno immanent die Elemente des Ästhetischen bei Kierkegaard, die Konstitution und Explikation der Innerlichkeit, den Begriff des Existierens, die Logik und Dialektik der „Sphären”, das Paradoxale seines Denkens kritisch zu analysieren.

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LeerMehr ins Theologische gerichtet ist der zugefügte Anhang. Im Blick steht das 1847 publizierte Buch „Wesen und Walten der Liebe”. Es enthülle sich hier der Versuch, „der gleichsam negativen Theologie eine positive, der Kritik die Liebe, der Dialektik die Einfalt gegenüberzustellen”. Daß der Nicht-Christ Adorno dazu und so grundsätzlich zu allen „erbaulichen Reden” Kierkegaards keinen inneren Zugang hat, ist verständlich. Immerhin bleibt die Analyse bedeutsam, so wenn er auf Kierkegaards eigentümliches Verhältnis zum Tod und zu den Toten zu sprechen kommt. Typisch aber ist die kritische Bemerkung: „Eine Lehre von der Liebe, die sich als real auslegt, ist unabtrennbar von der gesellschaftlichen Einsicht. Diese bleibt Kierkegaard versperrt.”

LeerVon solcher Einsicht gehen viele existenzphilosophische Betrachtungen aus, die alle in gewisser Weise an Kierkegaard anknüpfen, um aber seine Grundkategorien zu transponieren in ganz anders gerichtete Gedankengänge. Hier wären Autoren zu nennen unterschiedlicher Art wie Georg Lukacs, wie Karl Löwith, Max Bense, Karl Jaspers, Martin Heidegger, wie die Franzosen Gabriel Marcel, Jean-Paul Sartre, Jean Wahl, Albert Camus. Auch nur andeutend die alten wie neu auftauchenden Fragen und Probleme dieser mit „Existenzphilosophie” sehr summarisch zusammengefaßten Aussagen zu erörtern, ist unmöglich. Als „Begegnung mit dem Nichts” hat der Philosoph Helmut Kühn die Existenzphilosophie gekennzeichnet (Tübingen 1950). Dieser sein „Versuch” zeigt deutlich, wie intensiv Kierkegaard überall aufgenommen worden ist, zugleich aber auch bewußt, und wie mißverständlich verändert wurde. Nur ein einziger Begriff sei herausgenommen, der der Entfremdung. Kierkegaard kennt ihn als Krisis, als Durchgang.

Leer1839 heißt es bei ihm: „Die ganze Wirklichkeit erschreckt mich, von der kleinsten Fliege bis zu den Mysterien der Inkarnation. Alles ist mir unerklärlich, ganz besonders mein eigenes Selbst. Die ganze Wirklichkeit ist für mich verpestet, besonders mein eigenes Selbst. Groß ist mein Schmerz, grenzenlos ...” Noch direkter hat Kierkegaard im Buch „Die Wiederholung” Gefühle und Erfahrung der Entfremdung zum Ausdruck gebracht: „Man steckt den Finger in den Boden, um am Geruch zu erkennen, in was für einem Lande man ist. Ich stecke meinen Finger in die Existenz - sie riecht nach nichts. Wo bin ich? Wer bin ich? Wie bin ich hierher gekommen? Was ist das für ein Ding, genannt Welt? Wer hat mich dahin gelockt und läßt mich nun dort? . . . Wie kam ich in die Welt? Warum hat man mich nicht befragt? . . . An wen soll ich meine Beschwerde richten? Existenz ist doch gewiß eine Debatte - darf ich ersuchen, daß meine Ansicht in Betracht gezogen wird?”

LeerEine Sprache, die auch Kafka hätte sprechen können, die später, zu Ende des 19. Jahrhunderts, Dostojewski spricht, freilich nicht so direkt, mehr durch den Mund etwa Iwan Karamasoffs. Auch bei Camus werden wir diesem unheimlichen Fremdgefühl begegnen, ebenso bei Sartre, in anderer Weise bei T. S. Eliot, seinem „wast land”, und sozial verändert bei Bertolt Brecht. Entfremdung bedeutet Einsamkeit. Kierkegaard hat diesen Zustand „Verschlossenheit” genannt. Die Zelle, die Eingeschlossenheit, das Gefängnis, die Ausweglosigkeit, das Labyrinthische menschlicher Existenz, die Absurdität des Daseins, die Aushöhlung der Sozietät, die gesellschaftliche Natur der Entfremdung (von Karl Marx entdeckt): alle diese Merkworte, Merkzeichen sind bereits von Kierkegaard, freilich auf seine eigene Weise, erkannt und analysiert worden.

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LeerIndem sie im 20. Jahrhundert neu gefaßt, gleichsam fortgeführt, erweitert, verändert werden, auch kritisch durchdacht, enthüllt sich, was nicht zu leugnen ist, die Widersprüchlichkeit, die „Dissonanz” im Denken Kierkegaards, Brüche und Widersprüche, die freilich in sich begründet bleiben als Ausdruck jener besonderen, nur ihm, Kierkegaard auferlegten Last und Aufgabe. Denn er wollte weder Apostel noch Prophet sein, auch nicht Genie und Lehrer oder Meister. Er wollte Märtyrer sein, „einer, der, um die Menschen Gehorchen zu lehren, selbst gehorsam würde bis zum Tode”. In seiner drastisch-bildhaften, auch des Humors nicht entbehrenden Redeweise hat er diese seine Sendung und Aufgabe so benannt: „Wie in einer großen Sendung Heringe eine äußerste Schicht liegt, die zerdrückt und verdorben ist; wie beim Verpacken von Obst die Früchte, die zuoberst liegen, gestoßen und beschädigt werden: ebenso gibt es auch in jeder Generation einige Menschen, die zuoberst liegen und durch die Verpackung leiden, welche nur diejenigen schützt, die in der Mitte liegen.”

LeerBevor von den Theologen die Rede ist und von ihrer Aufnahme oder auch Ablehnung Kierkegaards, seien noch zwei selbständige Leser genannt. Sie mögen stellvertretend stehen für die vielen anderen, denen das Werk und die Aussagen des dänischen Philosophen und Kritikers mehr partiell wichtig waren. Wobei erstaunlich ist, wer nicht alles von Kierkegaard sich angesprochen fühlt. Da hat der amerikanische Maler Mark Rothko (1903-1970) im Gespräch mit Werner Haftmann bekannt, wie sehr ihn Kierkegaard berührt und bewegt habe, insbesondere durch „Angst vor dem Nichts” und daß dieses „Nichts” ihn zwar nicht beträfe, daß aber seine Bilder damit zu tun hätten, indem sie gleichsam dieses „Nichts” verdecken sollten. Ein so bedeutender Denken, Dichter, Satiriker wie Karl Kraus (1874-1936) hat in anderer Weise immer wieder auf Kierkegaard hingewiesen und ihn in seiner „Fackel” mehrfach zitiert. Worin Kraus vor allem mit dem Dänen übereinstimmte, war die Radikalität der Zeit-Diagnose, der Zeit-Kritik. Symptomatisch für Kraus ist das Wort, das er von Kierkegaard zitiert: Ein einzelner Schriftsteller könne seiner Zeit nicht helfen oder sie retten, sondern nur ausdrücken, daß sie untergeht.

LeerDieser Begriff des Untergehens im Gegensatz zum Stehenbleiben spielt bei Kierkegaard eine große Rolle. Hier nur, auch im Sinn von Karl Kraus, eine Tagebuchnotiz: „Die Kategorie ‚Stehenbleiben’ kommt in Asien zur Anwendung. Die Juden blieben stehen; China ist stehengeblieben; Indien ist stehengeblieben. - Hingegen in Europa die Kategorie: Untergehen. Rom ging unter. Griechenland ging unter.” Und mit Karl Kraus teilt Kierkegaard einen Abscheu vor der Tagespresse, die er das „böse Prinzip in der heutigen Welt nennt”, deren Tyrannei „die erbärmlichste und niedrigste von allen Tyranneien” sei, eine „bettelnde Tyrannei”, die „alle Persönlichkeit zunichte macht”. Gegen das öffentliche wie auch private Geschwätz notiert er: „Wir bedürfen einer Pythagoreischen Schweigsamkeit”.

LeerHier hätte ihn auch ein ganz anderer und besonderer Leser bestätigt: der russische Philosoph und mystische Denker Leo Schestow (1866-1938). Die „Stimme eines Rufenden in der Wüste” nennt Schestow sein Buch „Kierkegaard und die Existenzphilosophie”. In den 22 Kapiteln dieses bedeutsamen Werkes unterbreitet Schestow seine eigene Lehre und Erfahrung im Spiegel von Kierkegaards Gelingen und Mißlingen. Wie für Kierkegaard so sei auch für ihn der Anfang der Philosophie nicht Verwunderung oder Staunen, sondern Verzweiflung.

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LeerEr zitiert Kierkegaards Sätze aus der „Wiederholung”, in denen an Stelle eines weltberühmten Philosophen oder eines ordinierten Professors Hiob auf- und angerufen wird, „der nicht auf einem Katheder figuriert . . ., sondern in der Asche sitzt und sich mit Topfscherben schabt und flüchtige Winke und Bemerkungen hinwirft”, bei dem aber „die Wahrheit herrlicher und erfreulicher lautet als bei einem griechischen Symposion”. Schestow war erst spät dem dänischen Denker und Gläubigen begegnet. Er wird wie Pascal für ihn zu einem wichtigen, ja entscheidenden Wahrheitszeugen.

LeerEinen kurzen Hinweis verdient auch der Literaturwissenschaftler Walter Rehm. Schon in den wertvollen Untersuchungen „Experimentum medietatis”, Aufsätzen über Jean Paul und Dostojewski, ihre dichterische Gestaltung des Unglaubens, über Gontscharow und die Langeweile, und über Jacobsen und die Schwermut, begegnen wir Kierkegaard. Schwermut, die mittelalterliche acedia, die „Mönchskrankheit” wird als Hysterie des Geistes von Kierkegaard bestimmt, geboren aus eigener Schuld, dem Sich-Verschließen vor wahrer Innerlichkeit und damit vor Gott. In der umfangreichen Studie Rehms „Kierkegaard und der Verführer” (München 1949) wird der Zwiespalt aufgezeigt zwischen Kierkegaards Christlichkeit und dem romantischen Ästhetentum. Indem Rehm ausführlich Lebenszeugnisse heranzieht, zeigt er, wie Kierkegaard, obgleich er in seinem persönlichen Christentum von allem Romantischen sich abheben will, dieser an sich verworfenen Kategorie dennoch erliegt. Kierkegaard habe Gestalt und Möglichkeit des „Verführers” auch in sich selbst nie ganz überwunden. In die gleiche Richtung weisen die feinen und nachdenklichen Betrachtungen, die Rehm der Kierkegaardschen Antigone-Deutung widmet („Begegnungen und Probleme”. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1957).

LeerEs bleibt noch, die theologische Nachwirkung Kierkegaards darzustellen. Das aber überschreitet Absicht und Vermögen meiner persönlichen Begegnung und Beschäftigung mit dem Werk des großen Dänen. Für die gesamte theologische Bewegung, die in und nach dem Ersten Weltkrieg entstand, und die den Namen „Dialektische Theologie” erhielt, steht Karl Barth (1886-1968) stellvertretend. Eine umfangreiche Studie „Sören Kierkegaard und Karl Barth” hat der junge Theologe Egon Brinkschmidt, Schüler des Kierkegaard-Forschers Hermann Diem, vorgelegt (Neukirchen), auf die hier verwiesen sei.

LeerDeutlich wird, wie sehr Barth, als er den epochemachenden „Römerbrief” schrieb (1919 veröffentlicht), von dem Denken und radikalen, „existentiellen” Glauben Kierkegaards angerührt und bestimmt oder bestätigt wird. Ersichtlich ist auch, daß der späte Barth, als er die Bände seiner „Dogmatik” verfaßte, von Kierkegaard abrückte, ohne ihn ganz zu verleugnen. Brinkschmidts Buch bringt uns zugleich Kierkegaard in der Kompliziertheit seines dialektischen Denkens und in der Paradoxie seines christlichen Glaubens nahe. Die Studie schließt mit den Sätzen: „Barth nimmt das von Kierkegaard auf gewiesene Thema ernst, so ernst, wie es - nicht Kierkegaard, sondern der ‚Gegenstand’ - und damit wieder Kierkegaard - haben will. Karl Barth hat von Kierkegaard die ‚Sachlichkeit’ gelernt. So kommt er mit Kierkegaard über Kierkegaard hinaus.”

LeerEs war ein Wagnis, über Kierkegaard und seine Ausstrahlung bis in die Gegenwart zu schreiben. Es bleibt ein Wagnis, sich mit Kierkegaard einzulassen, Leser seiner Schriften zu werden. Nur Streiflichter konnten gegeben werden. Was ist die Summe, die zu ziehen wäre, das Ergebnis? Schließen wir mit einer Tagebuchnotiz Kierkegaards: „Es kommt schon noch die Zeit, da man es ebenso abgeschmackt finden wird, das Ergebnis mitzuteilen (was jetzt die Zeit fordert, und wonach sie schreit), wie daß man einst zu moralischen Erzählungen eine Nutzanwendung schrieb. Wer das Ergebnis nicht mit Hilfe des Weges selbst finden kann, bekommt es doch nicht; er bildet es sich bloß ein.”

Quatember 1973, S. 19-31

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-01
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