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Neunzig Jahre Wilhelm Stählin
von Gerhard Hage

LeerWilhelm Stählin wird am 24. September neunzig Jahre alt. Dieser außerordentliche Geburtstag bezeugt in der Gestalt Stählins eine lange, lebendige Geschichte der Kirche, des Denkens und der geistigen Bewältigung der Zeit in fast einem Jahrhundert. So weit der Bogen dieses neunzigjährigen Lebens gespannt ist, so weit reicht auch der Umfang dessen, was Wilhelm Stählin in seinem Leben und Denken durchschritten hat. Unübersehbar deutlich wird an ihm, daß Geschichte ein in die Gegenwart und Zukunft hineinwirkendes Geschehen ist, aus dem weder ein einzelner noch eine Zeit sich herauslösen können.

LeerDa ist zuerst der Helfer der jungen Generation bei ihrer Suche nach dem sinnerfüllten Leben. Wilhelm Stählin stellte sich bei dem Aufbruch der Jugend seiner Zeit, der sogenannten Jugendbewegung, an ihre Seite. Für viele von ihnen wurde er für ihr ganzes Leben der Führer zu Christus und zu einer entscheidenden Vertiefung ihres Lebens. Der Aufstand der Jungen blieb nicht stecken in radikaler Kritik an überlieferten Lebensformen und im Protest gegen Autorität überhaupt, sondern fragte und suchte weiter, nämlich nach echter vollmächtiger Autorität und nach einer wahrhaftigen Lebensgestaltung. Wo solches Suchen echt ist, da ist es immer auch religiöses Suchen. Hier hat Wilhelm Stählin eine bis in unsere Zeit reichende Bedeutung. Es war ihm gegeben, die gültige Antwort zu sagen, und zwar so, daß sie ihm abgenommen wurde.

LeerVor 5 000 jungen Menschen hat er 1921 in Heidelberg in einer großen Rede über „Jesus und die Jugend” seine Gedanken so zusammengefaßt: „Ohne Christus ist die Jugendbewegung sinnlos und in Christus wird sie ihren Sinn erfüllen.” Er hat sich allen Fragen der jungen Generation gestellt. „Vom Sinn des Leibes” - „Fieber und Heil in der Jugendbewegung” - „Schicksal und Sinn der deutschen Jugend” bis in ganz konkrete Hilfen: „Ziele und Wege - ein Lehrgang über evangelische Jugendführung.” Bei ihm zielt alles immer auf Ganzheit des Lebens: der Einzelne und das, was wir heute Gesellschaft nennen, Geist und Leib, Inneres und Äußeres. „Die proletarische Bewegung ist sehr wesentlich eine Protestbewegung gegen die Tyrannei wirtschaftlicher Zweckhaftigkeit über den lebendigen Menschen . . . Darum wird sie so heillos verfälscht, so hoffnungslos ‚verbürgerlicht’, wenn sie ... nichts anderes ist, als ein Kampf um vermehrten Anteil an eben diesen Dingen.”

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LeerAuch wenn bei einem Vergleich zwischen der alten Jugendbewegung und der heutigen Unruhe der Jugend ein großer Unterschied sichtbar wird, so treten doch zugleich dieselben Kernfragen hervor. Unsere Antworten auf sie werden wir heute anders formulieren als Wilhelm Stählin, aber die Antworten selbst sind dieselben. Kennzeichnend für ihn ist schon hier, was sein ganzes Werk durchzieht: neben der Ganzheit des Lebens die existentielle Verwurzelung seines Denkens.

LeerWilhelm Stählin war und ist ein großer Lehrer der Kirche. Der junge Pfarrer an St. Lorenz in Nürnberg, in enger Arbeitsgemeinschaft mit Geyer und Rittelmeyer, wurde Professor für Praktische Theologie in Münster. Das akademische Lehramt verstand er sehr bewußt als Lehramt der Kirche und im Dienst an der Kirche. Die Zahl seiner großen und kleinen Veröffentlichungen ist unübersehbar. Fast alle sind dadurch gekennzeichnet, daß sie ihren Sitz im Leben der Kirche haben und Hilfen zum Dienst der Kirche und in der Kirche darstellen. Wilhelm Stählin hat in seinem Denken und Wirken damit ernst gemacht, daß der Gottesdienst, „die Feier des neuen Bundes”, das Zentrum der Kirche und des christlichen Lebens ist. Lex orandi - lex credendi, aber auch umgekehrt: lex credendi - lex orandi! Hier liegt eine tiefgehende Wende vor im Raum eines Protestantismus, für den die doctrina, und zwar die pura doctrina den absoluten Primat hat. Wilhelm Stählin geht es um die gesunde Lehre, die untrennbar mit dem Leben der Kirche verbunden ist. Diese Wende, die auch mit der ökumenischen Grundhaltung Wilhelm Stählins und seiner Berührung mit der Anglikanischen Kirche zusammenhängt, wird sich in der Kirche ohne Zweifel noch auswirken.

LeerDer Titel „Symbolon” für die Zusammenfassung seiner verstreuten Schriften bringt genau die Art seines Denkens zum Ausdruck: gleichnishaft, symbolisch. In enger Berührung mit Paul Tillich und Karl Bernhard Ritter hat er ganze Generationen von Christen und vor allem Theologen eine neue Sicht des biblischen Wortes und eine neue Art des Denkens gelehrt, eben die des Symbols. Dazu gehört auch seine Wiederentdeckung des Mysteriums, des göttlichen Geheimnisses. Welch ein Weg von dem Idealismus Goethes zu dem gleichnishaften Denken und zum göttlichen Geheimnis! Kein Wunder, daß dabei die Katholizität der Kirche ganz neu entdeckt wird. 1945/46 hat Wilhelm Stählin zusammen mit Kardinal Jaeger den ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen gegründet und viele Jahre geleitet. Kein Wunder, daß in dem Denken Wilhelm Stählins die Fixierung auf die Protesthaltung des Entweder-Oder verlassen wird. Dabei tauscht er die Antithese des Entweder-Oder keineswegs einfach aus mit einem prinzipiellen „Und”, in dem alles, auch das schlechterdings Unvereinbare sich in falscher Harmonie ineinander auflöst. Es geht ihm vielmehr um die Grenze des antithetischen Denkens und zugleich um sein Recht.

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LeerDie Bedeutung des Lehrers der Kirche Wilhelm Stählin liegt aber noch anderswo, nämlich darin, daß er statt des Katheders die geistliche Gemeinschaft als den Ort seines Lehrens wählt: die communio seiner Studenten, die Jungbruderschaft St. Michael, die Kreise des Berneuchener Dienstes, die Evangelische Michaelsbruderschaft und die unzähligen geistlichen Wochen, Rüstzeiten und Einkehrtage, die er durch Jahrzehnte hindurch gehalten hat.

LeerBei der grundsätzlichen Sicht des unlöslichen Zusammenhangs von Geist und Leib konnte sich Wilhelm Stählin nicht auf die Lehre der Kirche beschränken, um damit ihrem Leben zu dienen. Auf Gestaltwerdung drängte sein Wirken. So wurde er zum Bischof in der Kirche und dann auch zum Bischof der Kirche. Er sieht den bischöflichen Dienst zuerst darin, daß einer da ist, der im Namen Gottes und der Kirche auf den anderen schaut als sein „episcopus”. In der Michaelsbruderschaf t wurde das im Amt des Helfers konkret, wo jeder Bruder seinen Helfer, seinen „Bischof” hat. Hier verbindet sich die Autorität des geistlichen Vaters mit der brüderlichen Zuordnung und Liebe zu einer unteilbaren Einheit. Wilhelm Stählin war dann auch einige Jahre der „Bischof”, der Älteste der Michaelsbruderschaft. Schließlich rief ihn die Oldenburgische Kirche in ihr Bischofsamt, das er sieben Jahre innehatte. Schon bei seiner Einführung versuchte Wilhelm Stählin die Katholizität der Kirche und ihres Bischofsamtes sichtbar zu machen durch die Beteiligung eines Bischofs aus der Ökumene. Es war mehr als eine persönliche Enttäuschung, als dies nicht gelang.

LeerUm so mehr versuchte er dann die Oldenburgische Kirche vom Gottesdienst her neu zu ordnen und sie auch über einen engen konfessionellen Charakter hinauszuführen, was unter anderem darin zum Ausdruck kam, daß sich die Landeskirche nicht der VELKD anschloß. Die konfessionelle Bestimmtheit einer Kirche ist für Wilhelm Stählin immer nur ein terminus a quo, niemals ein terminus ad quem gewesen. Die Oldenburgische Kirche wurde in diesen Jahren von einer tiefgehenden Bewegung ergriffen. Freilich konnte es nicht ausbleiben, daß sich gegen diesen Versuch der Erneuerung der Kirche auch Widerstand erhob. An dem Beispiel Oldenburgs wurde die latente Notsituation des evangelischen Landeskirchentums sichtbar, das nicht bereit ist, seinen Territorialcharakter abzuwerfen und sich weiterzuentwickeln. Als sich Wilhelm Stählin dann entschloß, aus dem Bischofsamt auszuscheiden, wurde dieser Schritt von vielen bedauert. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich aber gezeigt, wie stark er in Oldenburg weiterwirkt. Die Kirche von Oldenburg ist in ihrem heutigen Zustand ohne das Wirken ihres Bischofs Wilhelm Stählin nicht denkbar.

LeerWilhelm Stählin feiert mit seinem 90. Geburtstag einen Tag der Ernte seines reichen, langen Lebens als Helfer der Jugend, als Lehrer und Bischof der Kirche. Die Mitfreude und der Dank vieler Menschen für ihn schließt die Hoffnung ein, daß vieles aus seinem Werk sich in einer kommenden Kirche erst richtig auswirken wird.

Quatember 1973, S. 137-139

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-24
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