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Der Fall des Menschen und das Selbstverständnis der Kirche
von Hans Dombois

LeerDie Schriften des Alten und Neuen Testaments bieten ein umfassendes Geschichtsbild. Es reicht wie ein großer Bogen von Schöpfung und Fall zu Wiederkehr und Gericht. So sehr diese Gesamtsicht umstritten ist, so unbestritten ist die Bedeutsamkeit der mythischen Erzählung, mit der dieser Geschichtsverlauf in Gang gesetzt wird, der Fall der ersten Menschen. Deutlich ist hier eine neue Bewußtseinsstufe in der Entwicklung der Menschheit gemeint, ein Heraustreten aus der Unmittelbarkeit, Selbstverständlichkeit und Harmonie der geschaffenen Natur. Von jetzt ab gibt es den Widerstreit von Gut und Böse, von Sein und Sollen, von Freiheit und Unfreiheit, die ganze Summe der Probleme, die als unauflösbare Rätsel das menschliche Denken und Handeln bestimmen. Die selbstgewählte Mündigkeit bewirkt zugleich Entfremdung.

LeerDieser oft bedachte und ausgeleuchtete Tatbestand gibt immer noch zu neuen Erwägungen Anlaß und Raum. Man muß einmal die Rollen der Beteiligten betrachten, die hier miteinander und nacheinander auftreten. Vor dem Fall ist es der Schöpfer allein und das erste Menschenpaar; sozusagen als stumme, aber freundliche Statisten finden wir die paradiesische Welt, in der der Herr abends lustwandelt. Aber dieses idyllische Panorama bevölkert sich in dem Augenblick, in dem Eva nach dem berühmten Apfel greift. Neue Figuren treten auf. Es ist einmal der Versucher, in dem sich die widerstreitenden Möglichkeiten des Denkens, Wollens und Vermögens des Menschen symbolisieren. Zugleich aber treten jetzt die Mächte hervor, die bis dahin gleichsam noch im Schlaf befangen sind. Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist ja kein Lichtmast, dessen Berührung den Frevler tötet. Der Tod ist keine einfache Folge des verbotenen Tuns. Es ist ein Verhängnis, nicht alsbald über diese Menschen, sondern über das in ihnen gemeinte Menschengeschlecht - nicht Tod unmittelbar, sondern Endlichkeit und Sterblichkeit.

LeerDies bedingt, daß das endliche Leben zugleich Mittel zu seiner Fristung hat. Diese werden auch deutlich benannt. Das Urteil Gottes über die Menschen ist keine Strafe. Es ist vielmehr der souveräne Ausspruch dessen, was schon eingetreten ist, über die unvermeidlichen Folgen ihres Tuns. Aber gerade in diesem Verdikt treten nunmehr Sexus und Ökonomie als Mächte hervor. Das Eine dient den Menschen zur Fortpflanzung über die Generationen, das Andere zur Fristung des täglichen Lebens. Der Tod auf der einen, die Mittel der Erhaltung auf der anderen Seite stehen also in unmittelbarer Verbindung. In der Traumwelt des Menschen korrespondieren Tod und Sexualität unmittelbar miteinander. Es ist für unsere Betrachtung nicht wesentlich zu untersuchen, wieweit man diese Figur des Dramas im eigentlichen Sinne als personale verstehen kann, als Subjekte im Sinne unserer menschlichen Welt. Wohl aber ist notwendig, den Hergang des Geschehens in diesen Rollen noch einmal durchzugehen.

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LeerHier ist Eva der erste Mensch, der sich vom Verbot frei macht, etwas bisher noch nicht Dagewesenes tut und eine nicht mehr rücknehmbare Wirkung herbeiführt. Also nicht Adam ist der primär geschichtlich Handelnde, sondern Eva. Die Tradition der Frömmigkeit hat es Eva bekanntlich nie vergessen, daß sie den Fall eingeleitet hat, und sie als Quelle des Übels betrachtet. Aber eben darum hat diese Frömmigkeit die Frau auch auf das Höchste erhoben. Ihr Widerbild, Maria, ist die Erste, die im freien Gehorsam ihr „Fiat” spricht. Die Quelle der Marienverehrung in allen ihren legitimen oder illegitimen Formen liegt dort, wo ein grundlegendes Interesse an der Freiheit des Handelns in der Heilsgeschichte besteht. Da dieses Interesse in einem besonderen Maße entgegen dem strengen Verdikt der reformatorischen Theologie im Raum des Katholizismus lebt, so entsteht hier immer wieder Marienfrömmigkeit. Unter dem Gedanken des Glaubensgehorsams hat Luther bekanntlich eine seiner schönsten und tiefsinnigsten Schriftauslegungen dem Magnifikat gewidmet.

LeerIst Eva die erste geschichtlich Handelnde, so ist Adam der erste Mensch, der sich mit einer geschichtlichen Lage auseinandersetzen muß, die er selbst nicht geschaffen hat, und die er auch nicht zu ändern vermag. Anscheinend hat sich bisher niemand die Frage gestellt, ob Adam den Apfel hätte zurückweisen können. Dies ist offenbar allen Auslegern unmöglich erschienen. Was hätte er auch tun sollen? Der Apfel war wirklich „ab”, Adam konnte den Schaden nicht wieder gutmachen. Sollte er sein Weib beim Herrn verklagen und sich damit salvieren? Das ist ebenso lächerlich wie sinnlos. Beide sind so verbunden, daß auch das einmal durch Eva begonnene Handeln sich selbstverständlich bei Adam fortsetzt, obwohl sie ja wirklich allein gehandelt hat. Aber sie ist Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein.

LeerJedoch tritt bei der Aufdeckung des Sachverhalts eine Umkehrung der Lage ein. Denn jetzt wird Adam verantwortlich gemacht; es wird nicht gefragt, wer die Frucht gebrochen hat. Ihm wird auch seine Entschuldigung nicht abgenommen, daß dies ja das Weib getan habe, das der Herr ihm selbst zugesellt hat. Ist Adam nun ein Mitläufer und Denunziant? Das würde ihm schwerlich gerecht werden. Hier kommt nicht die Selbständigkeit der Tat, sondern allein die Gemeinsamkeit des Lebens in Betracht, obwohl auch diese Selbständigkeit nun ein für allemal in die Welt gekommen ist. Wenn man auf die Grundphänomene des Staatslebens, das innere Gefüge unserer Gemeinwesen blickt, so wäre Eva diejenige, die aus usurpierter Freiheit, Mutwillen und Lust, wie nun einmal der Mensch ist, eine neue, mißliche, zu verantwortende Lage herbeigeführt hat. Sie ist, wie der Mensch nun ist, und stellt seine natürliche Identität dar.

LeerWenn die Schrift vom Menschen spricht, so sagt sie: „Der Mensch, vom Weibe geboren”. Das ist mehr als eine Ehrung der Frau: Es kommt hier trotz der Zeugung etwas Originäres herein. Das Recht der Kirche spiegelt etwas davon wider: Die Gültigkeit der Taufe hängt allein vom rechten Vollzug ab, weder von der Taufe noch gar vom Amt des Taufenden. Jeder Mensch, sogar der Heide, kann taufen.

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LeerAdam aber ist der Erste, der die von Eva geschaffene, gegebene Tatsache übernehmen und dann verantworten und in dieser Verantwortung repräsentieren muß. Es ist die leidige Last aller Repräsentanten, die ja an der Identität teilhaben, daß sie die Lagen übernehmen und vertreten müssen, die das Volk in seinem So-sein nun einmal an sich hat und geschaffen hat. Identität und Repräsentation aber sind die beiden großen Grundelemente und Grundstrukturen allen politischen Lebens. Dieser innere Widerstreit, der durch die Gemeinsamkeit der Haftung für uns verdeckt wird, ist bisher kaum beachtet worden. Er scheint mir ebenso wichtig wie die traditionelle Rollenverteilung, die in dem Urteil über die Menschen ausgesprochen wird. Denn sicher arbeitet eine Bauersfrau mit, und der Sexualität sind beide unterworfen. So kann dieser Tatbestand nicht im Sinne der Entgegensetzung und Trennung verstanden werden. Mindestens ebenso bedeutsam ist, daß beide trotz des gewissen Widerstreits ihres Handelns, der Hin- und Rückläufigkeit von Tun und Verantwortung problemlos verbunden bleiben. Von einer Trennung, einer Scheidung, einem unterschiedlichen Schicksal kann keine Rede sein.

LeerDieses Geschehen ist immer als ein grundlegender Vorgang verstanden worden, aus dem die ganze belastete Geschichte der Menschheit hervorgeht. So richtig das ist, so sehr verdeckt es zugleich die Tatsache, daß aus diesem ersten Vorgang das Weitere konkret nicht abzuleiten und darum auch nicht verständlich zu machen ist. Man wird vielmehr zu einer Art moralisierender Betrachtung verführt, wonach unter Absehung von allem konkreten Inhalt des Handelns der Ungehorsam als solcher die Quelle allen Übels sei. Der Griff nach dem Apfel wird zur Büchse der Pandora, aus der unterschiedslos die vielfältigsten Beschwernisse hervorgehen. So wird der Fortgang der Geschichte nicht nur verständlich, sondern zugleich verzerrt. Wie bei der Deklination unserer Hauptwörter folgt nämlich auf den ersten Fall ein zweiter.

LeerDer zweite Fall ist der Streit zwischen Kain und Abel. Die Tradition der Kirche hat bei aller Grundsätzlichkeit von Adams Fall uns doch immer den ganzen Lauf der Heilsgeschichte vor Augen gehalten. Wie sie Christus und Adam einander prototypisch gegenüberstellte, hat sie dies auch mit Christus und Abel getan, als demjenigen, dessen Opfer Gott wohlgefällig war, und der deswegen von seinem Bruder getötet wurde. Die typologische Korrespondenz ist ja eine der Weisen, in der die Heilsgeschichte im Gegenüber von Altem und Neuem Bund veranschaulicht wird.

LeerIn diesem zweiten Akt des Dramas ist die Besetzung eine andere. Wiederum ist es der Herr und zwei Menschen - aber jetzt nicht mehr das durch seine Unterschiedenheit verbundene Paar, sondern die trotz gemeinsamer Abstammung und Gleichheit in Feindschaft geratenen Brüder. Auch der Tod ist dort. Aber er ist nicht mehr das natürliche Ende des Lebens; er tritt in die Geschichte ein. Er erscheint erstmals als eine Möglichkeit, die der Mensch dem Menschen selbst zufügen kann. So gewiß die Kriminalgeschichte auch den Gattenmord kennt, so tritt der Mord doch erst auf, nachdem die Menschen als Brüder, als Gleiche einander gegenübertreten.

LeerDie Macht des Sexus wird hier dadurch repräsentiert, daß beide Brüder die gleiche Abstammung haben und in der Generationenfolge stehen.

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LeerAuch die Ökonomie ist deutlich hier vertreten: Kain ist Bauer, Abel Hirt; Kain aber wird nach seiner Tat von seiner Heimstatt vertrieben, seine Arbeit verflucht. Er findet beides in der Fremde wieder. Erst nach dem Exodus als Verhängnis gibt es also denjenigen des Gehorsams, den Gehorsam Abrahams, der ihm zur Gerechtigkeit gerechnet wird.

LeerWie ein antiker Chor jedoch umgibt das Geschehen - eigentlich unmotiviert - eine Menschheit, die deutlich ihre Stimme erhebt. So treffen wir hier die Beteiligten in einer geschichtlichen Situation; die Brüder stehen in einer Kultusgemeinschaft, die erst die Wahl zwischen Annahme und Verwerfung des Opfers ermöglicht; zugleich stehen sie in einer Rechtsgemeinschaft, die ihren Frieden durch die Tat gestört sieht und ihn durch Sühne, Vergeltung oder Strafe wiederherstellen möchte.

LeerHier wie gegenüber dem ersten Paar antwortet der Herr nicht mit einem Urteil, sondern mit einer Fest-Stellung im eigentlichen Sinne. Er schreibt den Tatbestand fest und spricht damit aus, was nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist. Deswegen verbietet er Rache und Strafe, obwohl Kain selbst sie für berechtigt anerkennt; er verweist ihn mit dem Brandmal seiner Tat abseits. Dies bedeutet zweierlei. Kain und die ihm nachfolgenden Geschlechter können von nun an nicht mehr ohne schlechtes Gewissen so ganz für sich sein, wie es ihr Stammvater durch seine Tat versucht hat. Aber weder sie noch die übrige Menschheit können das einmal Geschehene durch bewußte Versöhnung oder stillschweigendes Vergessen aus der Welt schaffen. Der hier aufgetretene Widerspruch ist nicht nur ein solcher zwischen Mensch und Mensch, sondern auch ein solcher zwischen Einzelnem und Gemeinschaft. Durch die doppelte Sperre dieses Widerspruchs wird der Lebensraum des Menschen hart und empfindlich eingeengt. Ihm wird alles Vollkommene, Heile, Ideale und Integrale ein für allemal verwehrt. Alles, was er nunmehr tut und vermag, trägt notwendig relativen, begrenzten Charakter.

LeerSo entsteht der schwierige Widerspruch, daß das Relative absolute, das Bedingte unbedingte Bedeutung gewinnt. Diese Relativierung der menschlichen Existenz bedeutet zugleich eine außerordentliche Entlastung, die Entlastung von der unmöglichen und deshalb auch unwahren Idealforderung, gerade von dem Versuche, zu sein wie Gott. Die ganze Neuzeit hindurch geht der liberale und aufgeklärte Kampf dagegen, daß irgendeine Ordnung und ihre Forderung mit religiöser Unbedingtheit allgemeine Geltung beanspruche. Diese Haltung aber wird unmöglich, wenn diese Relativierung nicht als unbedingt anerkannt und folgerichtig durchgehalten wird. Sie ist also keine Beliebigkeit, sondern sie erfordert feste Grenzen, die die Schrift „Gesetz” nennt. Die leidenschaftliche Absage Gerhard Sczesnys an die Linke beruht darauf, daß nach dieser Relativierung und aus ihr eine neue Absolutheit revolutionärer Dogmatik entstanden ist. Eben aus jener radikalen Einengung und Relativierung des menschlichen Lebens entsteht dann freilich mit elementarer Gewalt das Verlangen nach einer ganz anderen Welt, nach einem Ausbruch, nach Frieden, Vollkommenheit und Eintracht.

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LeerVermöge der hier festgestellten Begrenzung nach beiden Seiten teilt sich das Verbrechen in der konkreten Wirklichkeit in zwei gegensätzliche Arten. Es ist entweder Gewaltverbrechen, in welchem der Mensch sein eigenes Recht rücksichtslos gegen jedes Recht des Anderen durchsetzt, oder es ist Täuschungsverbrechen, welches eine nicht vorhandene Übereinstimmung des Lebens und der Interessen vorspiegelt. Dies gilt für alle Formen und Gegenstände des Verbrechens, vom Vermögensdelikt bis zum Angriff auf die öffentliche Ordnung. Diese Erkenntnis entstammt nicht der Auslegung dieses Textes, auch nicht der philosophischen Bemühung, sondern dem geduldigen Umgang mit zahllosen realen Verbrechen vor den Schranken der Gerichte. Ich verdanke diese Einsicht in die Grundbefindlichkeit des Menschen den Mördern und Betrügern, denen ich selbst begegnet bin.

LeerAls Strafrechtslehrer würde ich meinen Hörern vor aller notwendigen Vermittlung verbrechenskundlicher Erkenntnisse und Erfahrungen diesen in der geschichtlichen Existenz des Menschen begründeten, exakt rechtlich belegbaren Tatbestand vor Augen führen (vgl. Dombois, „Mensch und Strafe”, Glaube und Forschung 14, Witten 1957, jetzt Stuttgart (Klett), S. 23 ff. Genesis und Genealogie des Verbrechens). Weil aber den Menschen diese Grenzen gesetzt sind, wird grundsätzlich das Verbrechen zum Versuch des Menschen, zu tun, was er nicht vermag - in der genauen Umkehrung der Meinung, daß es die Verletzung - sehr notwendiger - Regeln des Zusammenlebens sei. Darum ist es gerade die ungebrochene Lebenskraft des Menschen, die sich gegen diese Begrenzung auflehnt. Die Unterwerfung aber unter diese Begrenzung ist nicht Erlahmen und Anpassung, sondern entspringt einer realen Einsicht in die condition humaine, die nicht selbstverständlich ist, die vermittelt und dort geltend gemacht werden muß, wo sie fehlt.

LeerDiese Dualität des Verbrechens aber finden wir in wesentlicher Übereinstimmung auch in einem antiken Mythos, der in den heutigen Auseinandersetzungen eine zentrale Rolle spielt, in der Ödipus-Sage. Ihre Spitze richtet sich zunächst gegen etwas Anderes. Indem Ödipus den Vater erschlägt und die Mutter heiratet, wendet er sich gegen die Generationenfolge; er versucht, seine Freiheit und sein Selbstsein aus dieser geschichtlichen Abhängigkeit zu lösen. Trotzdem überwiegt die Übereinstimmung zwischen beiden Mythen. Von Anbeginn hat die Einsicht der Griechen diesen Frevel wiederum in doppelter Gestalt, als Vatermord und Blutschande zugleich dargestellt. Zugleich erweist dieser Mythos Ödipus als Pharisäer. Denn indem er den Vater erschlägt, usurpiert er notwendig die Macht; er muß dieselbe Macht ausüben und seinen Platz in der Geschichte einnehmen, den Thron besteigen, den er umstürzen wollte. Bedingung, Mittel und Folge zugleich aber ist das zweite Verbrechen, durch das er die eigene Mutter zu seiner Frau macht. Die Aufrechterhaltung und Reinerhaltung der Generationenfolge unterscheidet den Menschen vom Tier. Er ist das einzige Lebewesen, das seinen Großvater kennt - er hat Geschichte.

LeerFür unsere Betrachtung ist wichtig, daß hier die gleiche Doppelheit und Gegenläufigkeit des in der Existenz selbst begründeten Verbrechens hervortritt, die falsche Selbstsetzung und die falsche Identifikation. Ein Verbrechen gegen die Menschheit selbst aber ist es, wenn in der Auslegung der mit diesem Mythos verbundenen Grunderkenntnisse nur die eine Seite, der Aufstand des Ödipus gegen Λαĩóς, nicht zugleich aber die Verbindung mit der Mutter zur Erörterung gestellt wird. Die Ödipus-Sage bestätigt die in der Kains-Geschichte sehr viel deutlichere Grundtatsache, die nicht nur die politische, sondern auch die bürgerliche Geschichte des menschlichen Miteinanderlebens bestimmt.

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LeerAber auch der Kains-Fall ist nicht der letzte Akt des Falles. Als dritten signifikanten Mythos finden wir die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Dieser Turmbau ist ja kein Herrschaftssymbol eines Reichsgründers, der seine universale Macht darstellen will. Er ist vielmehr das gemeinsame Werk aller Stämme, der gesamten Menschheit. Im Zuge der ersten Aufklärung haben die Philosophen der Vernunft versucht, alles theoretische und praktische Wissen der Menschheit in einem ungeheuren Nachschlagewerk „enzyclopädisch” zu vereinen, um sowohl die Einheit der Vernunft zu demonstrieren, als auch ihren Ertrag allen Menschen einsichtig und zugänglich zu machen. Es ist der umfassendste und grundsätzlich gemeinte Versuch der Kommunikation, der je gemacht worden ist.

LeerNach der biblischen Geschichte jedoch zerstört der Herr jenes universale Monument. Er zerstört damit jene allgemeine Kommunikation, die den Widerstreit und die Unterschiedlichkeit der Menschen und Stämme aufzuheben unternimmt. Er ist nur die Konsequenz der beiden ersten Geschichten des Falls, wenn diese nachträgliche Versöhnung und Verallgemeinerung nicht zugelassen wird. Damit wird die geschichtliche Irreversibilität, die Nichtzurücknehmbarkeit jener ersten Vorgänge apodiktisch ausgesprochen. Aus dieser Deklination ergibt sich also die Einsicht, daß vom Fall des Menschen nicht außerhalb der Beziehungen und Mächte gesprochen werden kann, innerhalb deren er lebt.

LeerEben darum wird das einfache Miteinander von Adam und Eva in die geschichtliche Welt der Kultus- und Rechtsgemeinschaft überführt, und diese weitet sich im Fortgang noch einmal aus in die universale Gemeinschaft der Menschheit in ihren Stämmen, die sich auf ihre Gemeinsamkeit besinnen. Deshalb kann es sich auch für den biblischen Glauben nicht darum handeln, einzelne Menschen unter Abstraktion von allen Zusammenhängen in einer Umkehrung zu dem Gehorsam zu bringen, den ihre Ureltern verweigert haben. Es ist vielmehr charakteristisch für das mythisch bezeugte Handeln Gottes, daß er selbst die einmal geschaffenen Tatsachen der Freiheit, der Trennung nicht zurücknimmt, nicht aus der Welt schafft, sondern sie mit allen Belastungen auf eine ganz andere Zukunft festhält. Er setzt seine Herrschaft durch, indem er progressiv handelt, und tut dies, so verwunderlich es ist, zunächst in der Festschreibung des Geschehenen.

LeerWenn nun die Grundbefindlichkeit des Menschen nicht in einem einzigen Akt und erst recht nicht unter Absehung von jenen Zusammenhängen darzustellen ist, so ergibt sich zugleich auch, daß Evangelium und Heilsvermittlung in der Kirche nicht in einem einzigen zentralen und damit zugleich auch wieder abstrakten Heilsgedanken darzustellen sind. Wenn nämlich das Evangelium die Umkehrung des Unheils in Heil bezeugt und die Kirche sie verkündet, so muß sich diese Umkehrung auch als eine Umkehrung jener Mehrheit von Geschehnissen und Aspekten darstellen, in denen sich zuvor der Fall vollzogen hat. Wenn zu allererst der Mensch dem Sexus und der Geschlechterfolge unterworfen wird, so kehrt die Verkündigung Jesu genau dies um. Die Christen sind jene seltsame Sekte, welche ihre mit Freuden aufgenommenen jungen Kinder alsbald wieder in der Sintflut der Taufe ersäuft. Hier wird bewußt die Folge Geburt-Tod in die Folge Tod-Leben umgekehrt.

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LeerUnverständlich muß es dem greisen Nikodemus bleiben, wenn Jesus ihm sagt, daß der Mensch wiedergeboren werden und das Reich Gottes aufnehmen müsse wie ein Kind. Hintergründig erinnert die Frage des Nikodemus „Kann denn ein Mensch wieder eingehen in seiner Mutter Leib?” an den Frevel des Ödipus. Jene Umkehrung der Geschlechterfolge hat eben darum auch Jesus selbst mit der Taufe auf sich genommen, weil und obwohl auch seine Genealogie, die Abstammung aus der Wurzel Jesse, zu den Prädikaten seiner vollen Menschlichkeit gehört. In den heutigen willkürlichen Auslegungen des Neuen Testaments, die vorgefaßten Zweckbestimmungen folgen, ist von dieser radikalen Umkehrung nicht mehr die Rede. Darin geht es nicht mehr um die neue Geburt, die er erleiden muß, sondern um die Selbstverwirklichung des Menschen in einer aktiven Selbstschöpfung.

LeerDie Umkehrung der Ökonomie aber vollzieht sich, wenn der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt, wenn ihm zur geistlichen Nahrung das alltägliche Brot und der nicht alltägliche Wein des Passamahls, des Sonntags, der Feier, gereicht wird. Hierhin gehören auch die Barmherzigkeiten, nach denen das, was dem Geringsten getan wird, dem Herrn getan ist.

LeerEben dies aber bedeutet communio, das heißt die grundsätzliche und vorgreifende Wiederherstellung einer einstmals zerstörten Gemeinsamkeit, in der der Widerspruch im Menschen selbst und damit zwischen den Menschen und die tödliche Macht der Mächte aufgehoben ist. In einer Zeit, wo Bevölkerungsexplosion und Umweltzerstörung das Überleben der Menschheit in Frage stellen, wird eine neue eschatologische Qualität von Sexus, Ökonomie und menschlicher Freiheit sichtbar.

LeerAber so wenig Adams Fall Abels Tod aus sich entläßt und in seiner Geschichtlichkeit verständlich macht, so wenig ist auch damit allein getan. Ist es das Ergebnis des Widerstreits von Kain und Abel, daß die Menschheit in eine befleckte und beladene Eigenständigkeit ebenso wie in eine gebrochene Mitmenschlichkeit auseinanderfällt, so ist auch hier die Umkehr erforderlich. Der freie Opfergehorsam Christi kehrt den geschichtlich gewordenen Tod um, wie die Taufe den genealogischen Tod, und vollendet beides überwindend miteinander. Das ist aber nur möglich, weil hier die vollkommene, unvertretbare Einsamkeit mit der vollkommenen Solidarität zusammentrifft. Darum macht er in souveräner Vollmacht den Kelch der Einsamkeit zum Kelch der Gemeinsamkeit auf die Zukunft. Wenn nun nach Gottes Willen nichts zurückgenommen wird, was durch die Widerständigkeit des Menschen in die Welt gekommen ist, alles aber nach vorwärts positiv konvertiert wird, so muß beides, das Einzelne und das Gemeinsame, nunmehr geistlich legitimiert werden.

LeerEben darum haben in der Kirche nebeneinander das Charisma des Einzelnen als eine nur ihm verliehene und aufgetragene Gnadengabe und Vollmacht auf der einen und das Pneuma aller ohne Widerspruch bestanden. Es ist die Aufgabe, ja die Quadratur des Zirkels, daß die Kirche beides miteinander vereinen muß. Das Eine muß dem Anderen dienen; das ist aber nur möglich, wenn das Eine auch das Andere bestehen läßt. Das Charisma bringt das Pneuma nicht hervor und das Pneuma nicht das Charisma. Die Verfassungsgeschichte der Kirche macht deutlich, wie wenig sie diese Grundaufgabe gelöst hat; wesentlich ist schon, wenn sie sie überhaupt erkennt. Es gehört zu ihrer Menschlichkeit, daß alle ihr bisher geschichtlich gelungenen Gestaltungen jeweils in der Verkürzung des Einen oder des Anderen und am allermeisten im Mißverständnis dieser Aufgabe selbst bestanden haben.

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LeerDie dritte Umkehrung ist vergleichsweise am einfachsten deutlich zu machen. Sie ist in Pfingsten symbolisiert, wo die Jünger mit Zungen reden, die Vertreter aller Völker aber einander plötzlich in diesem Geiste verstehen. Dieser dritte Schritt bringt den beiden ersten nichts Neues hinzu, er betrifft beide, Genealogie und Geschichte miteinander. Er ist, wie Montesquieu von der dritten, der richterlichen Gewalt gesagt hat, „en quelque façon nulle”, so wie der Geist vom Vater durch den Sohn ausgeht. Die aus den Priesterseminaren entsprungenen Vorkämpfer der Französischen Revolution haben mit der triadischen Umkehrung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” eine viel bessere christliche Anthropologie im Hintergrund gehabt als die Einschränkung der theologischen Existenz auf das bloße „Daß” des Glaubens.

LeerWenn wir diese dreifache Umkehrung festhalten wollen, dürfen wir Kirche nicht in einen Begriff zu fassen versuchen. Sie ist zu allererst communio. Dazu muß das auf den Einzelnen bezogene Heilsverständnis sozusagen erst wieder resozialisiert werden. Communio ist auch nicht Folge, Frucht oder Ziel. Sie ist mit dem, was der Glaube enthält und gibt, wesentlich identisch. Neues Testament ist nicht zunächst Hinterlassenschaft und erklärter letzter Wille, sondern zu allererst Bund. Es ist mit aller Entschiedenheit (eine Art Rechts-) Verwahrung dagegen einzulegen, daß in dem gemeinsamen Glaubenszeugnis der reformatorischen Kirchen in Europa heute dieses Wort nicht einmal mehr vorkommt. Hier wäre der Ort gewesen, zeitgeschichtlich bedingte Verengungen zu sprengen. Wo immer sich heute junge Christen frei zusammenfinden, ist die Gemeinschaft des Heiligen Mahles ein selbstverständliches Element des Lebens. Hier ist ein Zugang gefunden und eine Entkrampfung eingetreten, welche die Entgegensetzung von „worthafter” und „sakramentaler” Existenz als unwirklich und professoral erweist.

LeerKirche ist danach als zweites zugleich communitas, eine Vergemeinschaftung und ein Gemeinwesen, in dem das Miteinander von Charisma und Pneuma vorgegeben wie aufgegeben ist. Karl Barth hat vor langen Jahren mit unzulänglichen und nicht einmal folgerichtig durchgeführten Analogien zum demokratischen Rechtsstaat der Christengemeinde eine exemplarische Bedeutung für die Bürgergemeinde zugeschrieben. Aber diese Fragen reichen viel tiefer an die Grundbefindlichkeit des Menschen heran. Sie müssen den Widerstreit zwischen der Eigenständigkeit des Einzelnen und der Gemeinsamkeit des Ganzen, zwischen Repräsentation und Identität umfassend im Auge haben. So gesehen ist aber auch Kirchenverfassung nicht eine organisationssoziologisch zu ermittelnde nützliche Verbandsform, sondern eine existentiale Frage, in der ein wesentliches Element des Glaubens selbst zum Ausdruck kommt. Diese Aufgabe stellt sich immer neu; sie ist in neuen Formen zu lösen, uns aber ermöglicht und aufgegeben.

LeerDie Verfassungsgeschichte der marxistisch regierten Länder läßt erkennen, wie hier aus einem mit großer Grundsätzlichkeit an der Machtfrage orientierten und insoweit religiösen Antrieb eben gerade das versucht worden ist. Als Ergebnis ist herausgekommen, was der eigenen Aufgabenstellung und dem eigenen Ziel genau widerspricht. Der institutionelle Marxismus hat nicht vermocht, die bürgerlichen Freiheiten der ersten Aufklärung in die zweite aufzuheben und zu übernehmen. Daran zeigt sich, daß der eine Pol mit dem anderen vertauscht, die Versöhnung aber nicht erreicht worden ist, und auch nicht erreicht werden kann.

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LeerDie radikale Enttäuschung aber, nicht nur an der notwendigen Begrenztheit menschlicher Gestaltung, sondern auch an dem Scheitern der institutionalisierten Revolution, führt dann unweigerlich in die radikalste Form des Verbrechens, das aller Welt den Krieg ansagt, um alle Welt zu heilen. Der Mensch macht sich vom Gesetz aller Mitmenschlichkeit frei, um der idealen Menschheit zu dienen. So wird gewaltsam versucht, jenen kainitischen Widerspruch dadurch zu lösen, daß man im dialektischen Überschrift radikalste Gewalt und vollkommene Befreiung in eins setzt. Es gibt daher durchaus eine existentialtheologische Interpretation der Erscheinungen der radikalen Linken, die in handgreifliche Verzweiflung ausgebrochen ist, die zugleich aber von der verfaßten Linken, der institutionell disziplinierten Bewegung mit Spott, Hohn und Ablehnung preisgegeben wird.

LeerKirche aber ist drittens communicatio. In der heutigen Lage wird dieses dritte Problem und Phänomen, das der Kommunikation besonders verständlich. Ehedem schien die Trennung der Sprachen und Kulturen unübersteiglich. In einer interdependenten Welt, in der Welt des Historismus und der Soziologie sind uns heute Zusammenhänge und Lebensformen verständlich, die ehedem verschlossen waren. An die Stelle dieser Scheidungen aber sind heute die verschiedenen Sprachwelten der Schichten, der Disziplinen, der Generationen getreten. Sie machen die scheinbar gewonnene Kommunikation zum neuen Problem, ihre Grenzen sind eher noch schwerer übersteiglich als die früheren. Die Polarisation der Gegensätze macht es zusehends sogar unmöglich, sich wie ehedem über konkrete Gegenstände zu streiten, weil jede Position ideologisch hinterfragt wird - man ist schon geschieden, bevor man anfängt sich auseinanderzusetzen. Vollends die Scholastik der Revolution redet eine Sprache der Theorie, die der einfache Mann, auch der gebildete Außenstehende, nicht versteht.

LeerGrundsätzlich aber ist in der Gemeinschaft der Kirche die Möglichkeit der Verständigung gegeben. Sie kommt in der Aufforderung im Gottesdienst zum Ausdruck: „Erkennet euch in dem Herrn”. Hier zeigt sich eine entscheidende Befreiung. Die Kirche hat von Anbeginn allein nur durch die Identität des gleichen Herrn und des gleichen Geistes bestanden. Sie vermag daher jeden Christen zu jeder Zeit als den ihren zu erkennen, auch wenn seine Aussagen und Lebensformen nicht mehr die gegenwärtigen sind. Durch diese geschichtliche Kommunikation in der Kontinuität befreit sie die heutige Menschheit davon, ihre Kommunikation durch die Verdammung und Austilgung von Geschichte zu ermöglichen, Geschichte zu verdrängen. Wo immer dies geschieht, wird Kommunikation gerade unmöglich gemacht. Es bleibt dann nichts weiter übrig als die Folge der Generationen und Epochen, eben jener Zwang, den man aufzuheben versucht hat.

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LeerDaher ist Kirche mit „congregatio” nicht zugänglich umschrieben, vollends kann sie nicht als societas, Gesellschaft eigener Art verstanden, sondern nur in der Dreiheit von communio, communitas und communicatio gefaßt werden. Ich benutze ungern jene lateinischen Ausdrücke, die leider durch den Verschleiß des entsprechenden deutschen Wortbestandes unvermeidlich geworden sind. Dies hat alles einen sehr unmittelbaren Bezug zu konkreten Vorgängen in den heutigen verfaßten Kirchen. Meine Einwendungen gegen die Leuenberger Konkordie sind nicht dazu bestimmt, ein Dokument des guten Willens und einer vielleicht streckenweise nützlichen ökumenischen Kirchenpolitik zu entwerten. Es ging mir darum, zu zeigen, daß in der traditionellen Selbstbezogenheit dieser Texte die entscheidenden Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft beiseite gelassen worden sind. Die im Vorentwurf vorhandene selbstkritische Einsicht, „daß der kommunikatorische Gehalt der Rechtfertigungslehre neu zu gewinnen sei”, ist zugunsten der Bereinigung alter Formeln alsbald wieder verschwunden.

LeerDie eminente Aufgabe, das Evangelium auch in der Verfassung der Kirche zu bezeugen, das positive Verhältnis von Bekenntnis und Ordnung - im Sinne von Barmen - als wesentlich festzuhalten, ist der bequemen Ausklammerung dieser Probleme gewichen. Die ökumenische Gemeinsamkeit vollends ist aus einer grundlegenden uns gnädig verliehenen Voraussetzung zu einem wohlmeinenden Folgesatz ohne bewegende Kraft geworden. Genau die gleichen Fehler aber wies der Entwurf eines Grundgesetzes der römischen Kirche auf, der in ängstlicher Selbstbeherrschung ihrer hierarchischen Struktur die Kirche als communio, das auch in ihr sich anmeldende Verfassungsproblem und die ökumenische Gemeinsamkeit entgegen der Haltung des Zweiten Vatikanischen Konzils verleugnete oder beiseite schob. Was aber lag diesem übereinstimmenden Versagen als Problem zugrunde? Der dreifache Charakter der Kirche als communio, communitas und communicatio!

LeerWenn das Evangelium Fall und Heil vermittelt, so muß auch das Selbstverständnis der Kirche und ihre Gestalt der condition humaine entsprechen, die uns im mythischen Gewande in unerhörter Klarheit begegnet. Von einer solchen Einsicht her aber stellt sich der Ansatz, der Bereich und die Methodik dessen, was christliche Ethik heißt, in wesentlich anderen Perspektiven dar. Die Christenheit sollte sich weder defensiv verschanzen noch progressiv verlaufen; sie sollte sich jenen drei Aufgaben entschlossen zuwenden: das Evangelium als communio zu begreifen, auszulegen, zu leben, die Verfassung der Kirche in diesem produktiven Widerspruch überzeugend zu gestalten, und eine konkrete Form ökumenischer Gemeinsamkeit auszubilden. Ihrer Aufgabe und damit dem Menschen dienen keine neuen Gesamtdefinitionen von Evangelium, Kirche, Mensch, Welt, kein neuer Monismus, der ebenso umfassend wie vieldeutig und willkürlich ist. Der Weg neuer Theologie und neuer Lebensformen wird lang, aber als ein Stück neuer Einsicht und neuen Gehorsams fruchtbar sein.

Quatember 1973, S. 140-150

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-24
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