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Liturgische Nacht
von Peter Cornelius Jansen

LeerVier Stunden lang hielten feste Form und Beschäftigung des einzelnen nach Belieben, hielten quirlendes, jahrmarktähnliches Treiben und gesammelte, andachtsvolle Stille, hielten Unbekümmertheit und Ernst einander in staunenswerter und beglückender Weise in Balance.

LeerDie Messehalle, in der die Liturgische Nacht stattfand, war in eine mit Stühlen halb besetzte und in eine völlig leere Hälfte geteilt durch ein großes Podium, von dem aus die Ereignisse der Nacht gesteuert wurden. Auf ihm sorgte von 19.30 Uhr an eine Band für die Einstimmung der Besucher. Die kamen, sahen sich in der Halle erst einmal um, trafen Bekannte und suchten sich einen Sitzplatz oder ergatterten eine Luftmatratze. Der offizielle Beginn war gegen 20 Uhr: die Anwesenden wurden begrüßt und in den weiteren Verlauf der Nacht eingeführt. Nach einigen neuen geistlichen Liedern - zum Teil von allen mitgesungen - hielt ein indischer Theologe eine Meditation. Es gelang ihm, wenn auch unter erheblichen Mühen, die Menschen zum Schweigen und zur Ruhe zu bringen und sie dazu zu bewegen, einige Minuten lang in sich hineinzuhorchen. Danach konnte man eineinhalb Stunden lang tun was einem gefiel. Gedacht war diese Zeit als Möglichkeit, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Um dies zu unterstützen, hatte man - neben vielem anderen - auf dem Fußboden große Papierflächen ausgelegt, die zum Malen einluden: weil die Leute, die nebeneinander malten, einander unweigerlich ins Gehege kamen, kamen sie auch in Kontakt miteinander.

LeerMit kleinen Musikinstrumenten (angeboten von der Aktion „Dritte Welt Handel”) konnte man für sich alleine oder spontan mit anderen zusammen improvisieren. Man konnte in der Halle Spazierengehen, essen, rauchen, sitzen, sich unterhalten, trinken, schweigen. Während der ganzen Zeit machte die Band auf dem Podium Musik, und unter der Anleitung des Inders konnte man oben sich nach ihr bewegen. Die Bewegung griff auf die Halle über: spontan entstanden Gruppen, die nach der Musik in einer Art Ringelreihen oder in längeren Ketten tanzten. Das hatte eine erhebliche Sogwirkung auf die Umstehenden, zumal immer wieder Zuschauer einfach bei der Hand gefaßt und in den Tanz mit hineingezogen wurden. Das Tanzen griff allmählich immer weiter um sich. Die Bewegung des Tanzens bekam schließlich eine Richtung und mündete ein in eine Prozession rund um die Halle und schließlich zum Podium. Als sie zum Ende gekommen war, sah jeder zu, daß er zum Sitzen kam-auf den Stühlen, den Luftmatratzen oder den Stufen des Podiums.

LeerSobald alle saßen, wurde „Herr, erbarme dich” in einer sehr eingängigen Melodie gesungen, und dann wurde Brot herumgereicht, von dem jeder sich etwas abbrach, und Rotwein in Flaschen, den man unter sich teilte. Dabei wurde aus Markus 6 die Geschichte vom Speisungswunder vorgelesen. Nach dem Essen wieder Meditationsstille und dann Singen. Überraschend tauchte gegen Ende der Generalsekretär des ökumenischen Weltrats der Kirchen, Philipp Potter, auf dem Podium auf. Er beschloß die Liturgische Nacht mit dem bekannten lateinamerikanischen Vaterunserlied, bei dem er selber den Vorsängerpart übernahm. Beglückend wurde in all dem deutlich, wieviel Offenheit, Spontaneität und unmittelbare Eingängigkeit auch bei uns in einem Gottesdienst möglich ist.

Quatember 1973, S. 235-236

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-08
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