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Alleinseligmachende Meditation?
von Walter Stökl

LeerMeine Mutter, eine gute evangelische Christin, aber aufgewachsen in den protestantischen Formen des 19. Jahrhunderts, hat sich hochbetagt noch mit der Frage gequält: Muß ich zur Einzelbeichte gehen? Es war modern geworden, daß auch evangelische Christen beichten. Ich habe sie sehr beruhigt und ihr gesagt: Selbstverständlich mußt Du diesen Dir ganz ungewohnten Weg nicht gehen, es ist ja nicht heilsnotwendig, daß sich jemand der Einzelbeichte unterzieht. Das hat meine Mutter getröstet.

LeerDas aber kann man auch zur Meditation sagen, die jetzt so modern geworden ist, besonders in der Gestalt der Zen-Meditation. Ältere Brüder sagen: Ich bleibe bei der gewohnten Betrachtung aus Bruder Happichs Zeiten, wie wir das durch Bruder Karl Bernhard Ritter und andere in der Bruderschaft gelernt haben. Umlernen kann ich nicht mehr. Diese neueste Gestalt geistlicher Übungen ist mir unheimlich, ich kann sie nicht vollziehen. Gut, wenn das offen und brüderlich ausgesprochen wird. Vielen Michaelsbrüdern und Berneuchenern wird es so gehen. Auch die „Information über Meditation”, die der Arbeitskreis für Geistliche Übungen in der evangelischen Michaelsbruderschaft herausgegeben hat, wird hier kaum eine Hilfe bedeuten.

LeerDie Meditation ist wirklich nicht heilsnotwendig. Eine bestimmte Meditationsmethode ist wirklich nicht der alleinseligmachende Weg zur Vollendung. Es ist  e i n  Weg. Unter uns sind solche, die es persönlich erfahren haben, daß ihnen auf dem Weg der Meditation das Schriftwort in der Tiefe des Herzens lebendig geworden ist, daß es sie in der Meditation ganz anders bewegt und herausfordert. Sie haben es erlebt, daß ihr Gebetsleben reifer, gesammelter, eindringlicher geworden ist. Sie haben Konzentration, Überwindung der einseitigen „Kopflastigkeit”, größere Durchlässigkeit, innere Ruhe und Klarheit gewonnen. Man muß das denen einfach abnehmen, die das dankbar bezeugen.

LeerNeben der Meditation gibt es andere Wege der Verkündigung, des Umgangs mit dem Wort, des Gebetes, des Einswerden mit Christus. Es ist auch durchaus anzuerkennen, daß der vom Heiligen Geist gewirkte Enthusiasmus, die charismatische Gabe der Krankenheilung, das engagierte, authentische christliche Leben durchschlagende Kräfte haben können und daß „Zeichen und Wunder” auch dort geschehen, wo man nicht meditiert und nicht von dem Einfluß asiatischer Meditationsformen in dem Raum des Christentums weiß.

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LeerAuch in den überkommenen Gebetsformen der uns gewohnten Gottesdienste ist der Herr gegenwärtig, wird seine Gnade erfahren, kann das Herz angerührt werden. Die Meditation ist nicht der einzige Weg, nicht die alleinseligmachende Methode, aber sie ist eine wirkliche Hilfe für eine wachsende Zahl von Menschen, sich Christus von Neuem zu öffnen.

LeerEs sind auch bestimmte Menschengruppen von Meditationsübungen von vornherein auszuschließen. Gewiß ist es nicht die Art des Kindes, sich Gott zu nähern; auch junge Menschen in der Pubertät werden im allgemeinen weder offen noch bereit dazu sein. Sie müssen sich zunächst nach außen wenden, die Welt und sich selbst erfahren. Die Wendung nach innen wird erst bei der abklingenden Phase der Pubertät wieder stärker eintreten. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Ausgeschlossen werden von der Meditation müssen aber die seelisch Labilen, die geistig Erkrankten, die vielen Menschen, die Depressionen und Neurosen unterliegen. Natürlich nicht, wenn der Arzt die Meditation in Form des Heilschlafes und der Hypnose anwendet, wenn er die Meditation diagnostisch gebraucht und therapeutisch anwendet. Aber zu Meditationskursen, meditativen Einkehrtagen sollten solche Menschen nicht kommen, es sei denn, eine kleine Zahl von Teilnehmern ermöglicht individuelle Aussprache und Behandlung. Heilende Meditation gehört in die Hand des Arztes. Bei manchen Methoden der Zen-Meditation werden die Lebenszentren stark angesprochen, das ist ein verantwortliches Tun. Hier ist Vorsicht geboten. Man kann das, was im Zen-Kloster möglich ist, nicht einfach übertragen.

LeerWenn es sich auch um psychisch gesunde Teilnehmer handelt, so ist ein größerer Kreis oft nicht geeignet, den Einzelnen wirklich behutsam in die Tiefenmitte seines Seins zu begleiten. Auch hat die Meditation bestimmte, nicht immer beachtete Vorbedingungen. Die Zen-Mönche, aber auch die meisten indischen Yogis leben in radikaler Askese. Sie halten Kälte und harte Witterung aus, verzichten auf die Annehmlichkeiten der Zivilisation, sie nehmen geringe und kalorienarme Nahrung zu sich - in radikalen Fastenwochen ohne jede Nahrungsaufnahme ist die Möglichkeit zu echter Meditation wohl am größten -, sie üben Askese auch im Blick auf das geschlechtliche Leben. Auch wo Männer und Frauen in Einkehrtagen miteinander meditieren , sollten sie in Distanz voneinander leben. Das sind alles Vorbedingungen, die unerläßlich, aber nicht überall herstellbar sind. Man kann nicht meditieren, sich in die Tiefe der Meditation sinken lassen, wenn die Möglichkeit besteht, daß einen das Telefon oder die Klingel an der Haustür herausreißt. Das kann gefährlich sein. Deshalb bedarf es des Einkehrhauses, des „Hauses der Stille” mit besonderen Meditationsräumen, die gegen Geräusche abgedichtet sind und bis in die körperliche Haltung hinein völlige Stille, Versenkung, Eingehen in das Innerste des Seelengrundes erlauben. Kapellen und Kirchen sind auch nicht immer geeignet, weil das Sitzen in der Kirchenbank eine meditative Haltung und das richtige Atmen erschwert.

LeerWelchen Dienst kann uns nun das Meditieren leisten? Daß hier etwas Heilsames geschieht, liegt nicht in unserer Macht. Es gilt auch hier der reformatorische Grundsatz „ubi et quando visum est Deo”. Es ist auch hier alles Gnade. Die Meditation ist nicht eine in unsere Hand gegebene sichere technische Methode, die das Himmelreich aufschließt. Auch der Zen-Buddhist Japans muß oft lange auf die Stunde der Erleuchtung warten und erlebt sie vielleicht nie, trotz aller Hingabe und aller Bereitschaft zur Askese.

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LeerWas kann, wenn Gott Gnade gibt, durch die Meditation gewirkt werden? Natürlich „meditieren” wir dauernd, ohne daß es uns bewußt wird. Unsere Wachträume sind auch eine Form der Meditation. Das innere Anschauen des geliebten Menschen, den wir uns im Herzen „einbilden”, ist natürlich Meditation und zeigt, wie nahe die religiöse und erotische Sphäre in uns beieinander liegen. Die naturale Meditation des Alltags hilft uns zum bewußt tieferen Erleben des Morgens, des Abends, der Nacht, eines Baumes, der Sonne, der Sterne, meines Leibes, des Atems, der Bewegung, des Tanzes, um nur einiges anzudeuten. Bei christlichen Meditationskursen geht es als Vorübung um das alles auch, aber wenn ein Leer- und Freiwerden erreicht wird, wenn das ständige diskursive reflektive Denken abklingt, wir in die große Stille kommen, dann ist es wichtig, was nun diese Leere ausfüllt, welche Bilder und Symbole wir anschauen, was wir in die Tiefe unseres Herzens einlassen. Es kann sich für Christen bei allem demütigen und notwendigen Übernehmen östlicher Meditationsmethoden nur um christozentrische Meditation handeln.

LeerAllein schon die Erfahrung der Stille, des Schweigens in unserer unruhigen hektischen Zeit, ist eine unendliche Wohltat. Schweigen ist schon Meditation, Tage hindurch völlig schweigen und in der Stille des Schweigens leben, ist an sich schon eine heilsame Erfahrung. Kommt dazu die Meditation der Christuswahrheit in Symbol und Schriftwort, werden wir zu innerem Vertrauen und innerer Zuversicht gelangen.

LeerIch habe in letzter Zeit bei Einkehrtagen zehn Meditationen über den 23. Psalm gehalten. Satz für Satz haben wir nach Luther „wiedergekaut”, anschauend, verkostend, verweilend in uns aufgenommen, bis der ganze Psalm in der Herzmitte unglaublich lebendig wurde. Er war auf einmal gefüllt mit Wirklichkeit. Die Teilnehmer haben sich vorgenommen, eine lange Zeit diesen Psalm, der so sehr ihr innerstes Eigentum geworden ist, täglich zu beten, meditierend zu beten. Der Psalm enthält ja eine ganze Reihe sehr anschaulicher Bilder. In der Meditation ziehen wir diese Bilder in uns hinein, wir lassen sie in uns eingehen, wir hören die Psalmworte nicht nur, wir schauen sie und identifizieren uns in der Meditation mit dem Angeschauten. Es kann also auch der Christ, der es nicht wagt, sich ganz loszulösen und in die unbekannte Erfahrung schweigender Meditation hineinzubegeben, in der man einfach wartet auf das, was einem widerfährt und geschenkt wird, in enger Bindung an das Schriftwort wunderbare meditative Erfahrungen machen, die sich wirklich belebend, tröstend, fruchtbringend auswirken. Neben dem Schweigen und der Tiefenmeditation gibt es eine weitere Möglichkeit meditativer Erfahrung, die jedem Christen zugänglich ist: Die Nachtwache. Daß kleine Gruppen abwechselnd zwei bis drei Stunden in einer Kirche „Nachtwache” halten, betend, singend, meditierend, mit brennenden Kerzen durch den dunklen Raum schreitend, gibt diesen Betern die große Erfahrung, daß man das Licht in die Finsternis trägt und daß die Glaubenszuversicht die Dämonen verscheucht. Dieses geistliche „Happening”, dieses meditative Handeln ist für den Menschen unserer Tage, der die Realität der Nacht so wenig erfährt, der die Macht des Gebetes so wenig kennt, eine aufwühlende schockierende Erfahrung. Durchbetete, durchwachte Nächte in der Gemeinschaft der Beter, völlig erfüllt von der Christusgegenwart, können bis in unsere unruhigen Nächte, bis in unsere Schlaflosigkeit hinein Bedeutung haben.

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LeerZum weiteren Gebiet der Meditation gehört auch das Herzensgebet, das Beten mit dem Herzton, mit dem Atem. Immer das gleiche Wort - es können sehr verschiedene Worte dazu gewählt werden, - in ruhigem ständigem Schwingen des Gebetes mit dem Herzen und dem Atem wiederholen! In der Ostkirche, bei den Hesychasten oder den Athosmönchen oder bei dem russischen Bauern, der durch das Herzensgebet die Gabe des Heilens empfangen hat, spielt diese Art des Gebetes eine große Rolle. Auch der Rosenkranz der westlichen Kirche gehört hierher. Er bedeutet für manchen Menschen eine wesentliche Hilfe zur inneren Beruhigung, zur Gewinnung friedvoller und trostreicher Stille im Herzen. Wie ungewohnt diese Gebetsform sein mag, so aufmerksam sollten wir auf die hören, die von den Erfahrungen mit dieser Art des Betens berichten. Bei diesem Beten „denkt” man nicht, es betet in einem. Wir sind ganz und gar hineingenommen mit Leib, Seele und Geist in dieses Geschehen des Heiligen Geistes in uns. Schließlich kann man auch im Gottesdienst die Gebete, Gesänge und liturgischen Stücke, vor allem auch die Psalmen, nicht nur mit dem Verstand vollziehen. Der ganze Mensch betet, singt, hört, schaut an. Von da aus sind die gleichbleibenden Stücke des Gottesdienstes so wesentlich und die Gebärdensprache wie die Hilfe der bildenden Kunst zur Anbetung so wichtig. Alle ständige Wiederholung, alles dauernde Ansehen des Bildes und Symboles hat ein meditatives Element.

LeerDie Meditation hat also ihre Verheißung. Sie ist ein neuer und doch uralter Weg, den die Mystiker auch des Westens zu allen Zeiten wohl gekannt haben. Heute, wo die Aktion so im Vordergrund steht, ist die Meditation und die Kontemplation ein notwendiges Gegenstück. Sendung ist nur möglich, wenn sie immer wieder aus der innersten Sammlung hervorgeht. Max Thurian, der frère von Taizé, hat das Buch geschrieben über „Aktion und Kontemplation”, und in der Vorbereitung des Konzils der Jugend spielt bei der so außerordentlich aktivistischen Gruppe der Taizébrüder und der dorthin strömenden Jugend die Meditation und Kontemplation eine große Rolle. Engagierte Christen, die ihr Leben hinopfern und verzehren im Dienst an den Brüdern, bedürfen der Sammlung im Gebet besonders. Nur aus der Tiefe der Meditation kann die Kraft geschenkt werden, in der Härte der Aktion auszuharren.

LeerDie größte Meditation ist aber die Feier der Eucharistie. Sie ist die ständige Christusmeditation, das ständige Begehen des Heilsweges. Wer in der Eucharistie lebt und sie häufig feiert, lebt von selbst in einer großen christozentrischen Meditation, freilich vorausgesetzt, daß die Feier der Eucharistie nicht zum programmierten Gottesdienst und zu Glaubenspropaganda wird. Die Feier des heiligen Mahles bedarf der Stille, der Einkehr, der Tiefe, des Gebetes, der Anbetung. Neben der schlichten Feier um den Tisch, die heute wieder nach urchristlichem Vorbild in den Häusern hin und her gehalten wird, und dem musikalischen Hochamt, ob es Gregorianik, Barock oder Jazz ist, bedarf es der stillen meditativen Form der Eucharistie, die durch ihre immer gleiche Gestalt uns das Tor zum Mysterium aufschließt. Das ist das Erstaunliche der orthodoxen Chrysostomosliturgie, daß sie tausend Jahre in den verschiedensten Sprachen und doch immer gleich gefeiert wird, daß man sie nicht „verstehen” kann, daß man sich aber der Tiefenwirkung des ganzen Geschehens nicht zu entziehen vermag. Es ist also Meditation - wir haben hier nur andeutungsweise von ihr gesprochen und viele Probleme nicht berührt - ein heilsamer Weg, der uns gerade jetzt durch die providentia Dei aufgeschlossen wird, wo Ost und West sich schicksalsmäßig begegnen.

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LeerMögen die, die fröhlich und dankbar ihre Frömmigkeit leben, die sich ihnen bewährt hat, getrost dabei bleiben. Aber es ist ein Zeichen echter Ergriffenheit durch den Glauben, daß man duldsam ist, und darum mögen die, die sicher ihres Weges gehen, die andern zu verstehen suchen, denen vieles zweifelhaft geworden ist und die nach neuen Wegen suchen. Der Mensch unserer Tage ist weitgehend mit seinen Künsten zu Ende und in Gefahr, der Verzweiflung, Depression und Angst zu verfallen. Wir können nicht aus dieser Welt flüchten, aber wir können uns ausrüsten und helfen lassen, diese Welt zu bestehen. Wir können nicht Zen-Mönche werden, wir wollen auch nicht als Yogis durch die Welt ziehen, vielleicht wagen wir es auch nicht einmal, auf längere Zeit in einem Kloster mitzuleben - aber das können wir, auf einige Tage uns herauslösen, um in die Welt der Meditation einzutauchen. Schon das wird vielen eine Hilfe sein, besonders dann, wenn sie im Alltag weiterklingt und die Gestalt unseres Lebens verändert. Meditation ist gewiß nicht heilsnotwendig, sie ist nicht der Weg der Rettung, aber sie kann zu neuer Christusbegegnung, zu neuem Lebensmut und neuer Glaubenszuversicht führen. Diejenigen aber, denen die Heilsfreude und das volle Leben mit Christus auf andere Weise geschenkt worden sind, mögen getrost ein wenig lächeln über die, die jetzt von der Meditation alles erwarten.

Quatember 1974, S. 11-16

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-12-12
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