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Sind Bibelsprüche Gottes Wort?
von Herbert Goltzen

LeerIn unseren gedruckten Bibeln sind die Schriften in Kapitel und Verse eingeteilt. In älteren Ausgaben ist sogar jeder numerierte Vers einzeln gedruckt, von den andern abgesetzt. Es ist schon eine Verbesserung, daß neuerdings der Text in sinnvolle Abschnitte gegliedert und jeder Abschnitt in fortlaufenden Zeilen gedruckt ist, zwischen denen, oder am Rande des Satzspiegels, die Verszahlen unauffälliger klein gedruckt sind. Natürlich haben die Verfasser der biblischen Schriften ihre Berichte, Zeugnisse, Weissagungen, Briefe und Reden nicht in einzelnen numerierten Sätzen niedergeschrieben.

LeerErst im 13. Jahrhundert hat ein Kardinal die lateinische Bibelübersetzung in Kapitel eingeteilt. Nach Erfindung des Buchdrucks hat der imprimeur du Roi Robert Estienne zuerst 1513 die Psalmen, 1548 die lateinische Vulgata, 1551 ein griechisches Neues Testament mit numerierter Verseinteilung gedruckt. Durch den Druck in abgesetzten bezifferten Versen entsteht zwar ein falsches optisches Bild. Man muß sich immer wieder klar machen, daß eine „Epistel” eben ein wirklicher Brief und nicht eine Blütenlese von einzelnen „Sprüchen” ist. Aber die in allen Sprachen inzwischen eingeführte Einteilung und Numerierung ist praktisch unentbehrlich. Sie ermöglicht uns, in der Bibel eine Stelle zu finden, die in der Predigt, im Unterricht, in wissenschaftlichen Auslegungen behandelt und zitiert wird. Natürlich hebt man aus biblischen Schriften, genau wie aus anderen Werken, die über den Augenblick hinaus Menschen beschäftigen, Zitate heraus, als Text der Predigt, zu Trost und Mahnung, zur Begründung von Glaubenslehren, als Ruf und Losung wie als Beleg in wissenschaftlicher Darlegung. Der Fundort wird nach Kapitel- und Verszahl angegeben. In manchem Bibeldruck werden auch „Kernstellen”, die besonders bekannt und wichtig erscheinen, dick gedruckt oder durch besondere Typen hervorgehoben.

LeerDiese praktische Druckanordnung und Kennzeichnung jeder „Stelle” der Bibel hat aber auch ihre Gefahren. In den reformatorischen Kirchen ist die Gründung von Glaube und Verkündigung besonders auf Bibelworte gegründet. Bis in unser Jahrhundert hinein galt ein großer Teil der Bemühung im Unterricht der Einprägung von Bibeltexten; zu den „Hauptstücken” des Katechismus wie als Memorierstoff weiterer Themen der christlichen Unterweisung wurden Bibelsprüche angegeben. In der gelehrten Glaubenslehre der Väter wurden als dicta probantia (Beleg- und Beweisstellen) Bibelstellen zitiert, wie das auch in der heutigen wissenschaftlichen Literatur selbstverständlich (historisch-kritisch) geschieht. Diese handliche Benutzung der Bibel hat aber dazu geführt und . . . verführt, daß sie sich wie eine Fundgrube von einzelnen großen und gewichtigen „Worten” darbietet. Es ist trotz der nicht abzuschätzenden Wirkung der Bibelübersetzung für den evangelischen Volksteil nicht gelungen, was Luther für das christliche Haus erhoffte, das Kirchenvolk zum zusammenhängenden Lesen der Heiligen Schrift zu bringen. Selbst die viel verbreiteten Hilfen zum Bibellesen, die Bibelleseordnungen mit ansprechenden Erklärungen werden oft nur „erbaulich” gebraucht: Man schlägt wohl nur selten den auf dem Blatt des christlichen Abreißkalenders angegebenen Schriftabschnitt auf, ehe man die „Andacht” liest, sondern man liest nur den einen auf dem Andachtszettel ausgedruckten Vers. Aber eben: Dem Kirchenvolk begegnet das biblische Wort in der Gestalt von Bibelsprüchen. Der „Konfirmationsspruch”, der „Trautext”, der Spruch auf der Todesanzeige und für die Trauerpredigt, - ein Spruch, mit dem mancher Pfarrer eine Gruppe von Abendmahlsgästen vom Altar entläßt, - ein Spruch, den ein frommer Lehrer oder Verwandter dem Kind ins Gesangbuch oder ins Album schrieb - ein „Votum”, das einem Kirchenvorsteher bei seiner Einführung oder einem Pastor unter Handauflegung bei seiner Ordination mitgegeben wird - in dieser Form einzelner Sprüche übt die Bibel ihre unbestreitbare Wirkung aus, selbst bei denen, die sie weder im ganzen noch in ihren einzelnen Schriften lesen und verstehen können oder wollen.

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Leer„So spricht der HERR” - aus der Begegnung mit dem gegenwärtigen Gott und Herrn haben die biblischen Zeugen „vom heiligen Geist getrieben, im Auftrag Gottes geredet” (2. Petr. 1, 21). Aus dieser Begegnung mit dem sie anredenden Herrn kam es zum Weitersagen und zum Überliefern: „es steht geschrieben”. Hinter jeder Schrift des Alten und Neuen Testaments steht die Autorität des sich offenbarenden Gottes, die der hörenden und lesenden Gemeinde auch das geschriebene und überlieferte Schriftwort glaubwürdig macht. Der Respekt vor dem biblischen Zeugnis hat sich früher in der Theorie von der „Verbalinspiration” ausgedrückt: die Leitung der Zeugen und Schreiber durch den Hl. Geist schien sich nicht nur in ihrem Zeugnis von der ihnen widerfahrenen Begegnung, im Einsatz ihrer Person für ihre Verkündigung auszuwirken, sondern der Heilige Geist habe sie wie Schreiber beim Diktat benutzt, so daß jeder Satz und jedes Wort, bis hin zu den hebräischen Vokalzeichen, (bei strengen Lutheranern bis hin zu den Sprachformen und Schreibweisen der Luther-Übersetzung letzter Hand von 1545), als solches unmittelbar „Gottes Wort” ist. In welcher Lage, aus welchem Anlaß, an wen, mit welcher seelsorgerlichen Absicht, in welcher Zeit, für welchen „Sitz im Leben” etwas geschrieben ist, mit welchen Denkformen und Aussagemitteln der biblische Autor sich und seine Absicht hat ausdrücken müssen und wollen - das braucht man dann nicht zu erfragen, man braucht es auch nicht erst sachgemäß in die eigne Lage und Zeit zu übersetzen. Man kann jedes Wort, aus jedem Zusammenhang heraus und unabhängig von seiner ursprünglichen Meinung ohne weiteres sich aneignen, es als Befehl oder als Garantie für den jetzigen Augenblick für sich in Anspruch nehmen. Der Respekt vor dem Heiligen, der sich in dieser Theorie ausspricht, ist respektabel. Aber die Konsequenz ist nicht zu halten. Die Bibel ist kein Automat von Orakelsprüchen, die jederzeit auf jede Lage „passen”, so daß man nur aufzublättern oder mit einer Nadel hineinzustechen braucht, um den „Spruch” zu finden, der wörtlich so Gottes Spruch für diese Stunde ist.

LeerDieser einfältige Respekt vor dem einzelnen „Spruch” hat große geschichtliche Wirkungen gehabt. Am eindrücklichsten zeigt er sich in den Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine. Am 3. Mai 1728 gab Graf Zinzendorf zum ersten Mal der Exulantengemeinde eine „Losung für den künftigen Tag”. Bald wurde es dort Übung, daß jeden Morgen ein Bruder aus einem Kästchen mit Bibelsprüchen und Liedstrophen ein Wort herausgriff und es in die Häuser rief. Seit 1732 wurden diese „Losungen” gedruckt. Sie werden bis heute aus einer Sammlung von etwa 1900 Einzelsprüchen des Alten Testaments für jeden Tag eines Jahres „gezogen” und im voraus gedruckt. Dazu wird dann ein passendes Wort des Neuen Testaments als „Lehrtext” gewählt. Dahinter steht das Vertrauen: „So überließen wir der Vorsehung, den auf jeglichen Tag gehörigen Zuruf selbst auszuwählen” (Zinzendorf 1731)! Unzählige Christen haben sich bis heute von den in vielen Sprachen verbreiteten Losungen leiten, trösten, ermutigen und bestätigen lassen. Goethe, Kaiser Wilhelm I., Graf Zeppelin, Bismarck, Hindenburg, Ludendorff, Theodor Heuß und gewiß auch manche heute verantwortlichen Leute nahmen die „Losung” so als Spruch Gottes entgegen. Gott kann auch durch ein solches Mittel zum Gewissen von Menschen reden.

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LeerUnd doch - diese Atomisierung der Schrift in Einzelsprüche (in der fragwürdigen Buchdruckereinteilung des Herrn Estienne) ist gewiß nicht ein unfehlbares Mittel zum Hören auf sein lebendiges Wort. Die Willkür der Auswahl von hunderten von Sprüchen und der Zufall eines Lotterieverfahrens, mit dem sie „gezogen” werden, darf nicht verwechselt werden mit der gehorsamen Annahme und Weitergabe dessen, was, wie Paulus es aussagt, „ich vom Herrn empfangen habe und euch weitergegeben habe” (1. Kor. 11, 23). Eine der bedenklichsten Mißdeutungen einer solchen Losung ist die naive Beschlagnahme von Verheißungen, die dem Gottesvolk Israel galten, für die eigne Sache, für die Sache des eignen Volkes. Im Frühjahr 1918 plante General Ludendorff eine letzte Durchbruchsoffensive an der Westfront. Den Termin ließ er sich bestimmen durch die Losung für 21.3.1918: 5. Mose 7, 6 - er äußerte beim Mittagessen im Hauptquartier über die „morgige Losung der Brüdergemeine”: ,„Das ist der Tag des auserwählten Volkes/ Können wir nun der morgen beginnenden Offensive nicht mit Vertrauen entgegensehen?” Ergreifend - und doch ein verhängnisvoller und abergläubischer Trugschluß, der zu einer blutigen Fehlentscheidung verführt hat! Wieviele Christen mißbrauchen so herausgerissene Bibelsprüche als frommes Orakel - die Bibel als Universalkartei, die für jede Lebenslage einen Antwortspruch auswirft.

LeerIm Neuprotestantismus bis zum Ersten Weltkrieg hat man vielfach Predigten über einzelne Bibelworte gehalten, die nur als „Motto” über einen selbst erdachten Gedankengang gesetzt waren. In einer Predigtsammlung aus dem Weltkrieg fand ich eine Predigt über Richter 7, 18 - und der Illustrator hatte eine Vignette im Jugendstil darüber gezeichnet und das Bibelwort etwas abgeändert: „Hie Schwert des HErrn und - Hindenburg!”, wobei der alte Gideon den Schnauzbart Hindenburgs unter seiner Panzerhaube trug. Und wieviel Predigten sind, auch 1933, gehalten worden: „Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat!” - auch die Predigt am 4. August 1914 wie die am 21. März 1933 (die Namen der ehrwürdigen und bedeutenden Kirchenführer seien taktvoll hier verschwiegen) gingen über einen Kurztext: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?” (Röm. 8, 31) . . . Wir haben es durch die erneuerte Schrifttheologie, damals durch Karl Barth, lernen müssen, nicht über solche Motto-Sprüche als Aufhänger für ein selbstgesuchtes „Thema” zu predigen, sondern einen Schriftzusammenhang zu befragen und ihn im Zusammenhang des ganzen Schriftzeugnisses und der Gesamterfahrung der Kirche auszulegen.

LeerAuch die Mitgabe einzelner Sprüche zu den Wendepunkten des Lebens kann ihr Bedenkliches haben - der konfirmierende Pfarrer ist kein Prophet und hat keine Zensur zu erteilen, wenn er den Denkspruch für den Konfirmanden aussucht. Wie oft muß ein Pfarrer (er sollte es jedenfalls!) einem Brautpaar oder trauernden Verwandten den Wunsch ausreden, als Text Offb. 2,10 c zu wählen: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben!” Es ist die Mahnung an eine vor dem Martyrium stehende, noch bekennende und bedrohte Gemeinde - nicht eine erbauliche Aussicht für zwei (hoffentlich) vor einer „treulich geführten” jungen Ehe stehende Leute oder eine „Würdigung” eines Ehrenmannes, der treu in seiner Stellung bis zur Pensionsgrenze, treu in seiner blühenden Familie, treu in seinem Dienst während seiner Soldatenzeit und dann sechzig Jahre treu im Kriegerverein und Pensionistenbund die Anerkennung von Gott und Menschen verdient hat. Ich lasse bei solchen Wünschen immer Offb. 2, 8-11 aufschlagen: „Passen Sie unter dies Sendeschreiben? Wollen Sie Märtyrer werden, oder ist in dem vergangenen Leben diese Treue bis an den Märtyrertod abgefordert oder bewährt worden?” Ein lieber Hilfsschüler wünschte sich als Konfirmationsspruch: „Du bist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe” - er hat es sich sagen lassen, als wir Matth. 3, 13-17 miteinander lasen, daß die Anrede dieses Wortes an einen andern gerichtet war.

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LeerDiese Betrachtung ist aus bestimmtem Anlaß entstanden. Ich habe Anfang des Jahres eine Predigt gehört und in christlichen Blättern Andachten gelesen über die „Jahreslosung” 1974: „Jesus Christus spricht: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen” (Joh. 8, 32). Es wurde manch Richtiges über die Begriffe „Wahrheit” und „Freiheit” gesagt: Die Problematik der Wahrheitssuche von den Ideen Platos bis zur Skepsis des Pilatus („Was ist Wahrheit?”), bis zur kritischen Ehrlichkeit der heutigen jungen Generation - von der faszinierenden Parole der „Freiheit” seit der Französischen Revolution bis zu der umstrittenen Deutung dieses Ideals in der sogenannten „freien Welt” des Westens wie in der Ideologie des Ostens oder in den „Befreiungsbewegungen” der Dritten Welt; der Wahrheitsbegriff der exakten Wissenschaft und die Begegnung mit der Lebenswirklichkeit in existenzieller Erfahrung. Und natürlich fehlte dann nach den durchaus zu bejahenden philosophischen, gesellschaftskritischen, zeitgemäßen und ansprechenden Erwägungen auch der Hinweis auf die Wahrheit Gottes und die Freiheit des in Gott gebundenen Gewissens nicht. Und doch - Jesus Christus hat all dieses Richtige und Interessante nicht gesagt! Wenn ich nicht Theologe wäre, so hätte ich es bereits gewußt, weil Joh. 8, 31 vor 55 Jahren mein „Konfirmationsspruch” war (also doch - Spruch!) - und daher mußte ich merken, daß dem Zitat das Entscheidende fehlte: „Jesus sagte zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet in meinem Wort, so seid ihr in Wahrheit meine Jünger, und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.” Darauf erregt sich der Widerspruch seiner Zuhörer, die sich doch als freie rechtgläubige Glieder des Gottesvolkes fühlen - und Jesus muß ihnen sagen: „Wer Sünde tut, ist Knecht der Sünde... Wenn euch der Sohn frei macht, dann seid ihr in Wahrheit frei.”

LeerEin Gespräch an der Kirchtür, bei dem sich oft treue Gemeindeglieder über die Predigt unterhalten, zeigte, daß keinem diese Verkürzung des Textes aufgefallen war; auch der Prediger hatte sich durch die Fassung der Jahreslosung eingrenzen und irreführen lassen. Ich hatte damals (1919!) meinem Konfirmator in einem persönlichen Gespräch mit der unbefangenen Ehrlichkeit und dem aggressiven Selbstbewußtsein eines vierzehnjährigen großstädtischen Gymnasiasten meine Zweifel an der von der Wissenschaft überholten Bibel und meine Kritik an der Rückständigkeit der Kirche gesagt. Eine Antwort war dieser Denkspruch Joh. 8, 31, aber das unverkürzte Wort Christi. Wahrheit ist nicht historisches Sachwissen. „Freiheit” ist keine revolutionäre Parole. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen” - das hätte auch die Schlange, der Versucher, dem Menschen versprechen können! „Wissen macht frei” - die Aussicht auf eine Zukunft ohne „Repression” und „Zwänge”, wo durch Planung und Wissen alle Naturkräfte unterworfen, alle gesellschaftlichen Strukturen rationell geordnet sind? Aber Jesus lädt ein, daß wir uns Ihm anschließen, daß wir „Jünger” werden. Wer sich an Sein Wort hält, wird die Wahrheit erkennen: die Wahrheit über unsern wirklichen Zustand als unfreie Menschen, die unter den Folgen der Abwendung von Gott leiden. Sein Wort: der Freispruch, der uns die Schuld abnimmt - die Botschaft von Seiner Hingabe für uns - der Ruf in die Herrschaft Gottes - die Freiheit von der Problematik des eigenen Ich - die Freiheit für die andern, die „Mitmenschen”, die Brüder. Diese „Wahrheit” lernt man nicht theoretisch. Nur der Lebensversuch wird erweisen, ob sie für uns gilt: „Wenn ihr bleiben werdet. ..” „Christ” ist man nicht dadurch, daß man Kenntnisse von der Bibel, Ansichten über dogmatische Wahrheiten und moralische Grundsätze hat - man wird „Jünger” nur, wenn man sich Jesus anschließt, wenn man „an seiner Rede bleibt”, wenn man mit Ihm, der das Wort ist, lebt.

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LeerDann, nur dann wird man frei, frei von der Schuld, von Angst und Krampf, frei für Gott, frei für die andern. Nur mit diesem Vordersatz, dem Ruf zur Nachfolge, wird der „Spruch” zu dem gültigen Wort Jesu. Viele kennen den Zusammenhang des Evangeliums nicht, sie werden nicht nachlesen, was Jesus nach Joh. 8 gesagt hat. Für sie ist ja auch der herausgehobene Spruch, die plakatierte Jahreslosung gemeint. Wer aber nur einen solchen aus dem Zusammenhang gerissenen Halbvers zu sehen kriegt, der kann seine Botschaft nicht hören, er wird durch solche Halbwahrheit verführt, dies Motto als Allerweltsweisheit zu verstehen. Wie alle solche „Bon-Mots”, solche schönen und „goldenen Worte”, die auf jedem Reklamekalender stehen, bleibt es ein geistvoll belangloser Aphorismus - oder führt in die Irre. Wenn diese unglückliche Zurechtstutzung eines Spruches zu einer philosophischen Banalität nur einmal vorgekommen wäre, könnte man darüber hinwegsehen. Wir mußten eine solche Tendenz aber in den letzten Jahren mehrfach beobachten. Betroffen davon sind vielfach die „Jahreslosungen” und die damit zusammenhängenden „Monatssprüche”. Die Jahreslosung 1970 lautete: „Halte fest an Barmherzigkeit und Recht und hoffe stets auf deinen Gott!” Konnte der Hörer ahnen, daß diese beherzigenswerte Ermahnung zu Moral und Gottvertrauen als prophetischer Bußruf nicht an einen einzelnen Bürger, sondern an das selbstzufriedene, von Gott abgefallene Volk Israel gerichtet ist? Wer schlägt schon Hosea 12 auf: „Der HERR ist der Gott Zebaoth, HERR ist sein Name - so bekehre dich nun zu deinem Gott, halte fest an Barmherzigkeit.. .”? Die Predigt an das Volk Gottes, der Ruf zur Umkehr zu dem Einen, der heilig ist, der richten und heilen kann, ist ausgelassen, die die Voraussetzung für Recht, Erbarmen und Hoffnung ist. Aus dem Ruf zur Umkehr (der Urbotschaft auch der Reformation in den Thesen!) ist mit dem isolierten Nachsatz eine ethische Mahnung zu Treu und Redlichkeit und Gottvertrauen geworden, die aus einem Aufklärungsgesangbuch stammen könnte.

Leer1971 hieß die Losung: „Nehmt einander an, wie Christus uns angenommen hat!” Wer die Evangelische Messe erlebt, dem war diese Stelle bekannt: „Nehmt euch untereinander auf, gleichwie euch Christus aufgenommen hat zu Gottes Lobe!” (Röm. 15, 7). Die Revision des Luthertextes spricht nicht mehr vom „Aufnehmen”, wie Christus uns Hilflose, Schuldiggewordene aufgenommen hat, sondern vom „Annehmen”. Der Psychotherapeut rät uns heute dazu, sich selbst und den Andern mit seinen Schwierigkeiten, Hemmungen und Störungen „anzunehmen”, und in diesem so gefaßten Wort erscheint Jesus als das Vorbild einer solchen gegenseitigen „Annahme”, einer „Übertragung” zwischen Patient und Arzt und umgekehrt. Ob der Gehalt der Botschaft erreicht wird, die Jesus Christus als den zeigt, der den Verlorenen aus dem Fall aufnimmt, der seine Schuld (als das „Lamm Gottes”) trägt und hinwegträgt, ist hier schon zu fragen. Aber warum ist das Motiv für das Wirken Jesu und damit für alles nachfolgende Leben seiner Jüngergemeinde ausgelassen: „gleichwie euch Christus aufgenommen hat zu Gottes Lobe”! Daß der Name Gottes verherrlicht wird, zu dessen Willen der Sohn Ja gesagt hat, dem zu Liebe es dann auch unter den Jüngern Jesu etwas geben kann wie Verstehen, Vergeben, Tragen, Annehmen und Aufnehmen - daß dies „Seht, wie sie einander lieben” nur hinweisen kann auf die annehmende Vaterliebe, die in dem Heilswerk Jesu wirklich geworden ist - dieser Urgrund und dieses Motiv aller Ethik, die aus dem Evangelium von Jesus Christus entspringt - dies ist dem Telegrammstil dieses Kurzverses zum Opfer gefallen.

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LeerEin Monatsspruch 1971 sagte kurz: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht”! Tapfer und anspornend - hätten wir nur Männer mit Zivilcourage, die sich nicht schämen, evangelisch zu sein. Aber dieses Kernwort des Römerbriefes sagt mehr als eine so forsche Parole: „Ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die da seligmacht alle, die daran glauben.” Wieder kam mir die Erinnerung an eine Predigt über diesen Vers, aber eben über den nicht verstümmelten, die im Revolutionsjahr 1919 unser Konfirmator bei unsrer Einsegnung gehalten hatte. Ohne den Hinweis auf Jesus Christus, der nicht nur ein Lehrer, sondern dessen Kreuz der Inhalt des Evangeliums ist, und ohne die Erfahrung der rettenden Kraft dieses Heilswerkes für den, der zum Glauben kommt - ohne das, was in dieser Kurzfassung leider ausgelassen ist, bleibt die bloße Bekundung der eignen Tapferkeit eine pathetische Banalität. Für November 1974 ist vorgesehen: „Gott spricht: Mein Volk kommt um aus Mangel an Erkenntnis.” Das Gerichtswort Gottes durch Hosea (Kap. 4) wendet sich gegen die Prediger, die die Weisung des Herrn nicht recht gepredigt haben. Sie allein, nicht das ahnungslose Volk sind verantwortlich dafür, daß „das Volk dahin ist, weil es ohne Erkenntnis ist”. Versäumnis und Versagen derer, die einen besonderen Auftrag in der Kirche haben, und die Verantwortlichkeit dieser ihrer Diener wird hier warnend herausgestellt. Es ist schwierig, aus dem Zusammenhang dieser prophetischen Rede einen Spruch herauszulösen, in dem sich ihre Intention konzentriert hören läßt; auch ist zu fragen, ob diese Rede, die auf einer Synode oder für die Bischöfe, Diener und Mitarbeiter der Kirche sehr dringend zu hören wäre, sich als Monatslosung für das ganze Kirchenvolk eignet. Dann soll man ein so besonders gerichtetes Wort aber nicht zu einer allgemeinen Feststellung verdünnen, sondern aus dem prophetischen Buch eine andere Stelle suchen, die sich zu einem gegenwärtigen Zuspruch an die Gemeinde eignet.

LeerAls vor einigen Jahren diese gefährliche Tendenz zur Verallgemeinerung und Verflachung bei der Auswahl solcher Jahres- und Monatslosungen angesprochen wurde, hat das einem der Mitarbeiter des Textplanausschusses, der die Auswahl der Sprüche vornimmt, weh getan. Er hat versichert - und das ist zweifellos zu glauben -, daß die Kreise, von denen diese Art der volksmissionarischen Arbeit getragen wird, gerade der biblisch-erwecklichen Frömmigkeit verbunden sind und mit den Versuchen nichts zu tun haben wollen, die Botschaft Jesu zu einer bloßen Moral der Mitmenschlichkeit oder einem gesellschaftskritischen Aktionsprogramm umzufunktionieren. Die Kurzfassung habe ausschließlich die Absicht, die Schriftworte dem Menschen der Gegenwart in einer behältlichen, einprägsamen Form in plakativer Kürze herauszustellen; zu lange und schwere Texte überfordern den heutigen Leser und Hörer.

LeerDie Zielsetzung und der Einsatz für missionarische Arbeit soll hier nicht kritisiert werden. Aber die angeführten Beispiele können nicht davon überzeugen, daß die zu so plakativer Kürze gestutzten Bibelsprüche noch den Zuspruch und Anspruch des Evangeliums so enthalten, daß der Hörer dadurch zu der Wahrheit eingeladen wird, die in Jesus Christus Gestalt angenommen hat. Ob nicht auch der heutige Mensch in einem eindrücklichen Satz die wenigen Worte oder einen halben Vordersatz mit aufnehmen könnte, die der Kürzung zum Opfer gefallen sind? Wenn aber die Auslassung dieser Worte den Hinweis auf das Lob Gottes, auf den Vorrang des Gottesreiches vor allen andern Werten, auf die Umkehr zum Herrn vor allem Tun, auf die Rettungsmacht des Evangeliums abblendet und damit den tragenden Grund aller Mahnung zu Recht und Barmherzigkeit, damit die Gemeinschaft mit Gott als Voraussetzung jeder rechten Beziehung zum Mitmenschen nicht mehr erwähnt - dann tut eine solche Losung nicht den Dienst, für ein Jahr oder einen Zeitabschnitt der Christenheit oder den Zeitgenossen eine Wegweisung durch das Wort Gottes zu geben, das in Jesus Christus hörbar geworden ist. Mit Zitaten richtig umzugehen, muß auf allen Sachgebieten gelernt sein.

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LeerAuch in jeder wissenschaftlichen Arbeit wird ein Zitat nur dann zu einem glaubwürdigen Beleg, wenn es so gewählt und abgegrenzt ist, daß es den Inhalt der zitierten Ausführung, die Meinung seines Autors sachgemäß erkennen läßt. Wie viel mehr ziemt es der Wiedergabe des in der Heiligen Schrift bezeugten Wortes Gottes, daß es auch in kürzester Zusammenfassung die Anrede durch die Offenbarung klar und unmißverständlich hören läßt. Andernfalls ist das Zitat, auch wenn sich seine Vokabeln in einem Spruch der Bibel wirklich finden, mißbraucht und verflacht. Der Hofbuchdrucker Estienne hat immerhin noch ganze Sätze als Bibelverse numeriert. Wenn aber nur noch Mini-Zitate als Kurzlosungen übrigbleiben, verlieren diese Satzfragmente die Autorität als Gottesworte. Die Bibel ist keine Spruchsammlung. „Es steht geschrieben” - das ist keine Garantie dafür, daß eine mit einem Satzbruchstück gedeckte Parole die von Gott ausgegebene „Losung” für den Weg der Gemeinde ist. Wir sollten zurückhaltender umgehen mit dem Austeilen von Bibelsprüchen für alle Gelegenheiten. Wer den Mut und die Verantwortung aufbringt, der Christenheit oder einem Kirchentag oder einer Familie oder einem einzelnen Gläubigen zu einem Wendepunkt des Lebens ein biblisches Wort als Weisung, Losung, Zuspruch mitzugeben, muß wissen, daß er kein Prophet ist. Die ins Leere gestellte Verheißung: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen...” ist falsche Prophetie!

LeerEine Predigt über ein einprägsames Motto, einen Kurzvers, macht es der Gemeinde nur scheinbar leichter. Der Prediger wird gut daran tun, nicht nur bei seiner Vorbereitung, sondern auch bei der Auslegung das ganze Anliegen der apostolischen Verkündigung, das im Evangelium gebotene Zeugnis vom Wirken Jesu als Zeichen, die Heilsbedeutung seines Erlösungswerkes zur Sprache zu bringen. Und wer als Hörer ein Bibelwort betrachten und sich dadurch bewegen lassen will, der sehe zu, wer darin zu ihm oder zur Gemeinde redet, was ihm dadurch zugesagt oder zugemutet werden will, wen und welche Lage das herausgehobene Wort ansprechen will. Die auf der Landkarte oder dem Globus eingezeichneten Linien für die Längen- und Breitengrade sind nützliche Orientierungshilfen, um einen bestimmten Ort zu bezeichnen und zu finden. Aber diese Striche finden sich nicht in der wirklichen Welt, ebenso wie sich die Verszahlen und Druckabsätze zwischen den Versen nicht in dem lebendigen Wort der Zeugen, der Propheten, Evangelisten und Apostel finden. Die Kirche, die sich auf das Wort Gottes gründen will, soll sich nicht von plakativ gekürzten frommen Sprüchen leiten lassen, sondern von dem, der durch alle einzelnen Worte, Sätze und Schriften als das WORT ihr gegenwärtig sein will.

Quatember 1974, S. 72-80

Leserbrief von Friedrich Wilhelm Effey

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-12-12
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