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Betend leben
von Hartmut Löwe

LeerDringlichkeit und Rangfolge theologischer Themen wechseln. Lange Zeit war die kirchliche und theologische Landschaft bestimmt vom Streit um die Auslegung der Bibel. Beherrschend war die hermeneutische Frage. Der Streit ist verebbt. Die ehemals Progressiven sitzen jetzt in der Etappe und haben häufig genug vergessen, daß sie einmal ein Stein des Anstoßes waren. Die alerte Vorhut von gestern ruft heute gerne nach der ordnenden Hand von Kirchenleitung. Eine seltsame Situation! Selbstverständlich gibt es da auch sehr natürliche Generationenprobleme. Aber mit einem Schlage - und hier liegt für mich das tiefere Problem - scheinen wir in ein nachliterarisches Zeitalter eingetreten zu sein. Gefragt ist das Sachbuch. Die literarischen Verlage hören auf zu existieren oder stellen ihr Programm um (Fischer, Rowohlt).

LeerHoch im Kurs steht ein schlicht-banaler Stil. Der Anspruch literarischer Hochsprache wird als repressiv „entlarvt” oder „diffamiert” - je nachdem. In diesem geistigen Klima sind die literarischen Probleme der Bibel obsolet geworden. In den Vordergrund geschoben hat sich die politische, die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche. Der Nachholbedarf ist beträchtlich, das theologische Urteil unsicher. Es rächt sich, daß die im Zusammenhang der Wiederaufrüstung der Bundesrepublik aufgebrochenen Gegensätze - an ihnen drohte bekanntlich die Einheit der EKiD zu zerbrechen - in den fünfziger Jahren nicht ausdiskutiert, sondern nur verkleistert worden sind. „Unter dem Evangelium blieb man beieinander” - aber was ist das: Evangelium? Die Bekenntnis-Bewegung weiß es. Der Kreis um das Kölner Politische Nachtgebet ebenso. Die einen sagen: die in Jesu Sterben und Auferstehen geschehene Erlösung. Die anderen: Evangelium ist die motivierende und stimulierende Kraft für gesellschaftliche Veränderungen. Die Christen sollen etwas weniger Bibel und etwas mehr Marx lesen, auf jeden Fall sollen sie die gesellschaftlichen Verhältnisse analysieren und - wichtiger noch - verändern lernen.

LeerDie christlichen Partisanen sind noch einsamer als ehemals die entschiedenen Entmythologisierer. Auch aufgeschlossene Kirchenvorstände reagieren verschreckt. Die politische Theologie hat es schwer. Natürlich: sie hat fanatische Anhänger, bei denen sich zur theologischen noch die politische rabies gesellt. Aber sie kann sich kaum selbst gutwilligen Zeitgenossen verständlich machen. Unterdessen ist die geistliche Substanz der Gemeinden nicht größer geworden. Der geistliche Hintergrund, der einen bescheidenen Widerstand im Dritten Reich möglich gemacht hat, scheint erschöpft. Freilich: es gibt unter der Jugend so etwas wie eine religiöse Welle. Aber diese gleicht einer „Subkultur”. Eine prägende, eine bestimmende Kraft stellt sie kaum dar.

LeerIn dieser kirchlich wie theologisch unübersichtlichen Situation scheint es mir erforderlich zu sein, Grundthemen geistlich-kirchlicher Existenz zu buchstabieren. Ein Beitrag zur gesellschaftlichen Thematik wird nur dort überzeugen, wo etwas gesagt und gewonnen ist, was man nicht bei Politologen und professionellen Systemveränderern abgeschrieben hat, sondern was aus dem Gespräch vor und mit Gott gewonnen worden ist. Der Spruch der Propheten kam aus einem konzentrierten Hören. Das wurde freilich verbunden mit einem wachen Blick auf die Zeitverhältnisse. Aber ohne geduldiges, entsagungsvolles Hören gibt es kein einer Zeit gerecht werdendes „Wort Gottes”.

LeerKonzentriertes Hören, gesammeltes Nachdenken von Christen - das sind Ausschnitte aus dem Teil der Pastoraltheologie, den der vor 100 Jahren bedeutsame August Friedrich Christian Vilmar in seiner polemischen Schrift „Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik” (1857) so beschreibt (er hat dort nur den Pfarrer im Blick, aber das läßt sich leicht erweitern): „Was in der jetzigen Pastoraltheologie noch in auffallender Weise fehlt, ist die Anweisung zur Gebetszucht, welche der Pfarrer gegen sich selbst und gegen seine Gemeinde zu üben hat ... täglich einmal muß der Lauf der gewöhnlichen, immerhin auch geistlichen Geschäfte und Gedanken, auf die Dauer von wenigstens einer Stunde gänzlich gehemmt werden; täglich einmal muß die Seele des Hirten, welcher die Seelen der ihm Anvertrauten auf seiner Seele liegen hat, völlig still werden, so daß sie mit Fug sagen kann: Rede, Herr, dein Knecht höret.” Das klingt ungemein fern. Aber ich denke: wenn wir diese uns fern gerückte, vielfach verschlüsselte Thematik des Gebetes nicht theoretisch neu erschließen und praktisch experimentieren lernen, kommen kirchliche Gruppen, unsere Gemeinden und wir selber nicht voran. Hier liegen Erbe und bleibender Auftrag derjenigen, die sich einmal in Berneuchen zusammengefunden haben. Mir liegt daran, daß das Thema des gemeinsamen und persönlichen Gebetes sozusagen auf dem Feuer stehen bleibt. Deshalb wollen wir uns über einige Anlässe verständigen, die aufweisen möchten an Erfahrungen und Gelegenheiten, was für eine selbstverständliche, gar nicht außerordentliche Sache das Beten ist und wie es - vielleicht - unverkrampft, locker, verständlich geschehen kann. Wir suchen nach Anlässen zum Beten; nach Gelegenheiten, die uns - wortwörtlich - „ins Gebet nehmen”.


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 1. Es ist schwer, für sich allein zu leben, ohne Kontakt mit anderen. Die wachsende Vereinzelung in unseren Städten hat schwere psychische Schäden zur Folge. Die Kommunikationswissenschaft, die einen rasanten Aufschwung genommen hat, versucht den Schäden zu begegnen, häufig wohl zu technokratisch. In der Einsamkeit kann einer erfrieren und ersticken: Da wird es kalt, da ist die Luft zum Atmen dünn. Vereinzelung hört auf, wenn ich durch Worte und Gebärden zu anderen Verbindung aufnehme, zu ihnen spreche. Doch offenbar ist das gar nicht so einfach und gelingt nicht immer. Wir stoßen auf Grenzen, es bleibt da ein unbefriedigter, nicht ausfüllbarer Rest: Der Hunger nach Gemeinschaft wird auch durch viele gute Freundschaften nicht gestillt. Irgendwo bleiben wir unbefriedigt, verlangen nach mehr, erfahren, daß unsere Sehnsucht unendlich ist. Wer diese Erfahrung macht und sie in Worten ausspricht, der fängt an zu beten. Paul Tillich formuliert deshalb einmal so: „Gebet ist unendliche Sehnsucht eines endlichen Wesens nach seinem unendlichen Ursprung.”

LeerDas Gebet will Vereinzelung aufheben, sucht neue Gemeinschaft mit dem Ursprung, verlangt nach Wiedervereinigung mit dem göttlichen Grund des Seins, es formuliert die Erfahrung von Fremdheit und will sie erträglich machen, überwinden. Deshalb ist auch die ursprünglichste Rede von Gott weder theoretische Reflexion - sie bedeutet immer zugleich Distanzierung und Versachlichung - noch sich an andere wendende Verkündigung - sie hat den Hörer im Blick und sieht deshalb von sich selber ab -, sondern der Vokativ: Gott wird wirklich, alle Trennung aufhebend dort, wo er als das Geheimnis meines Lebens angerufen wird.

LeerEs schadet nichts, wenn man sich ein wenig bei den Religionsphänomenologen umschaut und bei ihnen in die Schule geht. Friedrich Heiler, vor die Aufgabe gestellt, den Ursprung des Gebetes anzugeben, kann nur lapidar feststellen: Das Gebet ist genau so ursprünglich wie der Ruf „Vater” und „Mutter”. Er nennt es einen spontanen „Ausdruck des Sich-Abhängig-Wissens von der unendlichen .Macht, in deren Händen wir sind, und zugleich der Sehnsucht nach der letzten und tiefsten Geborgenheit in dieser Macht”. Ebeling sagt: „Das Gebet ist eine Urgegebenheit des Menschseins. Über seine Entstehung läßt sich außer in Mutmaßungen nichts aussagen.”

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 2. Vor jedem liegen unterschiedliche Aufgaben und Verpflichtungen, sie suchen einen Platz im Terminkalender, zerren an den Nerven. Wie soll man sie ordnen, eine Rangfolge herstellen, das Wichtige vom Zweitrangigen unterscheiden? Viele kommen in ihrer Aktivität einfach um, werden von ihren Aufgaben aufgefressen. Sie fragen nicht, wofür das nötig und gut ist, was sie tun. Wie aber lernt man die Unterscheidung des Wichtigen vom Belanglosen? Wie erkenne ich, was an der Zeit ist, was getan werden muß? Humane Praxis ist ohne Abstand, ohne Distanz zum Tagespensum nicht möglich. Verantwortung kann nur wahrnehmen, wer mit geschichtlicher Erfahrung umzugehen vermag, sich nicht einfach den Phantomen einer zweifelhaften Aktualität ausliefert, wer die Fähigkeit zur Konzentration, zur Sammlung, zur Erinnerung und zur Meditation besitzt. Der Holländische Katechismus von 1966 - er ist nach meinem Urteil auch heute noch immer lesenswert - verhandelt in diesem Zusammenhang „Das Gebet des Christen”. Dort heißt es: „Wir kommen ohne die Wachsamkeit der Besinnung nicht aus. Sonst würde unser Gehorsam in Eigensinn abgleiten. Das Bewußtsein der Gegenwart Gottes würde sich verflüchtigen, so daß wir im Augenblick der Prüfung seinen Willen vergäßen und verachteten. Tat ist nicht möglich ohne Besinnung; Erweiterung ist nicht möglich ohne Vertiefung; Liebe ist nicht möglich, ohne daß sie sich ausspricht ... Sonst laufen wir Gefahr, uns einzubilden, etwas sei unsere Aufgabe, was gar nicht der Fall ist. Wir haben ja die Neigung, unsere Arbeit und unsere Liebe für viel unentbehrlicher zu halten, als sie sind. Das Gebet kann uns lehren, daß Gott noch andere Wege kennt. Gebet ist: einmal Abstand nehmen von unseren eigenen Vorurteilen und unsere Existenz im Licht dessen sehen, der sie uns schenkte.”

LeerVielleicht ist das für die Theologen und kirchlichen Mitarbeiter, die wir in Sachen Religion leicht zu Aktivisten oder Routiniers werden, noch einmal besonders zu bedenken. Auch der Ursprung des Praxisbezuges theologischer bzw. kirchlich-gemeindlicher Arbeit verlangt Distanz zur Praxis, Abstand, Übersicht, einen Fixpunkt außerhalb des Gewimmels fordernder Pflichten. Aktion ohne Kontemplation muß zu bloßer Rhetorik und - wie die Bayern so schön sagen - ‚Gschaftelhuberei’ entarten.

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 3. Wer menschlich leben und raten will, gerät immer wieder an Scheidewege, an denen es zu wählen gilt zwischen Gut und Böse. Wer menschlich leben will, muß deshalb suchen und fragen nach dem, was ihn und andere unbedingt bindet, absolut in Pflicht nimmt, was letzte ethische Relevanz besitzt. Ethisches Handeln steht jedoch im technologischen Zeitalter vor einer völlig neuen Situation. Darf man alles tun, was sich technisch bewerkstelligen läßt? Ein eklatantes Beispiel: Niemand hat sich früher Gedanken darüber gemacht, welches das erstrebenswerte und geeignete Maß des Lebens ist. Es galt nicht zu wählen, die letzten Entscheidungen waren dem Menschen abgenommen: Es blieb nur die Klage über die Kürze der Tage und der Traum, es möchte einmal gelingen, die Grenzen zu überschreiten.

LeerInzwischen sieht es anders aus. Ein Resümee neuerer Fortschritte auf dem Gebiet der Zellularbiologie lautet so: „Es besteht die praktische Hoffnung, die Spanne des Lebens durch Gegenmaßnahmen gegen den biochemischen Prozeß des Alterns zu verlängern, vielleicht sogar unbegrenzt auszudehnen. Tod erscheint nicht länger mehr als eine Notwendigkeit, die zum Wesen des Lebens gehört, sondern als eine vermeidbare, wenigstens im Prinzip beeinflußbare und verschiebbare organische Fehlfunktion. Ein jahrtausendealtes Verlangen des Menschen scheint vor der Erfüllung zu stehen” (Jonas, in „Evangelische Kommentare” 1973).

LeerAber ist solch eine Verlängerung überhaupt wünschenswert? Welcher Sinn liegt in unserer Endlichkeit? Radikaler: wessen Leben soll verlängert werden, bei wem lohnt der Einsatz ärztlicher Kunst weniger? Bevölkerungspolitisch ist ja auf jeden Fall der Preis für ein allgemein hohes Alter ein verringerter Zugang an neuem Leben, also die Drosselung der Geburtenrate. Wer den Tod abschaffen will - ich nenne nur den Grenzwert -, muß auch die Geburt abschaffen. Was aber wäre das: eine Welt des hohen Alters ohne Jugend? Das extreme Beispiel hat auf harmloser Ebene bereits seine Vorläufer: lohnt es in jedem Fall, Leben zu verlängern? Müssen bestimmte Lebensräume bewußt und entschieden aus der technologischen Entwicklung herausgenommen werden? Wie weit darf die Urbanisierung vorangetrieben werden?

LeerEthische Fragen ließen sich früher durch Rückgriff auf Erfahrungen bewältigen. Aber bei neuen Problemen von der oben beschriebenen Art fehlen Erfahrungen, kann es sie nicht geben. Und es muß hier doch ethisch prinzipiell und nicht durch den Blick auf partikulare Interessen entschieden werden. Der jüdische Philosoph Hans Jonas - einige kennen wahrscheinlich seine Untersuchungen zur Gnosis aus der Marburger Zeit, inzwischen lehrt er in Amerika an der renommierten New School for Social Research in New York - hat im Blick auf diese Fragen gesagt: „Wenn das neue Wesen unseres Handelns nach einer neuen Ethik weitgespannter Verantwortlichkeit verlangt, einer Verantwortlichkeit, die ebenso weit reicht wie der Bereich unserer Machtmöglichkeit, dann verlangt es im Namen eben dieser Verantwortlichkeit auch nach einer neuen Art der Demut, einer Demut, unähnlich vergangener Demut, die ihren Grund in der Schwäche hatte, sondern aufgrund der exzessiven Größe unserer Machtmöglichkeiten, die auf dem Übergewicht unserer Macht zum Handeln über unsere Macht zur Voraussicht, zur Wertung und zum Urteilen beruht ...” Und dann, etwas später: „Es ist fraglich, ob wir ohne Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen, jener Kategorie, die am vollständigsten von der wissenschaftlichen Aufklärung zerstört worden ist, eine Ethik haben können, die in der Lage ist, mit den extremen Machtmöglichkeiten fertig zu werden, die wir heute besitzen, die beständig anwachsen und die nahezu zur Anwendung treiben.”

LeerIn dieser Situation ethischer Ahnungslosigkeit und ungeheurer ethischer Herausforderung können vor allen verantwortbare Entscheidungen nicht von partikularen Interessen geleitet sein: sie setzen ein Wissen um das Ganze voraus. Unsere neuzeitliche Vernunft aber ist dem Ganzen feind, sie ist gewissermaßen parzelliert. Diese Verantwortung vor dem Ganzen ist von Jonas gemeint mit der Kategorie des Heiligen: beides aber - das Ganze und das Heilige - sind nur Chiffren, vielleicht sogar Symbole für Gott. Ohne Beziehung zum Ganzen, zum Heiligen, zu Gott scheinen radikal-ethische Entscheidungen nicht zu gelingen. Die in Worte gefaßte demütige Beziehung zum Ganzen, zum Heiligen heißt in traditioneller Terminologie Gebet: es ist dann Ausdruck der Zugehörigkeit von Menschen zu demjenigen, von dem sie abhängen, der sie umschließt, zu dem sie sich - vielleicht - bekennen.

LeerDas Gebet wird dann beharrlich nicht nur die individuelle Frage stellen: woher komme ich?, sondern die allgemeine im Bewußtsein wachhalten müssen: woher kommen wir?, nicht nur persönlich fragen: wohin gehe ich?, sondern heute, wo es kaum noch ein privates Schicksal ohne Verbindung mit dem allgemeinen gibt: wohin gehen wir?, nicht nur in eigenem Interesse aussprechen: wer nimmt mich in Pflicht?, sondern im Bewußtsein globaler Verantwortung: wer hat uns in Pflicht genommen? Wo im Blick auf das Ganze die für die neuen Entscheidungen notwendige Demut gesucht wird - ist da nicht solches Fragen und Suchen ein, vielleicht oft wortloses, Beten, das aber nur gelingen kann, wenn ab und zu auch Worte hinzutreten?

LeerBruce Marshall hat einmal geklagt: „Das Unglück in dieser Welt von heute besteht darin, daß die, die beten, nicht denken, und die, die denken, nicht beten” (in: „Mädchen im Mai”). Die Notwendigkeit menschlicher Ethik in unserem technologischen Zeitalter verlangt, daß beide Kategorien wieder zueinander finden. Denn „Das Beten wurde nicht zuletzt deshalb dem Denken fremd und das Denken dem Beten feind, weil über das Beten - nicht etwa zu viel, sondern - zu wenig bedacht worden ist” (Ebeling).

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 4. Es geht die Meinung, das Bitt- oder Wunschgebet sei niederen Ranges, eine nichterwachsene Form des Gebetes, kindlich, ja kindisch. Auffällig ist dabei, daß in der Mehrzahl unserer kirchlichen Gebete Wünsche und Bitten im Vordergrund stehen. Sind also die Kirchen noch gar nicht aus der kindlichen Entwicklungsstufe herausgekommen? Manche sehen es so. Aber ich bin da anderer Meinung.

LeerWünsche und Bitten sind etwas durchaus Normales. Denn wer Bitten mitteilt, gibt zu, daß er nicht sich selbst überschätzt, sich nicht selber genug ist, sondern ein Angewiesener, ein - in einem tiefen Sinne - Bedürftiger, ja Armer. Wer im Gebet Wünsche ausspricht, gibt diesen anthropologischen Grundtatbestand ehrlich zu und verbrämt ihn nicht ideologisch. Freilich, das wäre naiv zu meinen, unsere Wünsche müßten postwendend erfüllt werden. Das Gebet ist nicht nur Mittel zu einem Zweck, sondern hat eigenes Gewicht, ist jedenfalls nicht der Einwurf unserer Wünsche in einen Automaten, Gott genannt, der sie geschwind in die erbetene Ware eintauscht. Es verhält sich anders: indem wir betend unsere Wünsche formulieren, lernen wir sie allererst genauer kennen und besser verstehen. In diesem Sinne ist Beten ein Wünschenlernen, ein neues und besseres Erkennen dessen, was wir wirklich brauchen, das Unterscheiden zwischen den vielen - uns teilweise aufgeschwatzten - Bedürfnissen und unserem wirklichen Bedarf. Wer betet, der gibt seine Wünsche von sich weg, um in deren Erfüllung wie Versagung in gleicher Weise Gott zu finden. Denn letztlich bitten wir um nichts anderes als um Gott selbst, sofern wir - „dein Wille geschehe” - die Weise der Erhörung wirklich bedingungslos seiner Verfügung anheimgeben.

LeerTheologisch spitz formuliert heißt das: Gott ruft im Gebet durch uns nach sich selbst. Weil aber dieser Gott nicht von der Welt geschieden ist, müssen wir die uns umgebende Welt mit ihren Beschädigungen, Mängeln und Bedürfnissen vor ihn bringen, um wirklich ihm selbst und nicht nur unserer Einbildungskraft zu begegnen. Ebeling formuliert das so: „Konstitutiv für das Gebet ist nicht, daß es erhört, sondern daß es gehört wird.”

LeerVielleicht klingt das wie ein Taschenspielertrick, wie eine von moderner Theologie eingegebene Theorie, die unsere Unsicherheit, an Gott und sein Lenken der Geschichte zu glauben, schamhaft verdecken soll. Unter solcher Anklage sucht man nach Anwälten, die einen guten Namen haben. Bei Luther ist in einer Predigt von 1532 das Folgende zu lesen: „Sprichst du aber: warum läßt er uns denn bitten und unsere Not vor ihn tragen und gibt es nicht ungebeten, weil er alle Not besser weiß und sieht als wir selber? ... Antwort: Darum gebietet er es freilich nicht, daß wir ihn mit unserem Beten sollen lehren, was er geben soll. Sondern darum, daß wir's erkennen und bekennen, was er uns für Güter gibt und noch viel mehr geben will und kann: also daß wir durch unser Gebet mehr uns selbst unterrichten als ihn. Denn damit werde ich verwandelt, daß ich nicht hingehe wie die Gottlosen, die solches nicht erkennen noch dafür danken. Und wird also mein Herz zu ihm gekehrt und erweckt ... Und dienet alles dazu, daß ich ihn je länger je mehr erkennen lerne, was er für ein Gott ist. ... Also lehrt uns das Gebet, daß wir beide, uns und Gott, erkennen und lernen, was uns fehlt und woher wir's nehmen und suchen sollen.”

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 5. Mag sein, daß die verschiedenen Anlässe und immer neuen Anläufe manchem als zu privat, viel zu individualistisch erscheinen. Wo bleibt da der Grundsatz, daß Glaube und Gebet etwas mit der Tagesordnung der Welt, mit Politik und öffentlichem Leben zu tun haben? Bei dem Problem der Ethik im technologischen Zeitalter kamen zwar derlei gesellschaftliche Bezüge wenigstens am Rande kurz zur Sprache. Aber das ist nicht ausreichend. Gebet ist kein Rückzug zur Pflege privater Innerlichkeit, oder besser: es ist das nicht nur. Denn freilich: innerlich feste, unabhängige, eindeutige Menschen - die haben schon ihre Bedeutung für die öffentlichen Dinge. Deshalb darf man die Innerlichkeit nicht zu früh verlästern. Aber sie reicht alleine nicht zu.

LeerMich beschäftigt da seit einiger Zeit eine merkwürdige Parallele: Aus dem Mittelalter ist in der katholischen Kirche bis in unsere Tage hinein die Sitte der Flurprozessionen lebendig geblieben. Mir scheinen sie mancherlei gemeinsam zu haben mit den Demonstrationen und Protestversammlungen, die heute wieder Tausende auf die Straße bringen, nicht nur aus Sensationslust und selten mit der begründeten Hoffnung, etwas auszurichten. Inzwischen gehören diese Demonstrationen an vielen Orten zu einer wohlüberlegten politisch-taktischen Strategie. Sie haben ihre Spontaneität verloren. Aber der Anfang sah doch so aus: Wer zum Himmel schreiendes Unrecht miterlebt, der kann nicht einfach seelenruhig in seinen vier Wänden hocken bleiben. Viele einzelne wollen sich mit anderen solidarisieren, geschehendes Unrecht nicht einfach schweigend hinnehmen, sondern für Gerechtigkeit eintreten, auch wenn das wie ein Traum utopisch scheint. Flurprozessionen sind zur Handlung gewordene Gebete. Demonstrationen sind . .. nun, eine einfache Gleichung ist nicht möglich, aber Zusammenhänge bestehen sicher. Auch das Gebet nimmt nicht einfach Unfrieden, Tod, Unterdrückung und Leid passiv hin. Es leistet gleichsam einen gewaltlosen Widerstand, gibt der Empörung, Verzweiflung und Ratlosigkeit Worte, schreit nach Frieden und Gerechtigkeit. Solches Schreien ist oft die letzte Möglichkeit, nicht abgestumpft und bitter die Welt als Tummelplatz von Teufeln hinzunehmen, sondern vielmehr als möglichen Raum von Freiheit, Würde und Menschlichkeit zu glauben. Wie denn soll man anders die täglichen Schreckensnachrichten in Presse und Fernsehen als Mensch überstehen, ohne zynisch und gefühllos zu werden? Hier wird Beten zum Protest, zur Weigerung, unsere Sorgen und Verlegenheiten als uns unerbittlich verhängtes Schicksal passiv hinzunehmen.

LeerDie von Christen geübte Fürbitte für die Welt ist nicht eine Pflichtübung derer, die zu schwach oder zu träge sind, mit ihren Taten oder Ideen die Welt zu verändern. Vielmehr ist die Fürbitte der erste Schritt, nach Kräften dem Unrecht und Leid zu wehren, der Anfang der Solidarität mit der blutenden und geschundenen Welt. Das Gebet appelliert an Gott, daß er von seiner Schöpfung wieder wahr sein lasse, was auf den ersten Seiten der Bibel steht: „Und siehe da, es war sehr gut”. Eine versammelte Gemeinde, die Unrecht beim Namen nennt, ist nicht weniger eine öffentliche Demonstration als die Aufläufe auf westdeutschen Straßen - manchmal Gottseidank etwas gesitteter, häufig freilich gar zu zahm, bieder und brav.

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 6. Ein Problem besonderer Art - und hier besonders des gottesdienstlichen Gebets - ist seine sprachliche Gestalt. Als vor wenigen Jahren private und landeskirchliche Agenden erschienen, atmeten viele auf und meinten, eine reiche Auswahl an sprechbaren Gebeten zu besitzen. Inzwischen läßt sich vieles, vielleicht das meiste nicht mehr unverändert gebrauchen. Die Sprache altert ungemein rasch. Es geht dabei keineswegs nur um eine zweitrangige Frage der äußeren Form. Hier geht es um die entscheidende Frage, ob sich die Gemeinde das zu eigen machen kann, was stellvertretend für sie gesprochen wird, ob sie sich darin „unterbringen” kann.

LeerRilke schrieb am 4. Januar 1915 an seinen Verleger: „Ich habe die Nacht einsam hingebracht .. . und habe schließlich ... die Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in denen man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein ...” Wenn aber die Sprache des Gebets uns nicht mehr aus der Zerstreuung sammelt, nichts mehr in uns zum Klingen bringt, nur fern und alt wirkt, dann bleiben wir isoliert auf unseren Bänken sitzen. Hier stellen sich gemeinsame Probleme aller Kirchen und Konfessionen, besonders lebhaft empfunden von den Fachleuten und Praktikern der katholischen Kirche, die seit dem Konzil einen deutschsprachigen Gottesdienst schaffen müssen. In einer Zeit der „Ungleichzeitigen”, in der die verschiedensten kulturellen, also auch sprachlichen Traditionen miteinander gleichzeitig vorkommen, ist es nicht leicht, für eine Gemeinschaft der Verschiedenen sprachliche Gehäuse zu finden, in denen sie wohnen und atmen können. Merkwürdig ist dabei, daß diese Aufgabe oft uralten Gebeten leichter gelingt als anderen, die gestern „modern” waren. Neue Gebete, die überzeugen, werden uns wohl nur gelingen, wenn wir an überlieferte Gebetssprache anknüpfen.

LeerMir drängt sich immer stärker die Überzeugung auf: die Relevanz des Christlichen für unsere beschädigte und bedrohte Welt entscheidet sich an der Fähigkeit des überlieferten Glaubens, individuelles und gemeinschaftliches Leben geistlich zu prägen, der Liebe Sprache, der Hoffnung Worte, dem Glauben Ausdruck zu geben. Bleiben die Liebe stumm, die Hoffnung sprachlos und der Glaube gestaltlos - dann versackt auch das überliefert Christliche in die Anonymität. Zum Abschluß noch einen praktischen Hinweis, der helfen kann, betend zu leben und im Geschäft des Alltags das Beten nicht zu verlernen. Einer macht folgenden Vorschlag: Wenn ich abends zu Bett gehe, lese ich einfach ein paar Verse aus dem Neuen Testament. Die kochen dann gleichsam während der Nacht in mir gar - das ist so wie mit dem Haferbrei nach dem alten Rezept: Man weicht ihn am Abend vorher ein, und morgens ist er dann nicht mehr klumpig. - Und am nächsten Tag dann, egal wann, aber möglichst bevor das Telephon klingelt oder jemand an die Tür klopft, lese ich die Verse noch einmal. Bei mir ist dies gewöhnlich das erste, was ich morgens tue. Ich persönlich habe für mich dafür eine Stunde am Morgen bestimmt, wenn noch niemand auf den Beinen ist. Wenn ich diese Stunde ausgelassen habe, ist es so, als hätte ich eine Mahlzeit ausgelassen.

Quatember 1974, S. 81-89

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-12-12
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