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Kirchenmusik heute
von Johannes Günther Kraner

LeerDer „Verband evangelischer Kirchenmusiker Deutschlands” sammelt haupt-und nebenberufliche Kirchenmusiker und steht darüber hinaus allen an der Kirchenmusik interessierten Personen offen. Er hat die Aufgabe, die Kirchenmusik zu fördern und alle den Dienst und den Stand der Kirchenmusiker betreffenden Belange in ideeller und materieller Hinsicht zu vertreten. Darunter ist besonders zu verstehen: Die Entfaltung der Kirchenmusik in allen ihren Möglichkeiten und die Wahrung und Förderung der beruflichen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Mitglieder. Der „Berliner Landesverband” ist das älteste Glied des Verbandes. Er konnte 1973 auf sein hundertjähriges Bestehen zurückblicken. Am 27. Juni 1873 fand die Gründungsversammlung des „Berliner Organistenvereins” statt. Den Vorsitz führte damals August Haupt, Organist an der Parochialkirche (heute in Ost-Berlin). 1903 wurde diese Vereinigung in „Verein Berliner Organisten und Kirchenchor-Dirigenten” umbenannt. Nach dem Kriege folgte eine Fortsetzung unter dem Namen „Berliner Kirchenmusikerverband”. Das hundertjährige Jubiläum war der Anlaß, das „Soli Deo Gloria” oder das „Jesu juva” als bekannte Etikette der Arbeit eines Kirchenmusikers weiter aufzunehmen. Zugleich sollte aber deutlich werden, daß Kirchenmusik und Kirchenmusiker auch den Menschen als Gegenüber haben. Das Ansinnen des Kirchenmusikers richtet sich an den Menschen in seiner geregelten Arbeit, seiner gesellschaftlichen Verplanung, seiner Freude, seiner Enttäuschung, Hoffnung, Aggression, Depression oder was auch immer. Zwei Möglichkeiten tun sich auf: Entweder die Musik auf die Situation des Menschen zu normen oder den Menschen an die Möglichkeiten, Freiheiten der Musik heranzuführen. Die erste Möglichkeit wäre in jedem Falle eine „negative Reform”; die zweite Möglichkeit bleibt der Versuch; die Ergebnisse liegen nicht bei einem großen Ziel, sondern liegen auf dem „Weg”, in der „Arbeit”. Diese Gedanken nahm der Berliner Landesverband zum Anlaß, des Jubiläums fernab von jeder Vereinsmeierei zu gedenken. Es wurde ein Fenster zur Werkstatt des Kirchenmusikers geöffnet. Am 1. und 2. Dezember fand ein „Synchronium” mit Werkstattkonzerten, einer Podiumsdiskussion und Gottesdiensten statt. Die Werkstattkonzerte, zwischen 15 und 21 Uhr durchgehend in drei zentralen Kirchen West-Berlins veranstaltet, zeigten im Wechsel zwischen Proben und Aufführungen einen repräsentativen Einblick in die derzeitige Arbeit von Chören und Organisten. In der einen Kirche wurden Werke aus der Zeit der „klassischen” Kirchenmusik erarbeitet und musiziert: z. B. mehrchörige Werke, Konzert für vier Cembali und Orchester oder das letzte Werk des vor wenigen Jahren verstorbenen ungarischen Komponisten Zoltán Kodály, „Laudes Organi”, für Chor und Orgel. In einer anderen Kirche wurden Werke aus der „Entstehungszeit” des Verbandes aufgegriffen, unter anderem mit einer Aufführung „Aus dem Orgelmuseum”, das auch Curiosa wie eine Orgelsonate von Gustav Adolf Merkel (1827-1885) zu vier Händen und Doppelpedal (von einem jungen Ehepaar gespielt) enthielt. In der dritten Kirche wurde aus dem reichen zeitgenössischen Schaffen musiziert, hier besonders Werke von Arnold Schönberg (1874-1951) und György Ligeti (geboren 1923).

LeerDie Chorproben waren für alle Zuhörer „offen”, d. h. es war vorher durch alle Chöre zum Mitsingen eingeladen worden, auch Noten konnten rechtzeitig zum Vorstudium verteilt werden. Der Besuch in den drei Kirchen war naturgemäß wechselhaft, Besucher und Ausführende wurden in der zwanglosen Abfolge der Einblicke in die „kirchenmusikalische Werkstatt” mitgerissen und konzentriert angesprochen. Vor allem bei den Chorsängern entstand der Wunsch, ein solches Synchronium in seiner Vielfältigkeit und Offenheit - auch quer durch die Chöre und ihre Kirchenmusiker - zu wiederholen. Ein größerer Kreis von Zuhörern war zu einer Podiumsdiskussion gekommen, die in der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche „Kirchenmusik zwischen Resignation und Hoffnung” zum Thema hatte. Auf dem Podium saßen unter der Gesprächsleitung von Kirchenmusikdirektor Johannes Günther Kraner der Landeskirchenmusikdirektor Helmut Barbe, der Pfarrer Manfred Karnetzki, der Komponist Prof. Frank Michael Beyer, der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Hellmut Kühn und der Leiter der Zentralstelle für evangelische Kirchenmusik, Kirchenmusikdirektor Georg Schönian.

LeerFolgende Hauptgedanken der Diskussion seien genannt: Die Frage nach der „Musik im Gottesdienst” ist zu stellen in dem größeren Zusammenhang der Frage, wie die Kirche und wie ihre einzelnen Mitglieder den Gottesdienst verstehen. Zur Zeit ist es so, daß ein Chor in erster Linie um künstlerisch interessanter Aufgaben willen zusammenkommt. Die „Musik in der Kirche” strahlt auf den Gottesdienst aus. Wenn Gottesdienst - gleich in welcher Form oder welchem Gewand - heute bejaht wird, „aktuell”, „heutig” ist, dann stellt sich insbesondere die Frage nach der zeitgenössischen Kirchenmusik im Gottesdienst. Auch die Musik muß im Gottesdienst unter anderem die heutige Sprache sprechen, ihren heutigen „künstlerischen Ausdruck” haben. Nicht nur, daß bedeutende Komponisten immer „Neue Musik” machen, bedeutende Kompositionen sprechen immer „neu” an. Denn ein Choralvorspiel von Bach wird heute nicht primär als historisch aufgenommen. Es ist jedoch imstande, mehr geistliche Gedanken zu vermitteln als ein religiöser Schlager.

LeerHoffnung wurde für die Zukunft auch der neuen Musik in der Kirche eingeräumt, obwohl zugestanden werden muß, daß ihre technische Ausdruckswelt sich von Laien selten darstellen läßt. Eher ist ein Nachvollziehen zu erreichen. Ein differenzierter Inhalt braucht adäquate Mittel, um in Erscheinung zu treten. Daher läßt es sich vorstellen, daß neben der Musik im Gottesdienst, die dabei helfen soll, die Menschen zu verbinden, das komplizierte „Geistliche Konzert” seine Aufgabe erfüllt, nämlich der Reflexion des Menschen zu dienen. Die Grenzen zwischen beiden könnten vielleicht nach und nach reduziert werden. Hieran schlossen sich Fragen an nach den soziologischen Voraussetzungen und Veränderungen gegenüber anderen Jahrhunderten, sowie Fragen nach der jeweiligen Gemeindesituation. In Gemeinden wird es nicht selten zu einer Situation kommen können, wo der Kirchenmusiker und sein Chor - um „heute” Gottesdienst zu gestalten - andere Gedanken und Pläne haben können als etwa die Kirchenältesten und umgekehrt. Ohne finanzielle Unterstützung der Kirche allerdings ist mit den veränderten soziologischen Bedingungen in den Städten nicht fertig zu werden. Die Kirche, die Städte haben früher für ihre angestellten Berufskapellen (Stadtpfeifereien) und (Schul-) Kantoreien Geld ausgegeben; heute ist bei größeren Aufführungen das Einkaufen von Musikern unumgänglich.

LeerAnklingender Resignation der Praktiker - um das eigentliche Thema der Diskussion noch einmal aufzunehmen - stand die Forderung und Hoffnung des Theologen gegenüber: Die Kirche solle sich ihre kulturelle Aufgabe nicht billig machen. Neue Zugänge zur Gemeinde können sich aus ihr ergeben, heute vielleicht mehr denn je zuvor.

Quatember 1974, S. 105-107

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-12-12
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