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von Jörg Gottschick |
Das „Polenseminar” im Seelsorgeamt des Bischöflichen Amtes Magdeburg ist sozusagen ein Kind der Aktion Sühnezeichen. Sein Leiter, Günter Särchen, gehörte zu deren Leiterkreis und bezeichnet Präses Kreyssig als seinen geistlichen Vater. Die Mitglieder des Polenseminars trafen sich etwa zweimal im Jahr zu Tagungen in Bad-Kösen oder Roßbach und machten dazwischen eine solche Fahrt: so sind sie schon in Danzig, Krakau und Gnesen gewesen. Polnische Vortragende werden geholt, man will miteinander die Gegensätze vergangener Feindschaft aufarbeiten und Gemeinsamkeiten alter und neuer Verbundenheit finden. Zu dem Seminar gehören kirchliche Mitarbeiter im engeren und weiteren Sinn, zum Beispiel Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Fürsorgerinnen. Eine gute Anzahl sind aus schlesischen Familien. So fuhren natürlich eine Reihe Familienmitglieder, auch Kinder, mit. Bei den männlichen Teilnehmern steht es ähnlich. Ein kleiner Kreis Evangelischer hat sich auch angegliedert. Diesmal waren es eine Lehrerin aus Eckartsberga, eine Kantorin aus Dessau und unsere Tochter. Geistlicher Rat A. Schäfer betreut diese Arbeit mit einem jungen, erst kürzlich geweihten Priester, der polnische und deutsche Lieder mit uns singen konnte. Wir trafen uns - einige 80 Leute! - vor dem Breslauer Hauptbahnhof und wurden in unsere Quartiere eingewiesen. Am Abend hatten wir eine Begegnung im katholischen Intelligenzklub. Zuerst wurde ein Film gezeigt: „Wessele” - Hochzeit nach einem um die Jahrhundertwende herausgekommenen typisch polnischen Schauspiel mit viel Folklore, Sprichworten, Bildern, Mythen und Sagen. Es geht um die Hochzeit eines Intellektuellen, eines Künstlers, mit einer Bauerntochter, also um die Begegnung von Menschen verschiedenen Standes. Gemeinsam ist allen die Sehnsucht und das Streben nach Freiheit: Der Film spielt in der Zeit des geteilten Polen, in der Gegend von Krakau - damals österreichisch! Beim anschließenden Abendessen saßen wir bunt durcheinander mit unseren Gastgebern. Die Verständigung war manchmal etwas mühsam, aber trotzdem herzlich. Am Sonntagmorgen besuchten wir den Gottesdienst, der sehr kleinen deutsch-evangelischen Gemeinde in der Christophorikirche. Eine Gruppe Jugendlicher aus dem Anhaltischen war da, und unsere Dessauer Kantorin sang mit ihnen. Gehalten wurde der Gottesdienst von einer Lektorin, die zugleich auch Kantorin ist. Die lateinische Gemeindemesse für unsere Pilgergruppe fand im hohen Chor des Domes statt. Der Altar war an die Stufen vorgerückt. Wir saßen oben, und unten war der Kirchenraum voll andächtiger Polen - nach bereits mehreren Messen am Morgen! Es zelebrierten ein polnischer und unsere beiden Geistlichen gemeinsam, wir sangen ein vorher geübtes polnisches Kirchenlied, die Epistel wurde von einem unserer Männer auf Deutsch gelesen und ebenso das Evangelium (Joh. 13) von mir. Das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich einmal als Breslauer evangelischer Pfarrerssohn im katholischen Dom das Evangelium lesen würde! Anschließend wurden wir durch die verschiedenen Kirchen der Dominsel geführt. Man muß sie in ihrer alten Gestalt gekannt, dann als Ruinen erlebt haben und nun in ihrer neuerstandenen Pracht sehen, um ermessen zu können, daß vieles schöner ist. Natürlich ist auch manches anders und fremd, ja geradezu neu für uns. Die kleine Kirche St. Martin kannten wir von früher überhaupt nicht. Da war sie nämlich völlig eingebaut in andere Gebäude und ist erst durch die Zerstörung der Stadt wieder zum Vorschein gekommen. Sie war seinerzeit Schloßkapelle Heinrichs I., des Gemahls der heiligen Hedwig, gegründet schon vorher von Peter Wlast. Im Mittelalter wurde sie als Zufluchtskirche der Aussätzigen und anderer mit ansteckenden Krankheiten Behafteten benutzt. Ein Spötter sagte, sie sei auch jetzt die Kirche der Aussätzigen: nämlich des katholischen Klubs der Intelligenz. Dicht davor steht ein großes Standbild von Johannes XXIII., der segnend die Arme über die Stadt ausbreitet. Und dann St. Maria am Sande! Auch diese wieder ein Kleinod, mütterlich an der Oder hingelagert. Im Inneren befreit von allen Barockaltären (die geradezu niederziehend wirkten), die neu erstandenen Säulen streben nun wunderschön empor zu den in den Seitenschiffen wie ineinandergreifende Hände gestalteten Kreuzgewölben. Dort führte uns der Pfarrer selbst, ein schlichter Mann mit einem ganz durchgeistigen Gesicht. Beim Essen im Priesterseminar wurden wir von Hedwigs-Schwestern bedient. Hinterher beim Kaffee berichtete uns der stellvertretende Direktor vom Aufbau des kirchlichen Lebens seit 1945 in Breslau und Schlesien: eine gute Bilanz - bis dorthin scheinen die Wellen heurigen Kirchenschwundes noch nicht gedrungen zu sein. Eigentlich sollte uns Bischof Kominek, der der Arbeit des Polenseminars verbunden war, selbst empfangen, aber er ist kürzlich verstorben. Es war schon gegen Abend, als wir zurück durch die Stadt in das Hotel Piast gingen. Am Abend saßen wir noch im kleinen Kreise zusammen, fröhlich, beschwingt und erfüllt. Montagfrüh wurden wir mit Bussen abgeholt und fuhren nordwärts durch die liebliche Landschaft (Richtung Posen) nach Trebnitz. Dort war die Messe am Grabe der heiligen Hedwig - am gleichen Tag, an dem Pfarrer Paul Peickert von St. Mauritius in Breslau, der ein Buch über die Belagerung von Breslau geschrieben hat, gelobt hatte, alljährlich mit seiner Gemeinde eine Wallfahrt zum Grabe der heiligen Hedwig zu machen. Auch er ist aber inzwischen gestorben. In dieser deutschen Gemeinschaftsmesse sang eine Schola, ein Kantor spielte die kleine Orgel; alles Männer aus unserer Pilgergruppe. Die alttestamentliche Lesung von der starken und klugen Frau las die evangelische, die Epistel von den Heiligen aus der Offenbarung Johannis eine katholische Lehrerin, das Evangelium, die Seligpreisungen las der evangelische Pfarrer. Wieder zelebrierte ein polnischer Priester mit, der uns dann in polnischer Sprache ausführlich die Kirche erklärte. Rat Schäfer hielt die Predigt. Zum Schluß versammelten wir uns vor dem Hochaltar. Ich sagte ein paar Worte von der heiligen Hedwig für uns Evangelische. Ehe wir fuhren, hatte mich eine alte evangelische Breslauerin gefragt, ob ich auch den Kreuzweg mitbeten würde? Das hätte sie s. Zt. in Wartha (ein berühmter Wallfahrtsort im Glatzerland) nicht getan! Ich meinte: Warum nicht? Halten wir doch auch in unseren Passionsandachten die Stationen des Leidensweges und beten dabei Jesu Liebe an! Die heilige Hedwig scheint mir als Brückenschlägerin in der „Wolke der Zeugen” zu dieser Begegnung zwischen den Konfessionen besonders geeignet zu sein. Wir evangelischen Christen haben ja heute gelernt, die Erscheinung der Gegenwart Gottes in sterblichen Menschen, den „Heiligen”, neu zu begreifen. Die heilige Hedwig, 1174 bei München als eine Gräfin Andechs geboren, hat zwischen Polen und Deutschen die Brücke geschlagen. Ihr Vater, Statthalter des Reiches in Dalmatien, Istrien und Meran, aus karolingischem Geschlecht, starb frühzeitig, in den Kaisermord an Philipp von Schwaben verwickelt. Hedwig wurde mit zwölf Jahren verlobt und wußte in dem fremden Lande gar nicht, wie ihr geschah, als sie der bärtige Heinrich vom Pferde hob und „Jadwiga, moia Jascha” nannte. Ihr erstes Kind, das sie mit dreizehn Jahren bekam, starb. Ihr Sohn Heinrich II., genannt der Fromme, der Liebling ihres Herzens, fiel 1241 bei Wahlstatt, wo die vereinigten polnischen, deutschen und litauischen Ritter zwar besiegt wurden, aber Europa vor dem weiteren Einrücken und Überflutetwerden durch die Tataren retteten. Hedwig hat zwischen arm und reich, zwischen Weltlich und Geistlich, zwischen Tod und Leben, zwischen Krieg und Frieden Brücken geschlagen. Sie starb im Kloster schon wenige Jahre nach dem Tod ihres Lieblingssohnes. Ihr Mann war in die dynastischen Kämpfe im Kirchenbann fern von der geliebten Frau schon vorher gestorben. Sie war die Tante der heiligen Elisabeth von Thüringen und ganz die getreue östliche Entsprechung von Elisabeth. Sie lebte im Bewußtsein des schlesischen Volkes deutscher Zunge ebenso wie im Bewußtsein der heute dort ansässigen polnischen Christen. Quatember 1974, S. 229-232 |
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