Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1982
Autoren
Themen
Stichworte


Licht und Leben
Ein Bericht über die Communitaet Simonshofen
von Bruder Karl

LeerEs gibt keinen qualitativen Unterschied zwischen familiärem und kommunitärem Leben. Trotzdem scheint für Berichte über kommunitäres Leben mehr Interesse zu bestehen als für Berichte über familiäres Leben. Kann man, darf man über das Leben in einer Kommunität berichten? Das „Ja” dazu kommt mir nur sehr zögernd. Das Leben einer Gemeinschaft läßt sich nur schwer neutral darstellen, zu viele Bezüge und Zusammenhänge können nur angedeutet werden. Wenn ich trotzdem den Versuch unternehme, dann mehr deshalb, weil mit dem Bericht über die Communitaet Simonshofen auch ein Bereich berührt wird, der vielen mehr als fremd ist: Der diakonische und seelsorgerliche Dienst an Strafgefangenen und Strafentlassenen.

I. Werden

LeerMünchen, Anfang Juli 1970. Man merkt, daß München „in” ist. Die Stadt wächst rasch und fiebert den in zwei Jahren stattfindenden Olympischen Spielen entgegen. Die enorme Geschäftigkeit sorgt für Veränderungen auf allen Gebieten. Überall wird Lebenslust, ja Lebensgier, propagiert. Es ist chic dabeizusein. Faszinierend. Alles pulsiert, alles ist laut und aufdringlich. Nachholbedarf nach überstandener Rezession. Nur die Studenten scheinen ein wenig ruhiger - ein wenig angepaßter - zu sein als noch vor zwei Jahren. Eine neue Frömmigkeitswelle hat nach Berlin inzwischen nun auch München erreicht. Charismatische Elemente dringen hier und da schon etwas an die Öffentlichkeit. Wird sich dies trennend oder verbindend auswirken? Kann es gelingen, diese Gaben und Kräfte in die Volkskirche zu integrieren, oder trägt diese Bewegung eher sektiererische Züge? In dieser Zeit liegen die Anfänge der späteren Communitaet München, der heutigen Communitaet Simonshofen. Im Suchen nach der Orientierung entdecken einige junge Männer parallel zu einander ihre tiefe Sehnsucht nach dem wirklichen, vollen Leben, nach der ganzheitlichen Hingabe für Christus mitten in dieser Welt und mitten in Seiner Kirche. Gott anbeten, gemeinsam leben, miteinander teilen, persönlich anspruchslos werden. - Die ersten Brüder beschließen, nur wenige in ihre Empfindungen einzuweihen und im übrigen Stillschweigen darüber zu bewahren. Daß der erste Impuls in den „Katakomben” eines noch nicht fertiggestellten U-Bahnhofs in Schwabing erfolgt, mag dabei seine tiefere Bedeutung haben. Die folgenden Wochen und Monate vergehen mit Beten und Planen, Nachdenken und Neudenken, Fragen und Hören. „Ist das der Weg, auf den Gott mich haben will?” Wichtige Zeiten der Besinnung, der Gespräche und des Gebetes mit Altabt Emmanuel Maria Heufelder / Niederaltaich, Dr. Reinhard Mumm, dem Ältesten der Evangelischen Michaelsbruderschaft, Frau Priorin Maria Gemma / Karmel Heilig Blut Dachau, Abt Dr. Odilo Lechner und Pater Bonifaz Miller / Abtei St. Bonifaz in München; Oberkirchenrat Georg Lanzenstiel, Pfarrer Joachim Bieß, Pfarrer Hans-Joachim Mund u. a. m. Erste Taize-Besuche. Aber auch der schmerzliche Schritt der Lösung aus dem CVJM München, dessen Spiritualität - wenn auch nicht ohne Vorbehalte - bis dahin prägend war. Mutmachendes Pfingst-Treffen in Augsburg. Zweifel, Unruhe, Trost, Gewißheit. Diese Phase dauerte über zwei Jahre. - Dann, im Oktober 1972, wird in Garching bei München ein Haus gemietet. Alles ist neu, ungewöhnlich, interessant. Regelmäßige Tagzeitengebete - in freier Form. Vieles ist pionierhaft-pfadfinderlich: Schlafen auf dem Boden; Essen, was andere weggeben; finanziell ist alles sehr abenteuerlich. Die Nachbarn, der Ort, die Gemeinde mutmaßt: Kommune? Terroristen? Homosexuelle?

Linie

LeerErstes Einüben im Umgang miteinander. Gemeinsame Osternachtfeier mit Bruder Mumm. Interne Spannungen. Krisen, als die Ersten die Gemeinschaft verlassen. Nach einem Jahr gemeinsamen Lebens: Gebete um Klarheit für einen diakonischen Dienst. Nach Monaten: Die evangelische Gemeinde fragt an, ob die Communitaet die Jugendarbeit in die Hand nimmt. 1974 bis 1978 intensive und bewußt christliche Jugendarbeit in Garching. Parallel dazu starkes Engagement für Gemeinde und Ökumene am Ort. In diese Zeit fällt auch der erste Besuch auf dem Schwanberg und der erste Besuch eines Michaelsfestes auf dem Kirchberg. In München spricht sich herum, daß die Communitaet moderne, fromme Musik macht. 1976 wird der erste Gottesdienst in einer Justizvollzugsanstalt (JVA) gestaltet. Im Jahre 1977 kommen Schwestern in die Communitaet. Neue Situationen ergeben sich. Unerwartete Spannungen. Jeder lebt in mindestens vier Problemkreisen: Alltagsberuf, Gemeinschaftsleben, Jugendarbeit, Gefangenendienst. Am 7. 7. 77 wird die Communitaet sieben Jahre alt. 1978 wird klar, daß der Dienst in den JVA richtiger ist als die gemeindliche Jugendarbeit. Die Jugendarbeit kann an andere weitergegeben werden. Aus den inzwischen herangewachsenen Jugendlichen und anderen bildet sich ein Freundeskreis, der den diakonischen und seelsorgerlichen Dienst mitträgt. Briefkontakte mit Inhaftierten, Besuche in den Gefängnissen, Ausgänge, Hafturlaub, Hilfestellungen bei Wohnungs- und Arbeitsplatzbeschaffung und vieles andere mehr eröffnet eine völlig neue, bisher unbekannte Welt. Eine Welt, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit lebt. Menschen, die keine Lobby haben. Längst haben katholische und evangelische Anstaltsgeistliche den Kontakt zur Communitaet hergestellt. 1980 werden beispielsweise 40 Gottesdienste in Bayerischen JVA gestaltet. Bayreuth, Nürnberg, Aichach, München, Landsberg, Straubing, Laufen, Kempten, Augsburg, Niederschönenfeld, Kaisheim. Inzwischen sind Amberg, Rotenfeld, Ebrach und Erlangen hinzugekommen. Mehr geht nicht.

LeerEin größeres Zuhause wird gesucht, um mehr Inhaftierte nach der Entlassung besser aufnehmen zu können. - Viel Informationsarbeit in den Gemeinden ist notwendig. Gemeindegottesdienste, Abendveranstaltungen, Basare, Konfirmanden. Es herrscht viel Unwissenheit über die Situation des Strafvollzugs, aber auch viel Desinteresse. - Der Dienst weitet sich immer mehr aus. Alte, längst aufgegebene Talente kommen neu zum Tragen: Sportbegegnungen mit Gefängnismannschaften, Wochen-Wanderungen mit Rucksack und Zelt durch den Bayerischen Wald mit dazu beurlaubten Inhaftierten, Gruppen-Stunden-Gestaltung in den JVA usw. Eine völlig neuartige Zeitschrift entsteht: „GNAST” - Gute Nachricht An Strafgefangene. Sie soll helfen, daß der Dialog drinnen und draußen zwischen allen Beteiligten sinnvoller wird. Die Zeitschrift hat eine ungeheuer große Resonanz. Die Auflage des neuesten Heftes ist 5 000 Exemplare, wovon 3 500 über die Anstaltsgeistlichen an Inhaftierte verteilt werden.

LeerAlles platzt aus den Nähten, das Haus ist zu klein, der Tag ist zu kurz, das Geld ist zu knapp, um alle Anfragen auch nur einigermaßen zufrieden zu stellen. Die Begegnungen mit anderen Gemeinschaften - besonders mit Michaelsbrüdern und Benediktinern - korrigieren und prägen. Der wöchentliche für alle offene Treffpunkt - ein biblisches Gespräch im Haus der Communitaet - entwickelt sich zu einer echten ökumenischen Begegnung. Die geistliche Gemeinschaft mit und innerhalb des Freundeskreises wächst und festigt sich. Sie wird ein großer Rückhalt für die gute Begleitung von Inhaftierten und Entlassenen. Beginnendes Verständnis in den eigenen Ortsgemeinden für den übergemeindlichen Dienst. Intensive und wichtige Kontakte zu Gruppen aus der Charismatischen Bewegung innerhalb der Katholischen Kirche und Gemeinde. Aber auch erste ernsthafte Kontakte mit der Landeskirche und mit dem Justizministerium und Anerkennung des bisher Verwirklichten. Querverbindungen zu anderen Gruppierungen und Organisationen der Straffälligenhilfe stabilisieren sich.


Linie

II. Sein

LeerDa ereignet sich für Außenstehende etwas Unerwartetes: Die Communitaet findet auf ganz verschnörkelten Wegen ein Haus, das paßt. Über diese Phase ist die Veröffentlichung von aktuellen Tagebuchaufzeichnungen geplant. Die Communitaet - drei Schwestern und drei Brüder - zieht im Sommer 1981 nach Simonshofen in Mittelfranken. Einige geben jetzt ihre bisherigen Berufe auf, um sich ganz dem Dienst an Strafgefangenen und Entlassenen widmen zu können. In Teilen der Bevölkerung von Simonshofen bildet sich zunächst eine Art Bürgerinitiative, die vermeiden möchte, daß eine solche Einrichtung in ihr Dorf kommt. Eine Unterschriftenliste, eine Delegation beim Bürgermeister und das Schwerpunktthema einer Bürgerversammlung bringen jedoch nicht das gewünschte Resultat. Im wesentlichen in Eigeninitiative wird das große Haus und das dazu gehörige Grundstück umgestaltet und ausgebaut. Als erstes wird der ehemalige Schweinestall in eine vorläufige Kapelle umfunktioniert. Vier Gebetszeiten - zum Teil nach Münsterschwarzacher Vorlage - rahmen und strukturieren den Tagesablauf. Im Haus selbst gibt es acht Zimmer für Entlassene und 15 Plätze für Gäste (Einzelpersonen oder Gruppen). Strafgefangene, mit denen bereits während der Haftzeit Kontakte bestehen, können nach ihrer Entlassung vorübergehend hier mitleben. Das Ziel ist die Stabilisierung der Persönlichkeit, so daß der Betreffende seine (Re)sozialisierung auch selber aktiv will. Ein Sprungbrett, eine Startrampe, eine Art Lebenstraining. Kirchliche - aber auch nichtkirchliche - Gruppen können hier Tagungen oder Seminare abhalten. Einzelpersonen können Urlaub machen. Die ganz normale Begegnung, das einfache Miteinander unterschiedlicher Menschen, der (vielleicht unmerkliche) Abbau von Vorurteilen hüben und drüben - das ist der Sinn der Konzeption dieses Hauses.

LeerZahlenmäßig zwar klein, stellt die Communitaet Simonshofen jedoch eine überraschende Vielfalt dar: Ältere und Jüngere, Katholiken und Evangelische, Verheiratete und Unverheiratete, aus der Industrie und aus sozial-kirchlichen Bereichen Kommende versuchen nach der gleichen Lebensordnung gemeinsames Leben. Mit dem CISS eV (Christliche Initiative für Strafgefangene und Strafentlassene), Mitglied im Diakonischen Werk Bayern, wurde ein gemeinnütziger Trägerverein für die Straffälligenhilfe ins Leben gerufen. Diesem Verein kann jeder, der diese Initiative für sinnvoll hält, beitreten.


Linie

III. Das Warum

LeerUmgang mit Schuld - mit fremder Schuld -das christliche Anliegen ist vielerorts nur ein Randthema. Was die Communitaet Simonshofen dazu zu sagen hat, ist unangenehm, nicht erbaulich, sondern provokativ. Es wird nicht gern gehört. Die Geschichte aus Matthäus 25 ist bekannt. Kirche und Gesellschaft haben ganz offensichtlich den ersten Teil verstanden und den zweiten Teil noch nicht gelesen. Die Nackten werden gekleidet, die Hungernden gespeist und die Kranken besucht - wenn auch alles sicher noch nicht im ausreichenden Maße. Aber es ist sicher gut und wichtig, daß es Entwicklungshilfe, Misereor, Brot für die Welt, Welthungerhilfe usw. gibt. Das erreichte Zivisilationsniveau ermöglicht jedoch auch das wohlorganisierte Wegsperren aller unangenehmen Zeitgenossen: Alte, Krüppel, Irre, Gesetzesbrecher - um nur einige zu nennen. Wegsperren real und bildlich, im kleinen und im großen. Wegsperren aus unserem Blickfeld, aus unseren Gedanken, aus unseren Gefühlen und aus unseren Gebeten - wenn sie da jemals drin waren. Frage: Wie oft kommen Gefangene in den Fürbitten des Großen Kirchengebets vor? Wenn jemand gefangen ist, ist er damit außerhalb der Kirche? Können Paragraphen, Gitterstäbe und Mauern eine Trennung durch das Volk Gottes ziehen? Ereignet sich nicht Sonntag für Sonntag in den Gefängnisgottesdiensten Gemeinde wie überall sonst? Werden dort nicht die gleichen Gebete und das gleiche Glaubensbekenntnis gesprochen wie überall sonst? Können Christen von drinnen und draußen sich nicht als Brüder begegnen, weil alle schuldig werden vor Gott und Seine Vergebung brauchen? Der Gesetzestreue nicht weniger als der Gesetzesbrecher! In dieser Denkungsweise gibt es keine Helfer, die sich gnädig von oben um den Gestrauchelten kümmern. Es gibt die Solidarität der Schuldigen. Das, was in Simonshofen geschieht, ist kein Hilfsprogramm, sondern ein Miteinander von Menschen, die gemeinsam unterwegs sind - belastet mit Schuld. Ein solcher Denkansatz hat natürlich auch ganz praktische Auswirkungen. Die Communitaet hat beispielsweise keinen ausgesprochenen Leiter. Die Leitung wechselt von Woche zu Woche. Wichtige Entscheidungen werden nicht mehrheitlich, sondern nur in Einheit gefällt. Die Gemeinschaft hat für ihr Leben keine festgeschriebene Regel, sondern lediglich zwölf Absichts-Sätze, aus denen sich alles andere ableitet. Für die Gäste gibt es keine Hausordnung, sondern lediglich Empfehlungen, die sie in eine nicht unwesentliche Mitverantwortung stellen. Dies alles bewirkt nicht Unordnung, Schlendrian oder Chaos, sondern es fordert vom Einzelnen bewußtes und aktuelles Mittragen. Es bewirkt auch, daß zwischenmenschliche Schuld nicht Schuld bleiben muß. Das Confiteor und der sehr persönliche Friedensgruß haben nicht zufällig einen besonderen Stellenwert in der Komplet erhalten.

LeerWeder das Werden, noch das Sein, noch das Warum lassen sich in einem solchen Artikel erschöpfend darstellen. Im Werden sind wir und im Sein werden wir. Die Frage des Warum unterstellt der Seele Beweggründe und Motivationen. Könnte es nicht auch Be-Rufung sein?

LeerDer Artikel soll nicht schließen ohne einen Dank an alle, die das Leben und den Dienst der Communitaet Simonshofen im Gebet begleiten.

Leer[Anmerkung: Die Communität Simonshofen besteht inzwischen nicht mehr. Das Haus in Simonshofen wird von der CiSS e.V. weiter betrieben: www.ciss-simonshofen.de]

Quatember 1982, S. 109-113

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-29
Haftungsausschluss
TOP