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Zum Problem des Moralismus
von Wolfram Lackner

LeerDie protestantischen Kirchen sind im Laufe der sechziger und siebziger Jahre immer stärker einem Trend zur Politisierung ihrer Botschaft anheim gefallen. Da steht an erster Stelle der kirchliche Einsatz für die „Befreiungsbewegungen” in Afrika, Arabien und Südamerika, dann das Engagement gegen die Nutzung der Atomkraft und die damit zusammenhängende Friedenskampagne. Dazu treten Stellungnahmen auf allen Feldern der emanzipatorischen Bewegung wie Frauenemanzipation, Strafrecht, Demokratisierung im politischen und kirchlichen Bereich.

LeerIst die Kirche dabei, aus ihrer eigenen Geschichte herauszutreten und etwas sein zu wollen, was ihrem religiösen Auftrag widerspricht und ihren Part in der Gesellschaft grundsätzlich verändert? Wohin geht der Zug?

LeerWir befinden uns heute in einer dritten oder vierten Welle der Aufklärung, in welcher die Vertreter dieser Geistesrichtung zu einem letzten Gefecht ansetzen, um die Welt in ihrem Sinne umzuwandeln. Dieses letzte Gefecht hat die Herzkammern der Kirche erreicht. Darin liegt das Kernproblem.

LeerIn dem Verhältnis von Protestantismus und Aufklärung kommt ein altes protestantisches Dilemma zum Ausdruck. Dieses Dilemma besteht seit gut zweihundert Jahren in einer fortschreitenden Umwandlung der religiösen Botschaft der Kirche in eine Moralreligion. Ist daran etwas auszusetzen? Natürlich ist und bleibt die Moral eine der tragenden Kräfte jeder menschlichen Gemeinschaft. Aber sie ist nicht der zentrale Punkt des religiösen Glaubens. Hier muß man deutlich unterscheiden! Der zentrale Punkt lag für Martin Luther ganz jenseits aller moralischen Urteile und Handlungen in der Begegnung des ganzen Lebens mit Gott. Luther drückte das klassisch in seiner Erklärung zum ersten Gebot aus: „Einen Gott haben heißt, daß man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also einen Gott haben nichts anderes ist, denn ihm von Herzen glauben und trauen. Wie ich oft gesagt habe, daß allein das Trauen und Glauben des Herzens macht beide: Gott und Abgott”.

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LeerFür Luther stand der Mensch zuerst und zuletzt vor seinem Gott und nicht vor seinem eigenen Gewissen oder vor gesellschaftlichen Verhältnissen. Religiöser Glaube ist also vor allem Gotteserfahrung. Merkwürdigerweise gerät diese einfache und grundlegende Wahrheit heute in der Kirche in Vergessenheit. Wie wurde diese Gotteserfahrung beschrieben? In einem Gesangbuchliede von Paulus Speratus hören wir:
„Es ist das Heil uns kommen her
aus Gnad und lauter Güte;
die Werk, die helfen nimmermehr,
sie mögen nicht behüten.
Der Glaub sieht Jesus Christus an,
der hat gnug für uns all getan,
er ist der Mittler worden.”
LeerDas eigentümliche menschliche Leben, d. h. der Mensch als Person, hat nur eine zureichende Begründung: diese liegt in der gnadenvollen Zuwendung Gottes in Jesus Christus. Das schließt die Meinung ein für allemal aus, daß er sein Leben mit einem noch so guten Werk rechtfertigen kann, seien es fromme oder politische Werke. Das „Wohl” des Menschen kann man mit allerlei guten Taten durchaus befördern. Das wußte Luther wohl; aber das „Heil” ist auf keine Weise herstellbar. Vor der entscheidenden Instanz muß sich der Mensch ein für allemal als Sünder erkennen und das heißt: als dem Tode verfallen mit all seinen Gedanken, Worten und Werken. Diese nüchterne Einsicht in den Abgrund der menschlichen Existenz ist für den Menschen der Aufklärung seit eh und je ein Ärgernis gewesen. Für sich genommen wäre diese Seite der Gotteserfahrung auch deprimierend und tödlich. Nun lebt die Gotteserfahrung aber vor allem von einem Wunder. Dieses Wunder schließt alle anderen Wunder des Glaubens ein: Gott selber hat sich in dem Werk und in der Person seines Sohnes Jesus Christus des verlorenen und verdammten Menschen angenommen. Was dieser Mensch von sich aus nicht leisten kann, das hat ihm Gott geschenkt. Im Glauben an Jesus Christus wird unser Leben mit Liebe, Mut und Kraft erfüllt. Das ist die fröhliche Nüchternheit oder die nüchterne Fröhlichkeit des Christen. Luther hat hier das biblische Gottesverhältnis jenseits aller konfessionellen Begrenzungen noch einmal in aller Klarheit und Reinheit zur Sprache gebracht. Das ist der Ausgangspunkt.

LeerNun verliert der Protestantismus schon bald diese ganzheitliche Glaubensanschauung. Gut hundert Jahre nach der Reformation heißt es in einem anderen Kirchenliede, von Johann Scheffer:
„'Mir nach', spricht Christus, unser Held,
'mir nach' ihr Christen alle!
Verleugnet euch, verlaßt die Welt,
folgt meinem Ruf und Schalle;
nehmt euer Kreuz und Ungemach
auf euch, folgt meinem Wandel nach.”
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LeerMit einem Male ist der eigene Lebenswandel das entscheidende geworden. Jesus Christus ist nicht mehr der Begründer des neuen Lebens in Gott, sondern ein Held, dem es moralisch nachzueifern gilt. Damals, in der Zeit nach dem 30jährigen Kriege, bestand dieser Wandel vor allem darin, der bösen Welt zu entfliehen und sich auf den Tod vorzubereiten. Weltabgekehrte Moral war an die Stelle des fröhlichen Vertrauens auf Gott getreten. Die Vermoralisierung des Glaubens hatte voll eingesetzt. Karl Barth machte in Sonderheit auf diese Umwandlung aufmerksam, der der Glaube bereits in der Zeit der lutherischen Orthodoxie unterworfen war. Als dann im 18. Jahrhundert das Leben in einem rosigeren Lichte erschien und durch die fortschreitende Zivilisation vor allem für die gehobenen Schichten eine optimistische Beurteilung erfuhr, folgte auch die kirchliche Lehre dieser Wendung. Die negative Moral der Weltentsagung schlug in eine positive Moral der Weltbejahung um. Auch dafür kann ein bekanntes Kirchenlied als Beispiel gelten:
„Gib mir ein Herz voll Zuversicht,
erfüllt mit Liebe und Ruhe,
ein weises Herz das seine Pflicht
erkenn und willig tue.

Daß ich dem Nächsten beizustehen
nie Fleiß und Arbeit scheue,
mich gern an Anderer Wohlergehen
und ihrer Tugend freue.

Daß ich das Glück der Lebenszeit
in deiner Furcht genieße
und meinen Lauf mit Freudigkeit,
wenn du's gebeutst, beschließe.”
LeerDas Leben der Christen besteht nun in der Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem in einem positiven bürgerlichen Verhalten. Gott ist zwar noch im Hintergrund als Schöpfer der Welt tätig, aber der Mensch sieht auch von sich aus optimistisch ins Leben. Dazumal kamen die „Neologen”, Neuerer, auf, die es unternahmen, den christlichen Glauben gänzlich umzudeuten in eine nützliche Weltanschauung. Diese streifte bald ans Lächerliche. Ein Hamburger Senator berichtet das „Irdische Vergnügen an Gott”:
„Gott hat in der Gemsen Körper solche Werkzeug fügen wollen,
daß sie Sturz und Fall nicht scheuen und da gern sind, wo sie sollen.
Für die Schwindsucht ist ihr Unschlitt, für's Gesicht die Galle gut,
Gemsenfleisch ist gut zu essen und den Schwindel heilt ihr Blut.
Strahlet nicht aus diesem Tier
nebst der Weisheit und der Allmacht
auch des Schöpfers Lieb herfür?”
LeerProtestantische Predigten handeln in dieser Zeit vom Segen der Stallentmistung, der Gesundheitsfürsorge und von patriotischen Pflichten. Man fühlt sich dabei an moderne optimistische Kirchenlieder erinnert, wie das bekannte „Danke für jeden guten Morgen, danke für jeden neuen Tag. . .”

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LeerDer flache moderne Optimismus war geboren, die tiefe Lebenserschütterung, durch die ein neuer Mensch aus Gott entstand, war aus dem Bewußtsein geschwunden. Dieser Neuprotestantismus zeigte sich vor allem in zwei Richtungen: Die eine Richtung ging auf die moralische Rechtschaffenheit des einzelnen, die andere auf die Herstellung einer besseren sozialen Welt. Beides war miteinander verknüpft. Der Glaube stellte sich entweder als Individualmoral oder als Sozialmoral dar. In beiden Richtungen war das Interesse von Gott weg und auf den Menschen und seine Verhältnisse verschoben. Der Neuprotestantismus ging mit dem Fortschrittsdenken konform und die Theologie wurde zu einem Mittel der Umwandlung des reformatorischen Glaubens in eine Fortschrittsideologie. Ernst Tröltsch hat diese Entwicklung deutlich gesehen und voll bejaht. Er sah den kulturgeschichtlichen Sinn des Protestantismus darin, sich selbst als Religion überflüssig zu machen. Nachdem Karl Barth zwischen den beiden Weltkriegen in seinem großen Lebenswerk versucht hat, sich dieser Tendenz entgegenzustellen, setzt sie doch einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wieder voll ein. Hanna Wolf beschreibt in ihrem neuen Buch „Der Mann Jesus” die heutige Situation sicher ganz zutreffend: „Es setzt ein intensiver Rückgriff auf den Menschen Jesus in der Theologie ein, sowohl auf evangelischer wie katholischer Seite. Für die evangelische Seite mag ein Wort von Heinz Zahrnt als Beleg gelten: Wir wollen keinen Gottesmann, der schon im vornhinein alles weiß und kann, sondern einen wirklichen konkreten Menschen, der auch dann, wenn es um Gott geht, ohne doppelten Boden arbeitet.”

LeerHanna Wolf weist auf eine Befragungsaktion hin, aus der hervorgeht, daß die jugendlichen Befragten mit geringen Ausnahmen darin übereinstimmen, daß die kirchliche Interpretation Jesu als Gottes Sohn, als Sündenopfer und Erlöser für sie keine Gültigkeit mehr habe. Alles Interesse richte sich auf den Menschen Jesus von Nazareth.

LeerNun liegt natürlich in einer Zeit, in welcher die sozialen Probleme im Weltmaßstab besonders dringlich geworden sind, der christliche Glaube in Form einer Sozialmoral näher als in der Form einer bürgerlichen Individualmoral. Jesus ist darum heute für sehr viele vor allem der soziale Prophet, eine Art von Che Guevara, der für die Befreiung der Unterdrückten kämpft. Die Kirche findet ihren Sinn vor allem darin, gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben. Das Bekenntnis für diesen sozialistischen Neuprotestantismus lieferte Dorothee Sölle. Es lautet:
„Ich glaube an gott, der die welt nicht fertig geschaffen hat
wie ein ding, das immer so bleiben muß
der nicht nach ewigen gesetzen regiert die unabänderlich gelten
nicht nach natürlichen ordnungen von armen und reichen
sachverständigen und informierten herrschenden und ausgelieferten.
Ich glaube an gott, der den widerspruch des lebendigen will
und die veränderung aller zustände durch unsere arbeit durch unsere politik.
Ich glaube an Jesus Christus der recht hatte
als er als ein einzelner der nichts machen kann
genau wie wir an der veränderung aller zustände arbeitete
und darüber zugrunde ging.
An ihm messend erkenne ich wie unsere intelligenz verkrüppelt
unsere phantasie erstickt unsere anstrengung vertan ist
weil wir nicht leben wie er lebte.
Jeden tag habe ich angst, daß er umsonst gestorben ist
weil er in unseren kirchen verscharrt ist
und weil wir seine revolution verraten haben.”
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LeerGott ist nur in der gesellschaftlichen Veränderung gegenwärtig. Jesus ist das revolutionäre Vorbild und der Heilige Geist ist der radikale Geist der Mitmenschlichkeit, der alle immer freier und gleicher macht. Die Parole der Französischen Revolution, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” und der christliche Glaube sind hier eigentlich dasselbe. Man muß das Christentum nur auf diese Formel bringen. Edda Groth, die ehemalige Pastorin aus Hamburg-Barmbeck, stellt fest: „In Gottes Augen sind nur die auf seiner Seite, die diese Welt zum Guten verändern, die sie wieder menschenwürdig machen und für Gerechtigkeit auf Erden eintreten.” Wie sie das meint, hat sie durch ihre Entscheidung deutlich gemacht. Sie trat aus der Kirche aus und schloß sich der kommunistischen Partei als Funktionärin an.

LeerWird das ganze Christentum erst einmal auf eine Moral gebracht, dann erweist sich die radikalste Moral immer der weniger radikalen als überlegen und diese führt mit Sicherheit zur Ablehnung und Auslöschung einer Gemeinschaft, die sich als die Gemeinschaft der „begnadeten Sünder” versteht. An einem persönlichen Schicksal wird hier die Konsequenz demonstriert.

LeerUnter dem Aspekt der europäischen Geistesgeschichte laufen im modernen aufklärerischen Protestantismus zwei Geistesrichtungen zusammen. Einmal die Bewegung der „Schwärmer”, der Utopisten aus der Reformationszeit. Sie meinten über die Reformation Luthers weit hinausgehen zu müssen zu einer Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden. Sie fühlten sich dabei als unmittelbare Geistesverwandte der frühen israelitischen Propheten wie Amos und Jeremia, die auch in die Politik Israels eingegriffen hatten. Der Zeitunterschied wird für sie unwichtig. Die Utopie eines unmittelbar bevorstehenden Reiches des Friedens und der Gerechtigkeit ist greifbar nahe und bedarf nur eines letzten, radikalen Einsatzes der ganzen Person. Aus diesem Geist war der Bauernaufstand von Thomas Müntzer hervorgegangen, aus ihm speist sich auch heute das radikale christliche Engagement. Staat und Kirche sind für diese Geisteshaltung Gebilde des Teufels, der das Reich Gottes verhindern will. Dieses Reich liegt nur bei den Armen und Unterdrückten.

LeerSeit den Tagen der Aufklärung verbindet sich nun der christliche Utopismus mit einem radikalen Humanismus, der den Menschen ganz diesseitig aus seinen Naturrechten heraus versteht. In diesem Humanismus wird auf einen angeblichen Urzustand des Menschen zurückgegriffen, der vor seiner Vergesellschaftung geherrscht haben soll. An diesem Urzustand wird alles gemessen. Die Gleichheit aller Menschen wird zum einzig lohnenden politischen Ziel. Die „Egalisierung” ist der Kernbegriff und die Freiheit ist nur das Mittel, um zur Gleichheit zu gelangen. Dieses Naturmenschentum ist heute auf allen Straßen und Plätzen der westlichen Welt zuhause. Sein Prophet ist Jean Jacques Rousseau.

LeerUnter dem Druck der modernen technisierten Massenstaaten fließen die beiden Geistesrichtungen der biblischen Utopisten und der naturrechtlichen Rationalisten zusammen. Gerade dieser Zusammenfall von rationalistischem Gleichheitsdenken und religiösem Utopismus gibt eine für Intellektuelle und Jugendliche faszinierende Mischung. Jede Seite erhält von der anderen, was ihr fehlt. Die Religion erhält ihre rationale Form, die revolutionäre Politik ihren religiösen Hintergrund. Beides steigert sich zu einem weltüberwindendem Bewußtsein, dem scheinbar die Zukunft gehört.

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LeerEs wäre verhängnisvoll anzunehmen, daß eine handvoll vernünftiger Argumente oder ein gewisser Zwang der Verhältnisse allein diese kritische Mischung aus Religion und Politik beseitigen könnten. Seit mehr als einem Jahrzehnt haben Menschen, die zu unseren bekanntesten Intellektuellen zählen, die akademische Jugend mit diesem Geist infiziert. Dazu gehören Böll, Jens, Andersch ebenso wie die Theologen Moltmann, Gollwitzer, Sölle und Metz. In die Parteienlandschaft setzt sich das über Dutschke, Albertz, Brandt und Eppler fort. Ein unzählbares geistiges Mittelfeld von Literaten und Journalisten übernimmt die Übertragung in den Alltag. Die politische Mitte hat dem kaum etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen. Scheint sich nicht gerade für unsere Jugend ein Ausweg aus allen Zwängen der Zeit zu eröffnen? Drängt nicht die Angst vor der globalen Katastrophe, ob Umwelt- oder Kriegskatastrophe, in diese Richtung, die der Dichter Alfred Andersch mit der Parole „Jesus-King-Dutschke” bezeichnet hat, das er an einer Berliner Häuserwand angeschrieben fand? Wir sollten die Wirkungsmacht dieses Zeitgeistes zuerst in all seinen Verästelungen zur Kenntnis nehmen, ehe darauf kurzsichtig reagiert wird. Er geht ja durch uns alle hindurch. Unter der Fahne des demokratischen und humanitären Fortschritts, von dem weite Teile der Kirche, besonders der evangelischen Kirche, und der übrigen Gesellschaft ergriffen sind, bildet sich nichtsdestoweniger eine lebensbedrohende Ideologie heraus. Sie stellt nicht nur die in den letzten dreißig Jahren errungenen wirtschaftlichen und politischen Ergebnisse eines Staates wie der Bundesrepublik Deutschland total in Frage, sie wertet nicht nur jede vorhandene Form von Staat und Kirche ab und ist auf deren Zersetzung aus, sondern birgt auch die Gefahr in sich, das Leben der Menschen überhaupt aus dem Gleichgewicht zu bringen. Zu leicht wird über der Faszination einer Gesellschaft der Freien und Gleichen die Grenze des menschlichen Schicksals übersehen. In dem notwendigen Kampf gegen verhärtete Strukturen und lebensbedrohliche Zwänge nimmt man dem Menschen zu leicht die Stützen, die er braucht, um sich und andere vor dem Chaos zu bewahren, das das Leben jederzeit verschlingen kann. Die nüchterne Einschätzung der menschlichen Möglichkeiten verliert sich. Auf allen Gebieten des sogenannten humanitären Fortschritts gibt es bereits deutliche Anzeichen der Chaotik. Wo jeder nur seine eigenen Lebensrechte anerkennt und sie unter dem Stichwort der „Selbstverwirklichung” moralisch überhöht, wird der Staat unregierbar, die Familie aufgelöst, die Schule lernunfähig. Wirtschaftliches Fortschrittsdenken und politisches Fortschrittsdenken ergänzen sich dabei gegenseitig. Der moderne Revolutionarismus in der westlichen Welt ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß er nicht aus echter Armut und Unterdrückung erwächst, sondern gleichsam auf der Verwöhnungsgesellschft aufsitzt. Er ist ein explosives Gemisch aus echtem Engagement und Wohlstandsdenken. Daß sich alle alles und sofort leisten können, erscheint als Ziel des sozialen Fortschritts. Die Grundfähigkeit des Überlebens, die darin besteht, daß der Mensch Enttäuschungen überwinden lernt und sie in positive Erkenntnisse und Handlungen umsetzt, wird nicht mehr geübt. In diesem Mangel an „Frustrationstoleranz” liegt in sehr vielen Fällen der tiefste Grund für das soziale Defizit. Schließlich braucht jeder seinen eigenen Therapeuten und Sozialarbeiter, um überhaupt noch überleben zu können. Die Eigenverantwortung ist längst auf die Gesellschaft abgeschoben worden und macht die willensschwache Masse der Betreuten zu einer leichten Beute für Verführer. Unkenntnis geschichtlicher Zusammenhänge und gleichzeitiger moralischer Anspruch bildeten auch in den dreißiger Jahren die Basis für den Verführer Hitler. Durch einen überhöhten moralischen Anspruch kann jeder den anderen ausschalten. Die geschicktesten Manipulatoren bestimmen schließlich den Weg. Die organisatorischen und technischen Mittel stehen dazu längst bereit.

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LeerDie Chaotisierung der Gesellschaft, die ebenso unter wirtschaftlichen wie politischen Gesichtspunkten betrieben wird, treibt auf den Punkt zu, an welchem nach dem Diktator gerufen wird. Das radikale humanistische Engagement schlägt folgerichtig in die radikale inhumane Gesellschaft um, wie es die Geschichte der verschiedenen Revolutionen seit der Aufklärung schlagend belegt.

LeerHier begegnen sich nun die Aufgaben von Staat und Kirche. Angesichts der auflösenden Tendenzen, die sich im Neuprotestantismus zeigen, hat die Kirche die Aufgabe, dem Menschen die Möglichkeit zu geben, sich zuerst einmal als Mensch zu stabilisieren, sein Schicksal anzunehmen und sein Handeln zu ordnen. Gerade dadurch, daß sie sich auf den religiösen Bereich konzentriert, kann sie die notwendige gesellschaftliche Wirkung entfalten. Damit käme auch der Staat von dem ihn ruinierenden Anspruch los, zum Wohl der Menschen auch noch das Heil liefern zu müssen. Wenn die Kirche sich um das Heil der Menschen sorgt, um die Begründung seiner Person, dann kann der Staat getrost das Notwendige tun, um die äußeren Verhältnisse zu ordnen. Nur indem jeder Bereich seine spezifische Aufgabe wahrnimmt, erhält der Mensch den Raum zum Atmen - als Person, als Gläubiger, als unverwechselbarer Mensch. Wenn die Kirche Kirche ist, kann auch die Politik Politik sein und der Mensch Mensch bleiben. In der heutigen Situation erweist sich die Lehre „von den beiden Bereichen” als der entscheidende Beitrag der Kirche zu der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die politische Gesetzmäßigkeit kann niemals den Menschen als Menschen begründen und seinen letzten Wert bestimmen. Der religiöse Glaube wiederum kann nicht die politischen Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzen. Nur in dem Widerspruch beider Bereiche entsteht das Spannungsfeld zwischen alter und neuer Schöpfung. Wer dieser Spannung entgehen will wie der rationale Humanismus oder der christliche Utopismus, wird letztlich nur den eigenen Konsequenzen anheimfallen. Die Gesellschaft der Gleichen ist nur auf dem Wege des Terrors zu verwirklichen und das Friedensreich der religiösen Utopisten wird zur Beute für die Mächtigen. Zuletzt kann sich der Mensch doch nicht aus seinem Schicksal herausstehlen, das ihn festhält als ein Wesen zwischen Himmel und Erde, zwischen Hoffnung und Angst. Über dem Abgrund seiner eigenen Person und dem der Welt kann er nur von einem „Jenseits” her gehalten werden. Dieses „Jenseits” aber ist nach dem übereinstimmenden Glauben der Christenheit die gnädige Zuwendung Gottes in seinem Sohne Jesus Christus. Erst indem sich ein Mensch im Glauben von dorther begründet, kann er Tod und Teufel widerstehen und in den Abgründen dieser Welt fröhlich seines Weges ziehen.

LeerWelche Forderungen ergeben sich daraus für das Verhalten?


  1.Ein Herz für die jungen Menschen haben! Denn sie werden die Folgen der scheinbar so imposanten Humanitätsideologie zu tragen haben. Es gehört viel Kenntnis und viel Geduld dazu, die Irrwege des europäischen Geistes aufzuarbeiten. Sie führen alle durch uns selber hindurch.
  2.Den Realitätsbezug des Glaubens wie der Politik im Auge behalten, auch wenn die Illusionen noch so verlockend sind! Der christliche religiöse Glaube bezieht sich auf die Welt, wie sie ist, und macht dadurch den Gläubigen fähig, sie zu überwinden. Dazu gehören Mut und Ehrlichkeit genauso wie die Hoffnung.
  3.Die Kenntnis und den Sinn für die Geschichte fördern! Alles, was uns heute zu schaffen macht, hat seine Wurzeln in unaufgearbeiteter Vergangenheit. Eine unaufgearbeitete Vergangenheit kann aber nie zu einer weiterführenden Zukunft werden. Ein Fortschrittsbarbarismus ohnegleichen hat bereits weiteste Kreise ergriffen und macht sie anfällig für jede erdenkliche Verführung. Es geht heute nicht darum, die Menschen weiter zu entstabilisieren, sondern ihnen zu helfen, ihr Leben zu führen, ohne daß sie der Resignation oder dem Utopismus verfallen.


© Wolfram Lackner
Quatember 1982, S. 144-152

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-29
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