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Helferdienst, Beichte und Seelsorge - Gedanken zur Praxis
von Reinhard Mumm

Adolf Köberle gewidmet,
dem langjährigen Kurator der Evangelischen Michaelsbruderschaft,
unserem Bruder und zeitweiligen Senior im Konvent Bayern,
dem Lehrer der Theologie in Basel und Tübingen,
dem Seelsorger und Freund
zum 85. Geburtstag am 3. Juli 1983


I.


LeerOft werden wir gefragt: Wer ist die Michaelsbruderschaft eigentlich? Was will sie, und was tut sie? Es ist nicht leicht, mit wenigen Worten auf solche Fragen zu antworten. Wir können dies mit Hinweisen auf die Geschichte der Bruderschaft tun; aber geschichtliche Berichte erfordern vom Hörer Geduld, und solche Geduld wird nicht immer aufgebracht. Doch ein Kennzeichen der Bruderschaft läßt, wenn es genannt wird, die Fragenden aufhorchen: Jeder Bruder hat einen Helfer, oder er sollte doch einen Helfer haben. Was ist mit dem Dienst eines Helfers gemeint? Ist es überhaupt gut, jedem Bruder einen anderen an die Seite zu stellen, der ihn als Helfer begleitet, als Beistand und Mahner, als Tröster und Verteidiger, sogar als Beichtvater und jedenfalls als der, dem er Rechenschaft schuldig ist? Manche, die davon hören, fürchten um die Eigenständigkeit der Persönlichkeit. Da scheint die viel berufene evangelische Freiheit in Gefahr zu geraten, wenn vom Helferamt die Rede ist. Nicht nur Außenstehende, auch Michaelsbrüder haben ihre kritischen Fragen gegenüber dem Helferdienst.

LeerDer Dienst des Helfers hat sich in der Michaelsbruderschaft durch ein halbes Jahrhundert bewährt. Gewiß war und ist er nicht vollkommen; aber er wird ernst genommen. Bereits in der Stiftungsurkunde von 1931 heißt es, die Brüder seien einander Rechenschaft schuldig, man solle sich gegenseitig nach bestem Vermögen helfen, und jeder wählt sich mit Zustimmung des Leiters, heute des jeweiligen Konvents-Ältesten, einen Helfer. Von Anfang an hat sich die Bruderschaft von dem neuprotestantischen Ideal des religiösen Individualisten abgewandt und angeknüpft an die Weisung Jesu, der seine Junger zu zweit aussandte (Mark. 6,7). Die einige Jahre später ausgeformte Regel führt die Grundeinsicht weiter aus: Jeder Bruder reicht seinem Helfer einmal im Jahr einen schriftlichen Rechenschaftsbericht ein. Dieser Bericht dient dazu, durch die Niederschrift Klarheit zu gewinnen über den eigenen Weg. Es versteht sich von selbst, daß solche Rechenschaft vertraulich bleibt und nur dem Gespräch zwischen dem Helfer und dem anvertrauten Bruder dient. Weisung und Wirklichkeit stimmen nicht immer überein. Das wird niemand wundern, der einige Menschenkenntnis besitzt. Auch Mitglieder einer Bruderschaft sind und bleiben Menschen mit ihren Schwächen. Manche Helferbeziehung wurde nicht recht lebendig, sie blieb im Formalen stecken oder ruhte zeitweilig. Der Rechenschaftsbericht wurde verzögert oder versäumt. Es gab Ungeschicklichkeiten im Umgang miteinander. Die Entfernungen waren zu groß, um sich zu besuchen, und was sonst noch hinderlich zwischen Menschen treten kann. So war und ist es von Zeit zu Zeit nötig, das Amt des Helfers neu zu beschreiben und seine Pflichten einzuschärfen. Wilhelm Stählin hat das wiederholt getan. Wir lesen mit Staunen, wie streng das Amt des Helfers vor dreißig und mehr Jahren angeschaut wurde.

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LeerZuletzt hat Walter Stökl im Auftrag des Bruder Ältesten 1974 ein Heft herausgegeben, das den Dienst des Helfers beschreibt. Nicht so sehr das Amt, sondern der mit dieser Einrichtung gegebene Dienst wird herausgestellt. Wenn dieser Dienst wirksam werden soll, muß immer wieder geprüft werden, ob jeder Bruder tatsachlich einen Helfer hat. Niemand forscht nach, wie im einzelnen sich der Helferdienst vollzieht; aber der Konvents-Älteste soll dafur sorgen, daß jeder Bruder nach Möglichkeit einen Helfer hat. Weiter wird der verantwortliche Älteste sich fragen, ob die bestehenden Helferverhältnisse noch lebendig sind, oder ob hier und da eine neue Helferbeziehung einzurichten ist. Im Lauf der Jahrzehnte hat es sich wiederholt gezeigt, daß dort, wo der Dienst des Helfers erlahmt oder gar fehlt, die Gefahr nahe rückt, daß der vereinzelte Bruder sich aus der Bruderschaft herauslöst. Die Bruderschaft stirbt ab, wenn der Dienst des Helfers nicht mehr lebendig ist. Bruderschaft und Helferschaft hängen eng zusammen.

LeerWorin besteht der Dienst des Helfers? Er kann und soll ein Ratgeber sein. In jedem Leben kommt es zu Konflikten, berufliche Entscheidungen stehen an, in der Familie kommen Probleme auf. Auch zwischen Brüdern kann es Verstimmungen geben. Hier ist der Rat des Helfers wichtig, er soll gesucht werden. In der Psychologie ist man sehr zurückhaltend mit Ratschlägen; sie sind sogar verpönt. „Man schreibt der Seele eine gewisse intuitive innere Heilkraft zu. Wenn man die nicht stört, nicht unterbricht, dann wird sie schon ins Licht kommen”, kennzeichnet Adolf Köberle in seinem Aufsatz „Der Seelsorger in der Seelsorge” (Theologische Beiträge 1977 S. 268) die Position vieler Psychotherapeuten und fährt fort: „Nein, wir werden schon den Mut aufbringen müssen, auch einmal zu schneiden oder eine klare Richtlinie zu geben.” Ein Seelsorger, hier der Helfer, kann sich nicht völlig wertfrei verhalten, wie es Psychologen gern tun. Seine Aufgabe ist es, das Gewissen des anvertrauten Bruders zu scharfen. So kann es angebracht sein, gelegentlich einen entschiedenen Rat zu geben, vielleicht sogar einen Rat, den anzunehmen dem anvertrauten Bruder schwerfällt. Wir kennen Beispiele, in denen sich das als richtig erwiesen hat. Aber der Helfer muß sich selbst streng prüfen, ob ein solcher Rat nötig ist und ob dieser Rat im Bereich seiner Vollmacht liegt. Immer gilt es, die Gewissensfreiheit des Anvertrauten zu wahren. Er soll dahin geführt werden, daß er aus eigener Einsicht und mit Überzeugung den rechten Weg findet. In dieser Hinsicht kann der Helfer etwas aus der Psychologie lernen.

LeerIndem der Helfer Ratgeber ist, wird er nicht selten auch zum Seelsorger, weil äußere Fragen oft eine Innenseite haben. Nehmen wir nur das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, das in vielen Variationen fast jede Familie betrifft. Da wird hart gelitten, auf beiden Seiten, und es ist äußerst ärgerlich, wenn man auf billige Weise die Konflikte so darstellt, als läge die Schuld nur auf einer Seite. Hierzu äußert sich Adolf Köberle auf eine erhellende Weise: „Kinder leben häufig das ungelebte Leben ihrer Eltern. Sie wollen darstellen und nachholen, was die Ahnen geopfert, unterdrückt oder versäumt haben. Wenn gewisse Seiten der Wirklichkeit Generationen lang vernachlässigt worden sind, im Schatten haben liegen müssen, sagen wir einmal das Musische, das Dichterische, das Spielerische, wenn über Geschlechter hin immer nur die Worte Pflicht, Leistung, Verzichten, Sparen ganz groß geschrieben worden sind, dann kommt es .. . mit einer gewissen seelischen Zwangsläufigkeit dahin, daß diese ausgefallenen Kräfte des Humanum sich in einer nächsten Generation ungestüm melden und ihr Recht fordern” („Heilung und Hilfe”, Darmstadt 1968 S. 149). Der Mangel ist ein Glied in einer Kette, was sich nicht selten in gegenläufigen Entwicklungen der Generationen äußert, die heute besonders radikal ausfallen. Solche Entwicklungen können zu neuen Höhepunkten führen, die freilich oft wieder erkauft werden mit schmerzlichen Fehlerscheinungen. Welch ein Segen ist es, wenn ein Helfer seinem anvertrauten Bruder, der hier angefochten ist und leidet, zum Seelsorger wird! Das griechische Neue Testament kennt das Wort parakalein; es meint beistehen und verteidigen, aber auch trösten und mahnen. Dies darf der Helfer sein, ein Tröster, Mahner und Beistand und damit ein Werkzeug des Heiligen Geistes.

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LeerDie Seelsorge vollzieht sich im vertrauten Gespräch unter vier Augen, über das zu schweigen geboten ist. Zur Seelsorge gehört das Gebet, sowohl das gemeinsame Gebet wie auch die Fürbitte für die Angefochtenen. Möglich und hilfreich kann ein Briefwechsel sein. Auch ein Ferngespräch zur rechten Stunde kann aufrichten und helfen. Mancher Helfer hat auch mit der Tat geholfen, seinen Bruder aufgenommen oder ihn unterstützt, wenn dies ihm möglich war und richtig erschien.

LeerIst der anvertraute Bruder verheiratet, so wird dem Helfer daran liegen, seine Frau kennen zu lernen. Hier tut sich ein weites Feld auf. Wenn der Helfer das Vertrauen auch der Frau des ihm anvertrauten Bruders findet, ist viel gewonnen. Nicht immer läßt sich das erreichen. Die Ehe braucht einen Schutzraum. Das Vertrauen zwischen dem Bruder und seiner Frau darf nicht gestört werden. Hier ist ein besonders empfindlicher Bereich angesprochen, der feinen Takt und völlige Verschwiegenheit erfordert.

LeerDer Helfer hat auch eine scheinbar äußerliche Aufgabe, indem er seinem anvertrauten Bruder hilft, die Ordnung der Bruderschaft zu wahren. Das klingt recht formal, ja die Ordnung ist gar in Verruf geraten. Es widerspricht dem Geist der Gegenwart, an eine Ordnung zu erinnern. Aber es ist offensichtlich wahr, daß keine Gemeinschaft ohne eine Ordnung bestehen kann. Die Ordnung ist - recht verstanden - ein Instrument der Liebe; denn sie hilft zur notwendigen Rücksichtnahme aufeinander. Wer die Ordnung verwirft, hilft nicht zur Freiheit, sondern er öffnet Tor und Tür der Willkür und macht damit echte Freiheit unmöglich. Freilich ist es schrecklich, wenn die Ordnung zum Knüppel wird, zum Instrument des Streitens und der Rechthaberei. Da wird sie zum Zerrbild und verliert ihren Sinn. Aufgabe des Helfers ist es, mit seinem anvertrauten Bruder jeweils den rechten Sinn der gegebenen Ordnung zu erfassen und so die Ordnung zu erfüllen, zum eigenen Besten und zum Besten der Bruderschaft.

LeerNehmen wir ein handfestes Beispiel: Wie steht es mit den finanziellen Verhältnissen? Ist da etwas in eine heimliche Unordnung geraten? Bin ich bereit, ein wirkliches Opfer zu geben? Wir kennen Brüder, die zu hingebenden Opfern bereit sind, zu Opfern an Zeit und Kraft und Geld. Aber wir können nicht verschweigen, daß manche sich eigentümlich uneinsichtig verhalten. An einer scheinbar so äußerlichen Sache wie dem Geld wird nicht selten die innere Verfassung eines Menschen offenbar. Wenn der Helfer hier eingreift, dann geht es nicht um das Geld, sondern es geht um den Menschen und um sein Verhältnis zu Geld und Besitz. Das Evangelium vom reichen Jüngling erzählt uns klar, in welcher Weise Jesus hier zum Seelsorger wurde. Im Lauf eines langen Lebens kann niemand stets den gleichen Bruder zum Helfer haben. Aus verschiedenen Gründen müssen Helferverhältnisse geändert werden, manchmal auch infolge des Fortschreitens der Jahre. Kann ein Jüngerer zum Helfer werden? Zu allen Zeiten war es so in der Christenheit, daß Jüngere auch einem Älteren zum Seelsorger wurden. Darum muß keinem ein Helfer fehlen, wenn er in höherem Alter keinen Älteren mehr findet. Vom Jüngeren wird dem Älteren gegenüber freilich besonders zu erwarten sein, daß er seinen Dienst mit Liebe und Hochachtung tut. Wenn schon in jedem Fall der anvertraute Bruder mit Respekt zu behandeln 1st, weil solcher Respekt gegen jedermann geboten ist, so gilt dies erst recht, wenn ein Jüngerer dem Älteren beisteht.


II.


LeerDer Helfer kann auch zum Beichtvater werden. Das ist nicht selbstverständlich; denn Helfer und Beichtvater können auch zwei verschiedene Personen sein. Der Dienst eines Helfers sollte keinem Bruder fehlen, die Beichte ist und bleibt freiwillig. Es ist abwegig, über Beichten Statistiken zu fuhren oder sonst Aufzeichnungen zu machen. Dennoch fragen wir uns: Wie steht es mit der Beichte? In diesem Gedenkjahr an den Reformator Martin Luther hören wir neu auf seine Erfahrung mit der Beichte, wie er sie in seinem Großen Katechismus beschrieben hat: „Darumb wenn ich zur Beichte vermahne, so tue ich nichts anders, denn daß ich vermahne, ein Christen zu sein. Wenn ich Dich dahin bringe, so habe ich Dich auch wohl zur Beicht gebracht. Denn welche danach verlangkt, daß sie gerne fromme Christen und ihrer Sünde los wären und fröhlich Gewissen haben wollten, die haben schon den rechten Hunger und Durst, daß sie nach dem Brot schnappen, gleich wie ein gejächter Hirsch für Hitze und Durst entbrannt, wie der 42. Psalm sagt: Wie der Hirsch schreiet nach den Wasserbächen, so schreiet meine Seele, Gott, zu Dir; das ist, wie wehe und bange einem solchen ist nach einem frischen Born, so angst und bange ist mir nach Gottes Wort oder Absolution und Sakrament.” Bedenken wir diese Erfahrung, dann kann die Beichte in unserem Leben eigentlich nicht fehlen.

LeerEs ist hier nicht möglich, eine Lehre von der Beichte zu entfalten. Nur wenige Sätze sollen das Wichtigste festhalten:
  1. Gott allein vergibt die Sünde. Indem Jesus in Seiner Vollmacht Sünde vergibt, erweist Er sich als der von Gott gesandte Heiland.
  2. Jesus hat solche Vollmacht Seiner Kirche übertragen, indem Er Petrus und die weiteren Apostel mit der Schlüsselgewalt für das Himmelreich beauftragte.
  3. Seither übt die Kirche kraft der Zusage, daß ihr der Heilige Geist nicht fehlen wird, das Amt der Sündenvergebung aus. Sie tut dies in der Regel durch ihre berufenen, gesegneten und verpflichteten Diener.
  4. Dies geschieht im Glauben, unter Gebet und Fürbitte, durch vollmächtigen Zuspruch und mit begleitenden Zeichen, der Handauflegung und dem Segen. Das persönliche Bekenntnis und der persönliche Losspruch geben eine starke Hilfe. In diesem Sinne enthält die Beichte ein großes Angebot; es ruht auf ihr ein stärkender Segen.

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LeerEin orthodoxer Bruder, der unsere deutsche Theologie gut kennt, der rumänische Professor Dimitru Staniloae, sagt: Die Beichte ist das Sakrament der Liebe Gottes - ein gutes Wort, dem wir gern zustimmen. In der Beichte und Absolution wendet sich Gott in seiner Liebe uns zu und spricht uns frei. Er versöhnt sich mit uns.

LeerWann und wo können wir beichten? Hier und da werden bei den Michaelsfesten und anderen Treffen Stunden ausgespart und Beichtkammern eingerichtet, so daß jeder, der es begehrt, beichten kann. Die Vorstufe der Beichte ist das seelsorgerliche Gespräch. Die Pfarrer ermutigen wir, sich regelmäßig zu solchem Angebot in ihrer Kirche oder in der Sakristei aufzuhalten und dies bekannt zu machen. Diese Stunden werden nicht vergeblich sein. Auch wenn ein solches Gespräch nicht zur Beichte führt, kann es doch mit einem Gebet abgeschlossen werden. Bei den Kirchentagen hat seit 1956 niemals das Angebot zu privater Seelsorge und zur Einzelbeichte gefehlt; stets kamen Menschen, die dieses Angebot wahrgenommen haben. Wer Beichte hört, soll selber Erfahrungen mit der Beichte gemacht haben. Es ist wichtig, daß „der Seelsorger, in der Sprache von C. G. Jung geredet, selbst einmal seinem eigenen ‚ Schatten’ begegnet” ist (A. Köberle, Heilung und Hilfe, S. 148). Von solcher Erfahrung her kann er ganz anders zuhören, als ein selbst Betroffener, und den Ratsuchenden verstehen. Mitglieder von Bruderschaften und Kommunitäten haben die Aufgabe, Erfahrungen auf diesem innersten Gebiet geistlichen Lebens zu machen und sie weiterzugeben für so viele, die danach ein verborgenes Verlangen haben. Wer in die Häuser geistlicher Gemeinschaften einkehrt, sucht die Stille und das vertraute Gespräch, das weiterführt.

LeerZeit haben für den, der sich aussprechen will, und voller Verständnis aufnehmen, was er mitteilt, ist das Erste. Zuhören bedeutet freilich nicht in jedem Fall auch zustimmen. Im Gegenteil: Wie der Arzt erst eine gründliche Diagnose stellt, um dann zur Therapie überzugehen, wird ein Beichtgespräch auch Konsequenzen fordern. Eine Unordnung, die offenbar wurde, ein Schaden, der entstanden ist, sie sollen ja nicht andauern, sondern gebessert und geheilt werden. Die Absolution kann nur dann kräftig sein, wenn der Wille gestärkt wird, sich diesem Wort entsprechend künftig zu verhalten. Jesus hat die Ehebrecherin freigesprochen und hinzugefugt „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr” - eine klare Entscheidung in dieser wunderbaren Geschichte, die erst spät in das Johannes-Evangelium eingefügt wurde (Kap. 11). Die allgemeine Beichte, die wir in den evangelischen Kirchen kennen und die in Gestalt der Bußgottesdienste in die katholische Kirche Eingang fand, bietet auch eine Hilfe. Aber sie kann die Einzelbeichte nicht ersetzen. Wir brauchen in den evangelischen Gemeinden Angebote der privaten Beichte und Absolution. Es hat sich bewährt, alljährlich die Konfirmanden durch ein Angebot zum persönlichen Gespräch zu zweit oder zu dritt auf die Möglichkeit der Beichte praktisch hinzuweisen und sie darin einzuüben. Niemand sollte konfirmiert werden, ohne erfahren zu haben, daß es solche Möglichkeit zu persönlichem, vertrautem und verschwiegenem Gespräch gibt und daß solche Gespräche zur Beichte führen können. Dabei ist der junge Mensch ernst zu nehmen und das Beichtsiegel so zu wahren wie in jedem Fall.


III.


LeerDie Sorge für die Seelen ist die vornehmste Aufgabe der Kirche, voran ihrer Hirten, der Pastoren. Aber wie ist das mit der „Seele”? In einer rein biologisch-medizinischen Sicht wird die Seele als eine Gehirnfunktion verstanden, die mit dem Tod des Gehirns ausgelöscht ist. Doch „wir finden weder im Neuen Testament noch bei den Kirchenvätern irgendeine Polemik gegen die Lehre von der immortalitas animarum (Unsterblichkeit der Seelen). Das fünfte Laterankonzil verwirft im Jahr 1513 ausdrücklich die Lehre des islamischen Philosophen Averroes, der in der Gefolgschaft von Aristoteles die individuelle Unsterblichkeit geleugnet hatte. „Luthers heftige Abneigung gegen Aristoteles findet auch von daher ihre Begründung”, sagt Adolf Köberle 1970 in einem Akademievortrag und fügt ein Wort Luthers hinzu: „Wenn wir gestorben sind, wird jeder seinen Jüngsten Tag haben. Hier muß man die Zeit aus dem Sinn tun und wissen, daß in jener Welt nicht Zeit noch Stunde sind, sondern alles ein ewiger Augenblick” (A. Köberle, Universalismus der christlichen Botschaft, Darmstadt 1978, S. 57 ff.).

LeerDie Seele als Wesenskern des Menschen hat ein kaum überschaubar weit gespanntes Wesen. „Unsere Seele gleicht einem Haus mit vielen Stockwerken und Kellerräumen. Alles, was wir jemals erlebt haben in Kindheit und Jugend, alles, was jemals auf uns eingewirkt hat an Bildern, Eindrücken, Begegnungen und Erschütterungen, ist nicht einfach weg. Es bleibt bei uns, auch wenn wir es längst vergessen haben. Es ruht in dem sogenannten persönlich-unbewußten Seelengrund und arbeitet von dort aus mit an unseren Träumen und Plänen, an unseren Wünschen und Phantasien . . . Die Strahlungen der Seele gehen nicht nur herüber und hinüber in Form von zahllosen Mitteilungen, Warnungen, Winken. Die menschliche Seele besitzt in manchen Fällen sogar die wundersame Fähigkeit, mit erstaunlicher Klarheit in der verborgenen Vergangenheit und in der geheimsten Zukunft zu lesen . . .” (A. Köberle, Der Herr über alles, Hamburg 1957, S. 54 ff.). Welche Abgründe und welche Himmel tun sich auf in der Seele des Menschen, wenn nur einige Takte großer Musik erklingen! Und wie kann das unbewußte Lächeln eines Kindes, aber auch sein Schmerz die Seelen der Menschen berühren und verwandeln. Diese Seele hungert nach Verstehen, nach Liebe und nach der M öglichkeit, sich hinzugeben. Die Menschen verlangen nach Seelsorge. Ihnen wird wenig geholfen durch eine Kirche, die sich der Tagesordnung der Welt anschließt und sich weitgehend erschöpft in politischen Stellungnahmen, Appellen und Aktionen. Mit Recht erwarten gerade die, deren Tagesgeschäft von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik erfüllt ist, von der Kirche, daß sie die Gaben des göttlichen Geistes vermittelt und die Seelen nährt mit dem Brot, das man nicht um Geld kaufen kann. Mag es in seelsorgerlichen Gesprächen zunächst um die kleinen Dinge des Alltags gehen, um Klagen und Widrigkeiten; das ist nur die Oberfläche. Dahinter tut sich mehr auf, der Wunsch, angenommen zu werden, die Frage nach Gott und nach dem letzten Sinn und Ziel des Lebens.

LeerDer Helferdienst in einer Bruderschaft und das Angebot der Beichte sind nicht lediglich interne Lebensformen einer in sich geschlossenen Gemeinschaft; denn jeder Angehörige der Bruderschaft lebt zugleich in der Welt, hat Anteil an ihrer Not und Ratlosigkeit, und er ist Glied der Kirche und damit herausgefordert, das Evangelium hineinzubringen in diese einerseits so selbstsichere und gleichzeitig verworrene Welt. Wenn wir auch als Seelsorger in erster Linie die Inhaber des Hirtenamtes betrachten, so ist die Sorge für das Wohl und das Heil der Seelen nicht nur einem Berufsstand übertragen. Kraft des allgemeinen Priestertums der Glaubenden sind hier alle Christen berufen, mit ihren Gaben Seelsorge zu üben. Das geschieht ja auch, in unzähligen Gesprächen, bei Hausbesuchen und an Krankenbetten, in der Erziehung und im Betrieb, nicht zuletzt in den Kreisen und Gruppen kirchlichen Lebens. Bruderschaften und Kommunitäten haben ihre Mitte in Häusern, in die Menschen einkehren, um dort eine Atmosphäre zu finden, die der Seele wohltut. In unserem Berneuchener Haus Kloster Kirchberg brauchen wir hilfreiche Brüder und Schwestern, die Zeit haben für die Gäste, die zuhören und Ratsuchenden weiter helfen. Gleiches gilt für andere Orte, für die „Häuser der Stille” in Bethel und in Berlin, die Diakonissenhäuser, denen wir uns verbunden wissen. Daß wir heute viele alte Brüder und Schwestern in unseren geistlichen Gemeinschaften haben, erweist sich im Blick auf die Seelsorge als ein Geschenk; denn dem Alter ist Erfahrung zuteil geworden, dazu Gelassenheit und Geduld - wichtige Gaben für die Seelsorge.


IV.


LeerSeelsorge, Helferdienst und Beichte sind drei Kennzeichen der Michaelsbruderschaft, welche ihrem Wesen nach den Christenstand überhaupt kennzeichnen. Seelsorge, Helferdienst und Beichte sind Instrumente, um Menschen zu befreien und zu wandeln. Adolf Köberle, der Lehrer und Seelsorger, zu dem wir aufschauen, weist dazu auf die Mitte des Evangeliums hin: „Nach reformatorischer Überzeugung ist der Wille zur Selbstbestätigung und Selbstrechtfertigung eine Grundbefindlichkeit des Menschen, von der er sich nicht zu befreien vermag - es sei denn, daß an ihm eine Wesenswandlung von Grund aus geschieht. Eine solche aber wird uns im Evangelium von Gott her angeboten. Gott schenkt uns die höchste Würde, die gedacht werden kann, es ist die Würde der Gotteskindschaft. Wer diese ergreift, wer darum weiß, der bekommt eine herrliche Überlegenheit und Unabhängigkeit allen menschlichen Bewertungen gegenüber, so daß er sich nicht mehr ständig bestätigt sehen muß durch Lob und Anerkennung von anderen. Zugleich aber weiß sich der in Gott Gegründete auf Grund der empfangenen Gotteskindschaft allen seinen Mitmenschen verpflichtet zu einem liebevollen und verständnisvollen Eingehen auf alle ihre LebensNöte und Lebenswunsche . . .” („Universalismus”, s. o. S. 127). Vor uns liegen große Aufgaben, die Türen sind geöffnet, viele warten darauf, daß wir durch diese Türen auf einander zugehen. Seelsorge, Helferdienst und Beichte sind uns anvertraut, daß wir sie gebrauchen, und diese Dienste haben sich vielfaltig bewährt; sie werden auch künftig gesegnet sein. In seinem Heft uber den Helferdienst hat Walter Stökl uns ein Gebet empfohlen, das gesprochen werden kann, wenn ein Helfer mit seiner Aufgabe betraut wird. Dies Gebet faßt einprägsam zusammen, was Helferdienst und Seelsorge meinen:

LeerHerr, heiliger und allmächtiger Gott, himmlischer Vater, der Du uns in Deinem Sohn den guten Hirten gegeben hast und uns suchst in Liebe und uns heimbringen willst, stärke diesen Deinen Diener, der bereit ist, einem Bruder Helfer zu sein, daß er in Treue über dem Bruder wacht, der ihm anvertraut ist. Segne sein Gebet und sein Opfer, segne ihn, wenn er den anvertrauten Bruder besucht, erfülle ihn mit dem Geist der Erkenntnis und der Liebe, gib ihm Weisheit und Mut für seinen Dienst, stärke und heilige durch ihn den Bruder, der ihm anvertraut ist, wir bitten Dich durch Jesus Christus, unseren Herrn, der mit Dir eins mit dem Heiligen Geist lebet und regieret in Ewigkeit.

LeerAmen.

Quatember 1983, S. 82-90

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-03
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