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von Albrecht Peters |
In seiner Auslegung zur sechsten Bitte des Vaterunsers entfaltet Martin Luther seine Einsichten in unser inwendiges Angefochtensein. Hatte er im Kleinen Katechismus sofort das Zentrum markiert und „Mißglauben, Verzweifeln” herausgestrichen, so geht er im Großen Katechismus behutsamer vor. Er setzt nicht sofort ein bei den Anfechtungen der starken Christen, sondern setzt bei dem an, was allen in die Augen springt, und öffnet erst langsam die Sinne für das, was im Alltagsgetriebe zumeist verhüllt bleibt. Gehen wir mit ihm unsere Nöte von außen her an, so springt zunächst der Herrschaftsbereich des „Fleisches” in die Augen. Hier geht es um den brodelnden Triebkessel des „Es”; „im Fleisch wohnen wir und tragen den alten Adam am Hals.” Hier ist eine bedachtsame Leibeszucht geboten; es gilt auf dasjenige zu achten, was durch die Tore der Sinne in uns eindringt. Hinter den Anfechtungen vom Fleisch, welche vor allem die Jugend bedrängen, treten für alles, „was erwachsen und alt wird”, die Anfechtungen von der Welt her, die Nöte unserer zwischenmenschlichen Bezüge, ins Zentrum. In dieser Dimension gilt: „Niemand will der Geringste sein, sondern obenan sitzen und von jedermann gesehen sein”. Hier geht es um unser Ansehen, um unsere Rechtfertigung, um unser Selbstwertgefühl. Diese Sünde rührt schon unmittelbar an den Kernpunkt des Glaubens, an das erste Gebot. Wir leben nicht wirklich aus unserem Angenommensein von Gott durch Jesus Christus heraus, wir schielen vielmehr auf die Mitmenschen und machen unsre Existenz von ihrem Urteil abhängig. Damit tritt hinter den Anfechtungen von der Welt her der Satan selber heraus. Er tut uns die Ehre an, daß er sich gleichsam selber nur an „die starken Christen” heranmacht. Nur sie wissen ernstlich um Gottes Gebot und Gnade, deshalb werden sie angefochten in der Tiefendimension der Sünde gegen den Heiligen Geist. Finalis praesumptio, nicht zu erschütternde Selbstsicherheit, aber auch finalis desperatio, endgültige Verzweiflung, dies ist die Doppelgestalt der Kernsünde gegen den Gottesgeist. Weil der Reformator die ganze Skala der Anfechtungen selber durchleiden mußte, vermochte er sich zu trösten. In jener exemplarischen Trias: Fleisch, Welt, Teufel steht auf einer jeden Stufe das Ganze unserer Existenz vor Gott auf dem Spiel. Insofern ficht der altböse Feind uns schon durch Fleisch und Welt hindurch selber an, doch erst in der Glaubensanfechtung wird offenbar, daß es um das Ganze geht. Hier gibt Luther zunächst die Weisung, sich nicht mit der eigenen Schwermütigkeit einzuschließen, sondern die Gemeinschaft aufzusuchen, sich zum Essen und Trinken zu zwingen und so gleichsam ein „doppeltes Fasten” (duplex ieiunium) zu vollziehen; wenn es hilft, sollen wir sogar an ein schönes Mädchen denken. Den Angehörigen wird gesagt, sie sollten den von Selbstmordgedanken Geplagten keinen Augenblick allein lassen, alles fortnehmen, womit er sich ein Leid antun könnte, ihn mit „viel Historien, Neuzeitung und seltzam Ding” aus seinem Kreisen um sich selbst herauszureißen suchen und notfalls durch „faule oder falsche Teiding (Geschwätz) und Märlin” zum Lachen reizen, wenn alles nicht hilft, einen handfesten Streit vom Zaune brechen. Dann ruft Luther gerne die edle Frau Musika zur Hilfe, ist sie nach der Theologie doch die größte Gottesgabe und Menschenkunst und ist sie dem Satan, dem „Geist der Traurigkeit”, besonders zuwider. So rät Luther dem Organisten Matthias Weller: „Wenn ihr traurig seid und will überhand nehmen, so sprecht: Auf! ich muß unserm Herrn Christo ein Lied schlagen auf dem Regal..., denn die Schrift lehret mich, er höre gern fröhlichen Gesang und Saitenspiel. Und greift frisch in die Claves (Tasten) und singet drein, bis die Gedanken vergehen, wie David und Elisäus (2 Kön 3,15) taten. Kommet der Teufel wieder und gibt Euch ein Sorge oder traurige Gedanken ein, so wehret Euch frisch und sprecht: Aus, Teufel, ich muß itzt meinem Herrn Christo singen und spielen ... Und wie jener Ehemann tat, wenn seine Ehefrau anfing, zu nagen und beißen, nahm er die Pfeife unter dem Gürtel hervur und pfiff getrost, da ward sie zuletzt so müde, daß sie ihn zufrieden ließe; also greift Ihr auch ins Regal oder nehmet gute Gesellen und singet dafür, bis Ihr lernet ihn spotten”. Aus den Apopthegmata Patrum, den Sprüchen der Mönchsvater, greift Luther die Einsicht auf: Wir können nicht hindern, daß uns die Vogel über den Köpfen hin und herfliegen, wohl aber, daß sie bei uns ihre Nester bauen. Er verbindet dies mit dem Aufblick zum Herrn und verweist hierzu auf den seltsamen Bericht von der Überwindung der Israel heimsuchenden feurigen Schlangen (Num 21). In einer Art tiefenpsychologischer Anwendung des Textes weist er eine Schwermütige an: „Wenn solche Gedanken kommen und beißen wie die feurigen Schlangen, so sehet Ihr ja nicht den Gedanken noch Schlangen zu, sondern kehret Euer Augen immer ab und schauet die eherne Schlange an, das ist Christum, für uns gegeben, so wirds besser werden, ob Gott will. Es muß aber.. . gestritten sein und immer von den Gedanken lassen. Fallen sie ein, so lasse sie wieder ausfallen, gleich wie einer flugs ausspeiet, so ihm Kot ins Maul fiele. So hat mir Gott geholfen”. Vor allem im Blick auf die Prädestinationsanfechtungen verweist Luther, der diese Krankheit durchaus kennt und selber in diesem Spital „bis auf den ewigen Tod” gelegen hat, auf den in der Schrift uns geoffenbarten Willen Gottes. Gott selber verbietet uns, hier weiter vorzudringen, er beugt uns herunter zum Kreuz, Christi, zu Wort und Sakrament. Wir sollen deshalb die satanischen Einflüsterungen gleichsam ohne uns zu Gott emporsteigen lassen und zum Verführer sagen: „Horestu nicht, Teufel, daß ich solche Gedanken nicht haben will, und Gott hat sie verboten; heb dich, ich muß itzt an seine Gebot denken und lasse ihn dieweil für mich selbs sorgen; bistu ja so klug in solchen Sachen, so fahre gen Himmel und disputier mit Gott, der kann dir gnug antworten. - Und sollt also immerdar von Euch weisen und das Herz auf Gotts Gebot kehren”. Das Sich-Bekümmern um den heimlichen Ratschluß Gottes wird als Ursünde Adams im Paradies enthüllt, ja als Urverstoß Satans selber entlarvt; der Angefochtene greift hierdurch in Gottes Hoheitsrecht selber ein und will die Christusgnade nicht gelten lassen. Damit vergeht sich der Mensch sowohl gegen das erste Gebot als auch gegen die Christuserlösung. Mit dieser Anfechtung versucht der Widersacher Gottes seinen furchtbarsten Griff. Luther schildert dies schon 1519 im „Sermon von der Bereitung zum Sterben”: „Hie ubet der Teufel sein letzte, großte, listigiste Kunst und Vormugen. Dann damit fuhret er den Menschen (so er es vorsieht) ubir Gott, daß er sucht Zeichen göttlichs Willen und ungedultig werd, daß er viel nah noch einem andern Gott sich sehnet, kurzlich, hie gedenkt er Gottis Lieb mit einem Sturm-Wind auszuleschen und Gottis Haß erwecken. Je mehr der Mensch dem Teufel folget und die Gedanken leidet, je fährlicher er steht, und zuletzt nit mag erhalten, er fällt in Gottis Haß und Lasterung; dann was ist es anders, daß ich wissen will, ob ich vorsehn sei, dann ich will alls wissen, was Gott weiß und ihm gleich sein, daß er nichts mehr wisse dann ich, und also Gott nicht Gott sei, so er nichts ubir mich wissen soll? . . . Das heißt mit der Helle angefochten, wann der Mensch mit Gedanken seiner Vorsehung angefochten, daruber im Psalter gar viel Klagen ist. Wer hie gewinnet, der hat die Hell, Sund, Tod auf einem Haufen ubirwunden”. Die Schuld wird nicht verharmlost, aber auch nicht größer gemacht als sie ist, entscheidend ist vielmehr, daß wir sie nicht in unseren Gedanken festhalten, sondern sie dem Herrn überlassen und sie hineinbergen in. die Vergebung. Diese ist viel umfassender und greift viel tiefer als unsere erkannte Sünde, sie umgreift unser sündiges Wesen selber, das uns in seinen letzten Abgründen verhüllt bleibt. Aus einer ganz mit Schriftworten durchwirkten Argumentation heraus kommt der Zuspruch der Absolution unmittelbar auf den Bekümmerten und Angefochtenen zu, zugleich bindet er die Christen aneinander: „Christus redet durch mich, weil ich Dir sein Wort vorhalte, und gebietet, daß Du Deinem Bruder im gemeinen Glauben der Christenheit gehorchen und glauben sollst. Er selbst hat Dich absolviert von dieser und allen Sünden, so werden wir denn teilhaftig Deiner Sünden und helfen sie Dir tragen. Darum sieh zu, daß Du auch mit uns teilhaftig werdest unseres Trostes, der wahrhaftig, gewiß und beständig ist und vom Herrn selbst uns geboten, daß wir Dir mitteilen sollen und auch Dir geboten, daß Du ihn von uns sollst annehmen”. So tritt der Tröstende an die Seite des Angefochtenen; in beiden will die Vergebung und das neue Leben herrschen, aus beiden soll der Teufel der Schwermut, des Zweifels und Unglaubens vertrieben werden. So schließt Luther mit der Abrenuntiato Diaboli: „Darum fahre immer hin und trolle sich der leidige Teufel mit seiner Traurigkeit. . . Christus, unser Herr, strafe ihn und wird ihn strafen, der Dich durch seinen Geist stärke, tröste und erhalte”. „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umbfangen.Die Bewegung treibt uns auf Christus zu, weil sie von seinem Erbarmen umgriffen ist und in seinem Blut allein Zuflucht findet. „Das bistu, Herr, alleine.Darauf erklingt litaneiartig der dreimalige Anruf an den Heiligen und Barmherzigen: „Heiliger Herre Gott, heiliger starker Gott,Sodann wird der dreifache Anruf zur Bitte, die in ihrer dreifachen Entfaltung erneut das leibliche Sterben und das ewige Verderben in rechter Glaubenszuversicht durchzustehen und zu überwinden erfleht: „Laß uns nicht versinken in des bittern Todes Not. . .Immer wieder verdichten sich Anruf und Bitte im „Kyrieleison”, im „Herr, erbarme dich unser!” So ist in diesem schlichten und zugleich ungeheuer dichten Lied Luthers Ringen mit den Anfechtungen wie in einem Brennspiegel gebündelt. Auch darin ist Luther Seelsorger der Christenheit, daß er zu ihrem Vorbeter und Vorsänger wird. Freilich ist das alte Lied unter dem Gesetz; das Evangelium und der Glaube verwandeln es in den Lobgesang der Erretteten: „Mitten wir im Tode sind wir schon vom Leben umfangen.” Quatember 1983, S. 91-96 |
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