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Luthers Glaube im Spiegel seiner Musikanschauung von Karl Heinrich Ehrenforth |
Luther und die Musik - wie es scheint: ein recht vertrautes Thema. Da ist der Schöpfer des evangelischen Gemeindechorals, der Verehrer Josquins und Senfls, der Freund Johann Walters, der Laute spielende Vater im Kreise seiner Familie, der oft zitierte Anwalt schulischer Musikerziehung. Das Bild ist so vertraut, daß es nachdenklich macht. Ist es nicht zu monochrom geworden, überlagert von den Färbungen vieler Generationen und seiner facettenreichen Tiefenwirkung beraubt? Lauert hinter Versuch und Aufgabe, Geschichte zu vergegenwärtigen, nicht überall die Skepsis, ob es nicht doch bei einer Selbstbespiegelung bleibt? Ist solche Ver-Gegenwärtigung nicht doch das zumeist undurchschaute Ansinnen, Geschichte zu vereinnahmen und damit auch zu verfälschen? Ein Blick in die Wirkungs- und Deutungsgeschichte Martin Luthers und der Reformation würde uns diese Vermutung recht eindeutig bestätigen. Und kopfschüttelnd steht man vor dem Arsenal heroisierender, banalisierender und stilisierender An-Eignung im Namen der jeweils eigenen Position und Sache. Heute konsolidiert sich offensichtlich das Lutherbild, auch über die Grenzen der Konfessionen hinweg. Die Einsicht wächst, daß man Luther auch in seiner säkulargeschichtlichen Bedeutung nicht begreift, wenn man nicht die Mitte seines Lebens, Denkens und Betens klar ins Auge faßt: den zürnenden und Rechtfertigung fordernden Richtergott zugleich und gerade so als den liebenden, Gnade schenkenden Vatergott zu erfahren. Schon 1925 hatte der Historiker Gerhard Ritter auf diesen entscheidenden Punkt hingewiesen: „In seinem Ringen mit Gott muß man ihn aufsuchen, wenn man begreifen will, was er war und für die Weltgeschichte bedeutet. Wer den Zugang dahin nicht findet, tut besser, ganz an ihm vorüberzugehen, statt zu ihm mit Fragen zu kommen, auf die er nun einmal keine Antwort hat.” Nur von dieser Mitte der geistlichen Existenz her kann man sich Luther nähern. Dies gilt auch für die Frage nach der Musikanschauung des Reformators. Bevor wir uns ihr zuwenden, sollten wir noch einmal innehalten. Denn nun gilt uns die Frage, ob wir diesen Einstieg in die existentielle Lebensmitte Luthers noch angemessen nachvollziehen können? Sind wir nicht im Strudel der säkularisierten Industriegesellschaft, des geistlichen Kahlschlags im Namen einer transzendenzfeindlichen weltimmanenten Vernunft und der Verengung unserer Wahrnehmung von Wirklichkeit unfähig geworden, dem großen Mann der Reformation in die Tiefe radikaler Gotteszugewandtheit zu folgen? Es ist nicht nur das zwischen Luther und uns heute, was Menschen in 500 Jahren gedacht, gewollt und erfahren haben, sondern vor allem auch, was Menschen vergessen, verloren und abgeblendet haben. Dennoch darf uns diese Einsicht nicht entmutigen. Luther wirkt bis in unsere Zeit und dies ist Anlaß genug, ihn als Gesprächspartner zu suchen. Annäherung an Luther heißt heute: sich wachrütteln lassen zu einer Er-Innerung, die Blicke frei gibt nach vorne. Und vielleicht hilft uns Bonhoeffers bekanntes Diktum als schmale Brücke zwischen Luther einst und uns heute: „Der Gott, der uns in der Welt leben läßt, ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns.”Erst vor diesem Hintergrund kann Luthers Musikanschauung recht begriffen werden. Ihr liegt keine ästhetische, sondern eine eminent theologische Erfahrung zugrunde. Es gibt keine äußerung Luthers von Belang, die nicht aus der geistlichen Lebensmitte des „simul iustus et peccator” (vor Gott gerecht und schuldig zugleich) begriffen werden muß. Dies gilt auch für unser Thema, das auf den ersten Blick mehr beiläufigen Charakter im Lebenswerk Luthers zu haben scheint. Dieser erste Blick aber trügt. Jenes bekannte Zeugnis des Reformators, wonach er der Musik den ersten Platz nach der Theologie einräume, ist ja nicht eine Floskel der Gefälligkeit, sondern die Summe von tiefen Erfahrungen in und mit dem Medium der Musik. Ich spreche hier von jener nicht systematisierten, aber sein ganzes Leben begleitenden Gewißheit Luthers, daß die Musik ein Gottesgeschenk, ein kraftvoller Bote der guten und in Christus neu gewordenen Schöpfung, ja ein Werkzeug des Heiligen Geistes sei. Das Wunder des klingenden Kosmos erregte das Staunen des Reformators ein ganzes Leben lang. Wie einst Augustinus, im X. Buch seiner „Confessiones” nachzulesen, so steht sein Schüler Luther vor der geheimnisvollen Wirkung der Musica, die nicht nur das schönste Gotteslob des Menschen darstellt, sondern auch zur Waffe im Kampf gegen Traurigkeit, Resignation und Verzweiflung wird. Und Davids befreiendes Harfenspiel vor dem umwolkten Saul wird zur Schlüsselerfahrung auch für Luther. Dieser Aspekt des Musikers und Musikliebhabers Luther ist verhältnismaßig unbekannt geblieben und hat auch bei Lutherbiographen der Gegenwart kaum die ihm angemessene Berücksichtigung gefunden. Für Luthers Musikanschauung sind zwei Zeugnisse besonders wichtig, die beide aus dem Jahr 1530 stammen und auf der Veste Coburg verfaßt worden sind. Das erste ist ein Brief an den damals hochangesehenen katholischen Komponisten Ludwig Senfl, der in München lebte und dessen Freundschaft Martin Luther genoß. Anfang Oktober 1530 schreibt Luther: „Und ich urteile rundheraus und scheue mich nicht zu behaupten, daß es nach der Theologie keine Kunst gibt, die der Musik gleichgestellt werden könnte. Sie allein bringt nach der Theologie das zuwege, nämlich ein ruhiges und fröhliches Herz. Dafür ist ein klarer Beweis, daß der Teufel, der Urheber trauriger Sorgen und beängstigender Unruhen beim Klang der Musik fast genauso wie beim Wort der Theologie flieht... Meine Liebe zur Musik, die mich öfters erquickt und von Traurigkeit (Aland: „großer Seelenpein”) befreit hat, ist über die Maßen groß...”Am knappsten und zugleich umfassendsten hat Luther seine Musikauffassungjf in einer Skizze „Über die Musik” (WA 30. Bd. II, S. 696) niedergelegt, wo es heißt: „Ich liebe die Musik,Bevor wir näher darauf eingehen, wollen wir einen Blick in die musikalische Biographie Luthers tun, die uns zugleich den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Musikanschauung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit andeuten möchte. Luthers Elternhaus war mit Gewißheit nicht künstlerisch gepragt. Die musikalische Begabung des jungen Martin fand ihre erste Herausforderung vermutlich erst im Chordienst der Domschule zu Magdeburg, die er als Vierzehnjähriger besuchte. Bereits ein Jahr später wurde er auf Betreiben der Eltern in die Georgenschule nach Eisenach umgeschult und begegnete dort den ihn umsorgenden Patrizierfamilien Schalbe und Cotta, in denen viel musiziert wurde. Spätestens hier ist auch Luthers Kurrendedienst bezeugt. Er erlernte in Eisenach vermutlich auch das Lautenspiel, mit dem er seine gute Tenorstimme selbst begleiten konnte. Der Wechsel zur Artistenfakultät der Universität Erfurt brachte dem 18jährigen die Begegnung mit der spätmittelalterlichen Musikphilosophie, die im Rahmen der artes liberales mit Mathematik, Astronomie und Geometrie gelehrt wurde und bekanntlich rein spekulativ war, aber der Musik als klingendem Spiegel der kosmischen Ordnung einen hohen Rang einräumte. Luthers Musikbild ist davon freilich nicht mehr entscheidend geprägt; dafür war auch diese auf die Antike zurückgehende Musikanschauung im Spätmittelalter nicht mehr lebenskräftig genug. Dennoch ist sie unterschwellig spürbar. Wichtiger aber ist die aus der spekulativen Musikanschauung abgeleitete Wirkungsästhetik: Musik als Spiegel der kosmischen Ordnung, des göttlichen Schöpfungsplans vermag die Seele heimzuführen in die ordnende und sammelnde Welt des Maß-Geblichen. Recreatio: für Johann Sebastian Bach war dies noch zweihundert Jahre später verbindlich. Recreatio als Erquickung im tiefen Sinn, als Wiedereingliederung in die gute Schöpfung Gottes. Darin klingt noch einmal alles an, was Luthers Musikanschauung so lebendig erfüllt. In den folgenden Klosterjahren ist Luther bei seinen Studien des Augustinus gewiß auch auf dessen sechsbändiges Werk „De musica” gestoßen, in dessen letztem Band Töne anklingen, die bei Luther ein bereites Echo finden. Dazu gehört auch manches im Psalmenkommentar des Augustinus. Hier findet man Sätze, die von Luther selbst stammen könnten, zum Beispiel: „Da Gott unaussprechlich ist und der Mensch doch nicht von ihm schweigen darf, was bleibt ihm, als daß er jubiliere, daß das Herz sich ohne Worte freue und die unermeßliche Fülle der Freude die Grenzen der Worte überflute.”Allerdings kennt Luther jene Skrupel der sinnlichen Verführbarkeit durch Musik, wie sie Augustins Musikanschauung immer wieder umwölken, nicht in dem Maße. Und so hätte Luther den folgenden Satz nicht so schreiben können: „Wenn aber, wie es manchmal mir geschieht, mich der Gesang mehr rührt als die gesungenen Worte, dann gesteh ich offen, daß ich sträflich sündige. Und dann wollte ich den Gesang lieber nicht hören. Sieh', so bin ich... In deinen Augen bin ich selbst zum Rätsel mir geworden. Und dies ist meine Krankheit.” (Confessiones, übers. von H. Hefele, Berlin 1959, S. 329) Das bedeutsamste Ereignis in Luthers musikalischer Biographie ist die Begegnung mit dem Komponisten, Kirchen- und Schulmusiker Johann Walter aus Torgau 1524. Sein Einfluß auf das Liedschaffen Luthers und die musikalische Gestalt der Deutschen Messe ist vielen bekannt. Die Freundschaft der beiden erfuhr ihre Krönung im Jahre 1544 - zwei Jahre vor Luthers Tod - bei der Einweihung des ersten evangelischen Kirchneubaus, der Torgauer Schloßkapelle. Luther hat sich - wie bereits angedeutet - nie in systematischer Form zu Fragen seiner Musikanschauung geäußert. Umso wichtiger sind seine Vorworte zu evangelischen Gesang- und Chorbüchern. Die ausführlichste und zugleich schönste Darstellung finden wir in der Vorrede zur Motettensammlung des Wittenberger Verlegers Georg Rhau aus dem Jahre 1538. (Ubertragung durch Joh. Walter 1564, W. A. Bd. 50, S. 367) Ihrer schöpfungstheologischen und pneumatologischen Bedeutung willen möge sie ausführlicher zitiert werden: „Ich wollt von Herzen gerne diese schöne und köstliche Gabe Gottes, die freie Kunst der Musica, hoch loben und preisen... Denn da ist nichts in der Welt, das nicht einen Schall und Laut von sich gebe, also daß auch die Luft, welche doch an ihr selbst unsichtbar und unbegreiflich, darinnen am wenigsten Musica, das ist, schöner Klang und Laut, und ganz stumm und unlautbar zu sein scheinet; jedoch, wenn sie durch was beweget oder getrieben wird, so gibt sie auch ihre Musica, ihren Klang von sich, und die zuvor stumm war, dieselbe fanget dann an, lautbar und eine Musica zu werden, daß man's alsdann hören und begreifen kann, die zuvor nicht gehört, noch begreiflich war...Dieses herrliche Zeugnis ist eine einzigartige Hymne auf die Musik als eine Kraft, welche die ganze Schöpfung durchströmt. Von der bewegt tönenden Luft über den Jubel des Vogelgesangs zum Wunder der menschlichen Stimme und der Symbolhaltigkeit der polyphonen Musik als Vorspiel und Spiegel des himmlischen Musizierens und Tanzens vor Gottes Thron: es ist Luthers persönlichstes Bekenntnis zur Musik - unkonventionell, direkt, mitreißend. Von der spekulativen Trockenheit antik-mittelalterlicher Musikphilosophie ist hier nichts mehr übriggeblieben. Hier spricht ein staunendes und ergreifend-ergriffenes Herz, durchströmt von einer hinreißenden Liebe zur Schöpfung Gottes und zur Musica in ihr, wie man es von Luther wohl gar nicht so erwartet. Neben den schöpfungstheologischen Aspekten sind auch die pneumatologischen zu berücksichtigen. Musik wird als „Werkzeug” des Heiligen Geistes gewürdigt, denn sie gibt „die Bewegung und Anreizung zu allerlei Tugend und guten Werken”, wie es weiter in der Vorrede zu Rhau's Motettensammlung heißt. Mir scheint, daß hier ein tiefer und rational kaum auslotbarer Zusammenhang zwischen dem weltschaffenden Odem Gottes und dem lobpreisenden Atem des Menschen angedeutet werden soll. Das Pneuma des singenden, Gott lobenden Menschen ist die Ant-Wort, die Ent-Sprechung des lebensspendenden Odems Gottes, der „ex principio” die ganze Schöpfung durchströmt. Die Kraft des göttlichen „ruach” bricht sich im Atem des betend-singenden Menschen. So wird aus dem schöpferischen Odem der zurückflutende Atem der IHN preisenden Kreatur. Freilich - und das muß hier nachdrücklich erinnert werden - weiß Luther wie einst Augustinus, daß dieser Zirkel im Geben und Nehmen des Atems erst dann spürbar wird, wenn nicht nur die Stimme singt, sondern in und mit der Stimme das H e r z des Menschen. Augustinus ist nicht müde geworden, dies immer wieder anzumahnen. Und seine biographische Erfahrung mit der lasziven Praxis der spätantiken Musikkultur bleibt das Warnschild für eine allzu idealisierte Musikauffassung, die verkennt, daß Musik auch Werkzeug des Verführers sein kann. Luther weiß dies auch. Aber er betont die gute Seite: die Musik alsDonum Die, Gabe Gottes. Auch wenn er gelegentlich gegen die Buhllieder der jungen Menschen angeht: seine Musikauffassung ist frei von diesen Skrupeln. Sie ist kindlicher. Musik ist eine Gabe Gottes, wir dürfen diese Gabe zunächst einmal annehmen ohne Wenn und Aber. Freilich: wem dennoch die Perfektion und Schönheit wichtiger als das Herz ist, der wehrt sich unbewußt gegen das Gottesgeschenk der Musica und letztlich auch gegen den Advent Gottes in seinem Herzen. Es ist an dieser Stelle davor zu warnen, Luthers Musikauffassung mit den Maßstaben einer modernen Autonomieästhetik zu messen. Sie kann und muß allein aus ihrer Verankerung in der Theologie verstanden werden. Luthers Musikanschauung ist trinitarisch ausgespannt. Musik ist - und damit folgt er ein gutes Stück der mittelalterlichen Musikphilosophie - Spiegel der guten Schöpfung Gottes, in der wir „Gott den Schöpfer...wiedererkennen können”. Sie ist - christologisch gesehen - das Gotteslob des Ostermorgens, das das wandernde Gottesvolk durch die Wüste dieser Welt hindurch bis vor Gottes Thron begleitet: „Das Lamm, das erwürgt ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.” (Offb 5,12) Und schließlich ist Musik auch Werkzeug des Heiligen Geistes, mit dem wir immer wieder zurückgerufen werden sollen in den Lichtkreis Gottes: die wahrste Recreation des Gemüts. Vor diesem dreifach verankerten Hintergrund der Musikanschauung Martin Luthers mag es nicht verwunderlich sein, daß der Reformator auch dort der Musik eine Kraft zutraut, wo es todernst wird: im dunklen Tal von Anfechtung und Verzweiflung. „Wenn ihr traurig seid und will überhand nehmen, so sprecht: Auf! ich muß unserem Herrn Christo ein Lied schlagen auf dem Regal...; denn die Schrift lehret mich, er höre gern fröhlichen Gesang und Saitenspiel. Und greift frisch in die Claves und singet drein, bis die Gedanken vergehen, wie David und Elisäus taten. Kommet der Teufel wieder und gibt Euch eine Sorge oder traurige Gedanken ein, so wehret Euch frisch und sprecht: Aus, Teufel, ich muß jetzt meinem Herrn Christo singen und spielen...Also greift Ihr...ins Regal oder nehmet gute Gesellen und singet dafür, bis Ihr lernet, ihn (den Teufel) zu spotten.” (WA Br. VII, 105, 26-41, Nr. 2139)In diesem Brief vom 7. Oktober 1534 an den von Schwermut, wir würden heute sagen: von Depressionen geplagten Bruder seines Freundes, den Organisten Matthias Weller, wird Luthers unbegrenztes Vertrauen in die gottgewirkte Kraft der Musik überaus deutlich. Freilich: wer einen solchen Brief mit den Ohren des modernen Menschen hört, mag die Stirn runzeln. Ist das alles nicht zu naiv? Sind solche Ratschläge zur Selbsthilfe in Depressionen nicht völlig ungeeignet? Wir würden jedoch Luther entscheidend mißverstehen, wenn wir hier die Elle moderner Psychopathologie anlegen würden. Anfechtungen im Verständnis Luthers sind nicht diagnostizierbare Krankheiten, sondern ganz handfest Einbrüche des Widersachers in Leben und Seele des Menschen. Und weil der Mensch von seinem Ursprung her Gott gehört, ist der Widersacher der Todfeind schlechthin. Solche Heimsuchungen des Diabolus werden im ersten Petrusbrief drastisch geschildert: „Euer Versucher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Lowe und sucht, welchen er verschlinge. Dem widersteht fest im Glauben!” (5,8) Luthers Anfechtung ist daher wortwörtlich zu verstehen: jemand, nicht nur eine Macht, sondern eine Person ficht mich an, stößt den Degen gegen mich, sucht mir Angst zu machen, mich zu treffen, mich zu verwunden, mich abzudrängen aus dem Lichtkreis Gottes, mich zu töten. Der Angefochtene weiß sich so mit Leib und Seele hineingerissen in das große Schlachtfeld des Weltstreites: Michael mit dem Drachen, Christus mit der Schlange, Gott mit dem Fürsten der Welt. Freilich ist der so Betroffene nicht einfach das Opfer blinder Schicksalsmächte, sondern er ist zum Kampf herausgefordert, er ist Soldat seines Königs. Die plastische Schrecknis der apokalyptischen Bilder von Hieronymus Bosch mag vielleicht etwas zu fatalistisch geraten sein; aber sie verdeutlicht den ganzen Ernst dieses Kampfes auf Tod und Leben. Luther war sein ganzes Leben lang solchen Anfechtungen ausgesetzt, freilich in unterschiedlicher Heftigkeit. Sie reichten von Versuchungen des Alltags bis zu tiefer Verzweiflung angesichts des Geheimnisses, daß der Gott, der ihn mit Liebe umfängt, zugleich der Gott ist, der so unbegreiflich verborgen bleiben kann. Eine Notiz vom 6. Juli 1527 bezeugt diese Verzweiflung angesichts des „Deus absconditus”: er, Luther, sei mehr als eine Woche in Tod und Hölle gewesen und habe Christus ganz verloren. So ist die Anfechtung bei Luther ein umgreifender Vorgang, der alle Bereiche des Menschen einbezieht: Leib, Seele und Geist. Und der Widersacher tritt in immer neuen Verkleidungen auf all diesen Ebenen mit gleicher Unerbittlichkeit und Gefährlichkeit auf. Vor diesem Hintergrund mag man in der Tat fragen, was denn wohl die Musik auf dem Gefechtsplatz von Tod und Leben zu suchen habe. Ob wohl Luther nicht doch ihre Kraft überschätzt hat, wo wir doch andererseits keinen Grund haben, anzunehmen, daß er die Härte der Anfechtungen unterschätzt hat? Um hier weitere Klarheit zu gewinnen, müssen wir nicht nur das moderne medizinische Denken aus dem Spiel lassen (welches ja ohnehin dazu neigt, die Ganzheit des Menschen nach Leib, Seele und Geist abzublenden), sondern sollten auch unsere Vorstellungen von Musiktherapie im modernen Sinn verabschieden. Die Berufung heutiger Musiktherapie auf das Beispiel von David und Saul oder auf Katharsis-Vorstellungen des Aristoteles sind ohnehin problematisch. Gegenwärtige Musiktherapie ist gebunden an einen modernen Musikbegriff, den Luther nicht kannte. Es genügt an dieser Stelle daran zu erinnern, daß nicht einmal Heinrich Schütz mehr die musikalische Erfahrung Luthers prägen konnte: Schütz wurde erst 40 Jahre nach Luthers Tod geboren. Nein: Musik kann helfen, das dunkle Tal der Anfechtung zu bestehen, weil sie dreifach verankert ist in der Gotteserfahrung Luthers. Die Musik - und ich betone - nicht nur die Kirchenmusik - ist die wunderbare Gottesgabe, die trotz ihrer Gefährdung die tiefe Weisheit des Schöpfers spiegelt und von ihr singt und klingt. Sie ist die schönste Form des Gotteslobs: der Jubel der Erlösten und Befreiten vor dem leeren Grab. Sie ist das Werkzeug des Heiligen Geistes, im singenden Atem des Menschen den heiligen Atem Gottes spürend. Musik ist, so gesehen, einer immunisierenden Schutzwand zu vergleichen, einem Schild aus Gottes Hand, der mithilft, den zu schützen, der vom Widersacher aus den Händen des Vaters gerissen zu werden droht. Wie heißt es doch in dem Brief an Weller: „Kommt der Teufel wieder, so wehret euch frisch und sprecht: Aus, Teufel, ich muß jetzt meinem Herrn Christus singen und spielen. ..Also singet, bis ihr ihn lernt zu verspotten.”Was Luther da weitergab, war seine eigene tiefste Erfahrung mit der Musik. Und es ist nicht verwunderlich, daß er ihr den ersten Platz nach der Theologie zuweisen konnte. Was wäre aus den Einsichten in Luthers Musikanschauung zu erinnern? Mir sind drei Aspekte wichtig geworden, die zum Teil die Musik übersteigen:
Aus diesem Grunde kann und will die Musik der Gegenwart nicht mehr trösten und aus Anfechtungen herausführen. So auch kann sie nicht mehr Spiegel des Ordo Die und Lobpreis sein. Adorno hat dieses Problem genau beschrieben: „Durch ihre unvermeidliche Lossage von der Theologie, vom ungeschmälerten Anspruch auf die Wahrheit der Erlösung, eine Säkularisierung, ohne welche Kunst sich nie entfaltet hätte, verdammt sie sich dazu, dem Seienden und Bestehenden einen Zuspruch zu spenden, der, bar der Hoffnung auf ein Anderes, den Bann verstärkt, wovon die Autonomie der Kunst sich befreien möchte.” (Ästh. Theorie/Ges. Schriften Bd. 7, Frankfurt 1970, S. 10) Mir scheint, daß Ernst Blochs Musikphilosophie im Zeichen des Prinzips Hoffnung in diese Autonomie hineingeraten ist. Nun vermögen noch Mozarts und sogar Mahlers Musik Fenster zu öffnen in eine Welt, die uns stärkt und ermutigt. Sollte diese wunderbare Chance der Musik endgültig geschwunden sein? Es erscheint gewiß, daß auch hier eine Antwort nur moglich ist von jenseits der Musik. Luthers Brief an Ludwig Senfl schließt mit der Bitte, das ihm liebgewordene Psalmwort aus dem Nachtgebet der Kirche zu vertonen: „Ich liege und schlafe ganz mit Frieden.” (Ps. 4,9) Es war Luthers sehnlicher Wunsch, damit sterben zu können, befreit von Traurigkeit, geborgen im Frieden, der höher ist als unser Vernehmen. Quatember 1984, S. 96-106 |
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