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Kosmos im Logos - Logos im Kosmos
von Reinhard Mumm

LeerMit den Worten kosmos und logos werden wir erinnert an Gedanken und Begriffe, Vorstellungen und Erfahrungen der griechischen Antike. Für dieses Thema stehen unter den Schriften des Neuen Testaments das Johannes-Evangelium und der Brief an die Kolosser im Vordergrund.

LeerEben dieser Brief enthält den kühnen Satz: „Durch ihn ist alles geschaffen”; man könnte auch übersetzen: „In ihm ist erschaffen das All” (Kol 1,16).

LeerWer den ganzen Brief an die Kolosser in einem Zug liest, wie es die ersten Christen in ihren Gottesdiensten getan haben, der spürt, daß es sich um einen wirklichen Brief handelt, den ein Mensch an andere geschrieben hat, aus aktuellem Anlaß, erfüllt von Leidenschaft und ausgerichtet auf ein bestimmtes Ziel. Am Schluß des 1. Kapitels spricht der Apostel von der Kirche und Gemeinde, von der ekklesia: „ . . . deren Diener ich geworden bin nach der Haushalterschaft Gottes, die mir gegeben ist auf euch hin, um zu erfüllen das Wort - den logos - Gottes” (1,25). „Gottes Wort in seiner Fülle kund machen” - das ist sein Ziel. Die Stadt Kolossä liegt in der heutigen Türkei, im Inneren von Kleinasien, in der damaligen Landschaft Phrygien. Wichtigster Vertreter der christlichen Gemeinde dort ist Epaphras, der zu Paulus gekommen ist, um ihm zu berichten und sich Rat zu holen. In der Gemeinde sind sonderbare Lehren aufgekommen, oder sie sind in sie hineingetragen worden, und die Christen werden dadurch verwirrt.

LeerZu allen Zeiten gab es in der Christenheit Auseinandersetzungen um die rechte Lehre und um den gewiesenen Weg zum ewigen Heil. Dadurch kann dann das Zerrbild entstehen von einem unfruchtbaren Theologengezänk. Davor sollen Christen sich hüten. Aber wir können dem Kampf um die Wahrheit nicht entgehen. Ein liberales „laisser faire, laisser aller” entspricht nicht dem Evangelium. Wo es um das ewige Heil geht, sind Kompromisse nicht möglich.

LeerSoweit es sich aus dem Kolosserbrief erkennen läßt, handelt es sich um eine Gnosis, eine Erkenntnis höherer Welten. Da werden Mächte und Elemente bedeutungsvoll, die zwischen Gott und den Menschen stehen. Es gibt ja Engelmächte; aber sie werden hier sektiererisch überbetont. Eine neue Gesetzlichkeit kommt auf und überdeckt die durch Christus geschenkte Freiheit. Gegen solche verwirrende Lehren wendet sich der Apostel und stellt ihnen ein einzigartiges Bild von Christus entgegen: Er ist der Herr über alle Mächte. Er ist in und mit Gott der Schöpfer des Alls, und durch sein Opfer am Kreuz und seine Auferstehung ist Er erhöht zu Gott. - Nach einer fast zweitausendjährigen Kirchen- und Glaubensgeschichte ist uns dieses Bild von Jesus Christus vertraut. Für die Zeitgenossen war es umwälzend und aufregend, so von Jesus zu reden. Noch lebten ja einige, die ihn als Mensch erlebt hatten. Und von diesem Menschen wird so Gewaltiges ausgesagt! Das war ein harter Anstoß für alle, und für die Mehrzahl der Juden blieb es ein Anstoß.

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LeerPinchas Lapide, der jüdische Theologe, der in vielen kirchlichen Tagungen zu Wort kommt, sagt: Jesus, ein Prophet - ja! Jesus, ein Sohn Gottes (neben anderen) - ja! Aber Jesus als Herr aller Herren - niemals! Das ist unjüdisch. - So aber tritt Jesus Christus hier vor uns hin. Der Mensch Jesus wird gewissermaßen überstrahlt durch den Christus Gottes. Er ist der Herr des kosmos. Die Gelehrten streiten über die Frage, ob Paulus selbst diesen Brief geschrieben hat, oder ob ein Späterer ihn unter seiner Autorität schrieb. Diese Frage ist für den Inhalt nicht entscheidend. Für die Kirche handelt es sich um ein apostolisches Wort, dessen Aussage in mancher Hinsicht der des Epheserbriefes ähnelt. Wir finden auch Anklänge an das Johannes-Evangelium und den Hebräerbrief. Jedenfalls begegnet uns hier ein großes Zeugnis des Glaubens an Christus. Daran haben die Kirchenväter von Nizäa und Konstantinopel angeknüpft, als sie von Christus bekannten: „Gott von Gott / Licht vom Licht / wahrer Gott vom wahren Gott / . . . eines Wesens mit dem Vater / durch Ihn ist alles geschaffen”. Eben dieser Satz aus dem Nizänum, dem einzigen umfassend ökumenischen Bekenntnis, stammt aus dem Kolosserbrief.

LeerWas meinen die griechischen Worte kosmos und logos? Die ursprünglichen Wörter sind die Tätigkeitswörter, die Verben. Von ihnen leiten sich in der Regel die Substantive her, zunächst in konkretem, später auch im abstrakten Sinn. Das Volk erzählt, es spricht in Verben und gebraucht keine Begriffe. Wir Theologen reden oft unverständlich, weil wir uns von den Grundlagen der Sprache entfernen und abstrakt werden. Das Verb für kosmos heißt ‚kosmein’ in der Bedeutung „ordnen, schmücken, putzen”, kosmos ist darum zunächst einmal der Schmuck. Das mag uns überraschen. Unser Fremdwort „Kosmetik” deutet noch auf diese Grundbedeutung.

LeerDann meint kosmos auch die Ordnung, sei es die Ordnung der Welt oder schließlich des Weltalls. Entsprechend wird ein Weltbürger als „Kosmopolit” bezeichnet und ein Weltraumfahrer als „Kosmonaut”. Einerseits wird mit dem Wort kosmos bewundernd die gesamte wohlgeordnete Schöpfung bezeichnet. Dann aber ist damit die Erkenntnis verbunden, wie vergänglich diese Welt ist, wie begrenzt und dem Untergang geweiht. „Dieser kosmos ” heißt soviel wie „diese verdorbene, vergängliche Welt”.

LeerJedenfalls ist der kosmos Gott unterworfen. Christlicher Glaube vergöttert nicht die geschaffene Welt, auch nicht Sonne, Mond und Sterne wie in den orientalischen Religionen und Kulten. Die geheimnisvollen Kräfte und Elemente des kosmos stehen unter Gott und folglich auch unter Christus. Jeder Mensch wird in den kosmos hineingeboren, auch Jesus wird in ihn hineingeboren, aber als der logos; davon ist gleich mehr zu sagen. kosmos wird so zum Inbegriff der Menschheit, der gefallenen Menschheit, und zum Schauplatz der Geschichte des Heils. Der kosmos wird in das Licht des Retters dieses ganzen kosmos gerückt. „Gott versöhnt durch Christus den kosmos mit sich selbst”, schreibt Paulus im 2. Korintherbrief (5,19). Diese Versöhnung gilt zuletzt der gesamten Schöpfung. Alles, was geschaffen ist, die ganze Kreatur, sehnt sich nach Erlösung (Rom 8,19 ff.).

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LeerDie Heiligen, d. h. die Glaubenden, leben in diesem kosmos und können ihm nicht entrinnen; aber in der ekklesia, der Kirche, leben sie in der Hoffnung der kommenden Königsherrschaft Gottes, in der Hoffnung auf den Sieg über den vergehenden kosmos. Der logos ist zunächst das gesprochene Wort. Auch dieser Begriff ist vielgestaltig. So kann logos auch das Rechnen und die Rechenschaft bedeuten. Vom logos leiten wir die Logik her, das logische Denken. Die Wissenschaften nennen sich daher Biologie, Theologie. Vor allem aber meint logos das vollmächtige Wort. Bereits im Alten Testament schafft Gott diese Welt und alles Lebendige durch sein vollmächtiges Wort. „So Er spricht, so geschieht's.” Wort und Tat bilden in diesem Sinn eine Einheit.

LeerEin Wort Gottes kann an einen Propheten ergehen, so daß er zum Träger einer göttlichen Offenbarung wird. Entscheidend ist es für den Menschen, Gottes Wort anzunehmen. Sein Wort hören, bringt das Heil; gegen sein Wort verstockt sein, führt zum Unheil.

LeerDas Johannes-Evangelium beginnt mit einer tiefsinnigen Aussage: „Im Anfang war das Wort...” Dieses Wort nimmt Gestalt an in dem Menschen Jesus. So wird Er zum Inbegriff des göttlichen logos. Dieser logos war schon vor aller Zeit. Christus ist bereits der Mit-Schöpfer dieser Welt. Meister Bertram von Minden hat entsprechend in seine Bilder vom Paradies Christus hineingestellt, der eins ist mit dem Vater.

LeerWas sagt der Kolosserbrief über den kosmos und den logos? Bereits am Anfang setzt der Apostel Wort und Welt in eine Beziehung zueinander - in seinem Dank für treuen Glauben der Christen in Kolossä und für ihre Liebe, „die ihr habt”, schreibt er, „gegen alle Heiligen um den Hoffnung willen, die euch beigelegt ist in den himmlischen Räumen, die ihr zuvor vernommen habt in dem logos der Wahrheit des Evangeliums, das bei euch gegenwärtig ist, wie auch im ganzen kosmos ...” (1,4-6). Das sind sehr lange Satzperioden; bereits in einer späteren Schrift des Neuen Testaments taucht die sanfte Klage auf, die Schriften „des lieben Bruders Paulus” seien doch teilweise schwer zu verstehen (2 Petr 3,15 f.). Hier meint logos das Gotteswort, das Evangelium, und unter kosmos ist der damals bekannte Erdkreis zu verstehen, das große Missionsfeld.

LeerAm Ende des 1. Kapitels ist abermals vom logos die Rede: „Jetzt freue ich mich in den Leiden für euch und ich fülle auf, was noch übrig ist an Trübsalen Christi, an meinem Fleisch für seinen Leib, das ist die ekklesia, deren Diener ich geworden bin nach dem Heilsplan Gottes, der mir gegeben ist, auf euch hin zu erfüllen den logos Gottes, das Mysterium, das verborgen war vor allen Zeiträumen und Generationen, jetzt aber offenbart seinen Heiligen...” Wiederum ist dies eine überaus gefüllte Satzperiode.

LeerSie beginnt mit dem höchst bemerkenswerten Hinweis auf die Heilsbedeutung der Leiden des Apostels. Keinesfalls meint er, Christi Leiden müßte in dem Sinn noch etwas hinzugefügt werden, daß sein Kreuzestod irgendeiner Ergänzung bedürfe. Nein: Wir sind einzig und allein durch Christi Opfer gerettet. Kein sündiger Mensch kann dieses Opfer ergänzen wollen. Wohl aber warten auf den Jünger Jesu Leiden in seiner Nachfolge, und solche Leiden kommen dem Leib Christi zugut, seiner ekklesia. Eins unserer Kirchenlieder (das man sonderbarerweise nicht mehr in das künftige Gesangbuch aufnehmen will) singt: „Unter Leiden prägt der Meister in die Herzen, in die Geister sein allgeltend Bildnis ein ...” So ergeht es dem Apostel in seiner Gefangenschaft, und so haben es unzählige Märtyrer und sonst leidende Christen erfahren.

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LeerDie ekklesia, die Kirche und Gemeinde, ist hier als Vorstufe des Gottesreiches verstanden, sie ist das zum ewigen Heil berufene Volk. Unser Kirchenbegriff mit Behörden und Kirchensteuern ist davon meilenweit entfernt. Das heilige Volk, die um Christus und in seinem Namen versammelte Schar, sie schaut auf den Apostel in seinem Leiden und wird dadurch gestärkt. Der logos Gottes ist an dieser Stelle mehr als ein gewöhnliches Wort. Er gleicht einem Ur-Geheimnis und kommt damit der Johanneischen Aussage nahe über das Wort, das vor aller Zeit war und das in Jesus Fleisch wurde. An einer dritten Stelle werden kosmos und logos in eine Beziehung gebracht (2,20 - 23): „Wenn ihr mit Christus abgestorben seid von den Elementarmächten der Welt, warum laßt ihr euch Vorschriften auferlegen, als lebtet ihr noch in der Welt? ‚Du sollst nicht anfassen, du sollst nicht schmecken, du sollst nicht berühren’ (sagen sie). Dabei ist alles da, um verzehrt und verbraucht zu werden. Nach den Geboten und Lehren der Menschen (geht's da zu), als hätten sie einen logos der Weisheit ...”

LeerDer kosmos ist in diesem Zusammenhang die mit Mächten geladene, letztlich aber vergehende Welt. Das Wort logos hat an dieser Stelle einen nur beiläufigen Sinn als „Meinung”. Sie meinen, solche Sonderlehren seien weise, aber in Wahrheit handelt es sich nur um menschliche Erfahrungen. Zum Schluß redet der Apostel noch einmal vom logos (4,2 f.): „Am Gebet haltet fest, seid darin wachsam mit Dank (man könnte auch sagen: in der Eucharistie). Betet auch für uns, damit Gott uns öffne eine Tür des logos, zu reden das Mysterium des Christus...”

LeerDieser logos meint das missionarische Wort, die Verkündigung des Evangeliums, einen geheimnisvollen Vorgang. Niemand hat es in der Hand, ob Wörter wirklich „das Wort” vermitteln, das Christus-Geheimnis. Darum gilt es zu beten, daß der menschliche logos zum göttlichen logos wird.

LeerZwei Abschnitte des Kolosserbriefes, der Christus-Hymnus im 1. Kapitel und jene Verse im 3. Kapitel, die wir als Epistel der Osternacht kennen, gehören deutlich zum Gegenstand unserer Betrachtung, auch wenn in ihnen die Wörter kosmos und logos nicht vorkommen. Der Hymnus, wie ihn vielleicht Christen der ersten Gemeinden gesungen haben, lautet:
„Erstgeborener aller Schöpfung,
Durch Ihn ist erschaffen das All,
in den Himmeln und auf der Erde,
das Sichtbare und das Unsichtbare,
ob Throne oder Herrschaften,
ob Urmächte oder Gewalten.
Das alles ist durch Ihn und auf Ihn hin erschaffen.
Und er ist vor allem,
und alles besteht in Ihm
Und Er ist das Haupt des Leibes, der ekklesia.”
Leer„Christus ist die Ikone des unsichtbaren Gottes” - dieser Glaube lebt besonders anschaulich in der östlichen Christenheit weiter. Aber auch die Theologie in den Kirchen des Abendlandes bekennt sich dazu. Nach dem Bericht der Genesis ist Adam, der Mensch, nach Gottes Bild geschaffen. Aber dieses Bild hat Schaden genommen durch die Macht der Sünde. Erst in Jesus von Nazareth ist es neu aufgeleuchtet. In ihm wurde der unsichtbare Gott sichtbar. Darum richten orthodoxe Christen Ikonen auf. Sie beten nicht die Bilder an, sondern sie schauen auf irdische Ikonen, die ihren Glauben stärken an die einzige wahre Ikone: Jesus Christus.

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Leer„Er ist der Erstgeborene aller Schöpfung”, das heißt nicht nur: Er war vor aller Zeit (die Theologen nennen das die Präexistenz Christi), sondern Er hat den Vorrang vor aller anderen Kreatur. Der Christus Gottes bildet die Mitte. So haben in Ravenna und an anderen Orten die Künstler der ausgehenden Antike ihn dargestellt in den Apsiden der Kirchen. Mächtig schaut er herunter auf die versammelte Gemeinde, umgeben von Menschen, Tieren und Pflanzen, als der Erstgeborene der Schöpfung.

Leer„Durch Ihn ist erschaffen das All” - eine unerhörte Aussage! So mächtig wirkt der Glaube an die Erlösung durch das Kreuz Christi, daß von dieser Mitte her auch die Kreatur, alles, was geschaffen ist, einbezogen wurde. Er hat durch sein Opfer, durch seine Auferstehung, durch seine Himmelfahrt, seine Aufnahme zu Gott, teil an der Schöpferherrlichkeit und Allmacht Gottes.

LeerAusdrücklich ergänzt der Dichter des Hymnus: „Alles, was in den himmlischen Räumen und auf der Erde ist.” Die Himmel sagten die Hebräer, und ihnen folgend lautet es so auch im Neuen Testament. „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen”, sagt Jesus nach den Aufzeichnungen des vierten Evangelisten. Die himmlischen Räume sind vielgestaltig. Alles dies ist auf Christus bezogen, weil Er eins ist mit dem Vater.

Leer„Das Sichtbare und das Unsichtbare”. Als Kinder der Neuzeit haben wir uns sehr daran gewöhnt, nur noch das Sichtbare gelten zu lassen. Da kann uns der fromme Matthias Claudius helfen, wenn er in seinem Abendlied vom Mond sagt: „Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn.” Christlicher Glaube nimmt die sichtbare Welt voll an. Aber er weiß auch von der unsichtbaren Welt, die unsere Augen und Sinne nicht erkennen.

LeerNun folgen merkwürdige Aussagen: „Throne, Herrschaften, Urmächte, Gewalten”. Diese Mächte tauchen in der Liturgie auf, in der Präfation vor dem Herrenmahl. Mit diesen Engelmächten stimmen wir ein in das dreifache Heilig. Wie fern liegt uns dergleichen am Alltag! Aber je und dann erfahren wir, es gibt Mächte zwischen Himmel und Erde, gute und erschreckende Mächte. Von den guten Mächten hat Dietrich Bonhoeffer in seiner Gefangenschaft etwas erfahren; wir kennen sein Gedicht: „Von guten Mächten wunderbar geborgen / erwarten wir getrost, was kommen mag / Gott ist mit uns am Abend und am Morgen / und ganz gewiß an jedem neuen Tag.” - In den Museen begegnen wir gelegentlich gewaltigen orientalischen Skulpturen mit Flügeln und von erschreckendem Aussehen. So etwa erlebte ein Jesaja die Seraphim und Cherubim und hörte ihr übergewaltiges Gotteslob „kadosch, kadosch, kadosch, Jahweh Zebaoth” - „Sanctus, sanctus, sanctus, Dominus Sabaoth”. Wer die h-moll-Messe von J. S. Bach im Ohr hat, der ahnt etwas von dieser erschütternden und beseligenden Majestas Gottes, der umgeben ist von den Mächten und Gewalten.

LeerVor diesem allen steht der Christus, der Gesalbte Gottes. Ja, alles hat seinen Bestand in Ihm. Was wäre die ganze Schöpfung, die sichtbare und die unsichtbare, ohne den Erlöser? „Er ist das Haupt” - alles ist auf Ihn ausgerichtet. Wieder erscheint hier die Kirche, die ekklesia, die Gemeinde, der Leib Christi. - Als evangelische Christen müssen wir uns wohl fragen und fragen lassen, ob wir einen solchen Begriff von der Kirche haben? Da wird viel in der Sprache der Soziologie von der Kirche geredet; aber solche Erwägungen reichen nicht von ferne an die ekklesia im Sinn des Kolosserbriefes heran. Wohl aber steht unser Glaubensbekenntnis dem Kolosserbrief nahe, wenn er uns lehrt, die „eine, heilige, katholische und apostolische Kirche” zu bekennen.

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LeerIn der Osternachtfeier lesen und hören wir:

Leer„Seid ihr nun mit Christus auferstanden, so sucht was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist. Denn ihr seid gestorben und euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott.
Wenn aber Christus offenbart wird, euer Leben, dann werdet auch ihr mit Ihm offenbart werden in Herrlichkeit.”

LeerJa, das ist eine Geheimsprache. Aber sie wird geredet von einem Mann, der sehr massiv diese Erde erlebt hat mit vielen Mißhelligkeiten und Nöten. Paulus war kein Phantast, kein Schwärmer. Aber er war vertraut mit der anderen, der verborgenen, der jenseitigen Welt. Er will nicht seine Brüder und Schwestern vertrösten auf einen St.-Nimmerleins-Tag. Er rechnet fest mit der Offenbarung der unsichtbaren Wirklichkeit. Den irdischen Jesus hat er nie gesehen, ebensowenig wie wir. Aber der himmlische Christus ist für ihn eine Realität.

LeerUnser Leben ist „verborgen mit Christus in Gott”. Heute möchte man alles ans Tageslicht zerren, alle „Tabus” sollen gebrochen werden, heißt die Parole. Wilhelm Stählin, einst Bischof von Oldenburg und Mit-Stifter der Michaelsbruderschaft, sagt dazu in einer Predigt:

Leer„Die Heilige Schrift sagt, daß dieses unser Leben verborgen ist in Gott. Gott, den kein Mensch gesehen hat noch sehen kann, ist das Verborgene und Verschwiegene schlechthin. An dieser Verborgenheit Gottes haben wir, eben weil wir Gottes Geschöpfe sind, in gewissem Sinn teil. Alles, was wir aufschreiben, registrieren, mitteilen und vielleicht verraten können, gehört zur Außenseite des Lebens und betrifft nicht unser eigentliches, wahres Menschsein. Was wissen wir im Grunde voneinander? Und was wissen wir von uns selber?

LeerDas gilt freilich nicht nur in dem allgemeinen Sinn, in dem wir das bisher gesagt haben; sondern es gilt ganz besonders von unserem Sein und Leben als Christen; wenn wir mit Christus leben, so hat gerade dieses unser Leben teil an der Verborgenheit Christi. Die Wissenschaft ist bemüht, das sichtbare geschichtliche Leben Christi in allen Teilen aufzuhellen; aber die ganze kirchliche Lehre von Christus ist umgekehrt darum bemüht, das andere an ihm, das nicht vor Augen ist, das Verborgene, in einer angemessenen Weise auszudrücken und der inneren Schau darzubieten.

LeerUm diese Verborgenheit Christi geht es bei der Himmelfahrt. Er entschwindet dem Blick seiner Jünger und tritt in die Verborgenheit Gottes zurück. Aber diese Verborgenheit ist nicht ein ‚Nichts’; der Himmel als die Verborgenheit Gottes ist nicht ein Nichts; die Wolke, in der er den Blicken der Jünger entschwindet, ist die Lichtherrlichkeit Gottes. Wenn das Glaubensbekenntnis sagt, er sitze zur rechten Hand Gottes des Vaters, so ist auch dieses selbstverständlich eine bildliche Redeweise, genommen von dem Thronsaal irdischer Herrscher, wo zur Rechten des Königs sein Sohn, sein bevollmächtigter Vertreter, der Teilhaber seiner Ehre, seiner Herrschaft, seiner Machtvollkommenheit sitzt. In dieser Bilderrede sprechen wir aus, daß Christus nicht nur an der Verborgenheit Gottes, sondern auch an seiner Würde, seiner Macht und Herrschaft teil hat. Darum ist das Himmelfahrtsfest das wahre und eigentliche Christ-Königs-Fest der Kirche.”

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LeerWas folgt aus solchen in der heiligen Schrift begründeten Erkenntnissen für uns, die Menschen des späten 20. Jahrhunderts?

LeerEs ist offensichtlich, wie unser Alltag uns lehrt, wer der Herr dieser Welt ist: Machtstreben und Genußsucht beherrschen weitgehend das Leben der Menschen. „Geld regiert die Welt.” Die Aussage dieses Sprichwortes war schon immer treffend. Doch nicht nur solche Triebe im Menschen scheinen nahezu unausrottbar die Geschichte zu bestimmen, unsere Vernunft zeigt uns, wie diese Welt wissenschaftlich erklärbar ist. Sowohl in der Richtung des Mikrokosmos, der Erforschung in die kleinsten Lebenseinheiten hinein, lehren uns Biologie, Chemie und Physik die Welt verstehen, als auch in Richtung des Makrokosmos, der uns umgebenden schier unendlichen Welt der Sonnensysteme und Galaxien, haben wir ein umfassendes Weltbild entwickelt. Wir dringen bis in das Atom ein, das eigentlich Unspaltbare, das nun doch gespalten wird, und wir entdecken immer neue ferne Welten im Universum mit den Mitteln der Astronomie; ja der Mensch hat angefangen, diese Erde zu verlassen mit Weltraumschiffen, und er entsendet Satelliten, um ferne Planeten zu erforschen.

LeerWer ist der Herr dieser Welt, dieses im Winzigen und im Gewaltigen schier unendlichen Weltalls? Menschlicher Erfindergeist und technische Kunst haben Erstaunliches vollbracht. Wissenschaftler können weitgehend in Prozesse des entstehenden Lebens eingreifen, das sagt uns die Gen-Forschung. Biologen und Mediziner bringen Hilfreiches und Erschreckendes zustande. Menschenmacht kann Großes hervorbringen, was unseren Vorfahren undenkbar erschienen wäre, und Menschen können alle Lebensmöglichkeiten in einem Maß zerstören, vor dem uns graut. So scheint es, daß Menschen, die an den Hebeln der Macht sitzen, die Herren der Welt sind.

LeerIn der Tat: dem Menschen ist eine große Macht anvertraut. Das haben vor Jahrtausenden bereits die Frommen in Israel gewußt. So lesen wir im 8. Psalm im Blick auf den Menschen: „Du hast ihn wenig niedriger gemacht denn Gott, mit Ehre und Schmuck hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk; alles hast du unter seine Füße getan ...” Aber von ebendemselben Menschen heißt es im gleichen Psalm: „Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?” Der Mensch hat Macht über die Kreatur und ist doch zugleich so hinfällig! Seine Herrschaft über die Schöpfung ist eine verliehene Herrschaft. Sie kann nur zum Segen werden in der Verantwortung vor Gott. Wird aber der Mensch selbstherrlich, so gerät alles in Gefahr. Alexander Solschenizyn erhielt im vorigen Jahr den Templeton-Preis in London und hielt bei dieser Gelegenheit eine Rede, in der er die Ursache für die furchtbare Gefahr auf die Formel brachte: „Die Menschen haben Gott vergessen”, im Osten wie im Westen ist das die eigentliche Not. Es gibt nur einen Weg zur Rettung: „Nur das beharrliche Suchen nach der warmen Hand Gottes rettet vor dem Untergang” („Bausteine” / Dalherda Nr. 95).

LeerWo aber ist diese „warme Hand Gottes” zu finden, von der Solschenizyn spricht? Die Antwort kann nur lauten: in Christus. Er hat uns Gottes Liebe und Herrlichkeit offenbart. Diese Herrlichkeit Christi wird in einigen Schriften der Bibel entfaltet, so im Kolosserbrief, und sie gehört in den Glauben der Christenheit hinein. Das Apostolische Credo bezeugt diesen Glauben an Christi Herrlichkeit: „am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.” Wer diesem Glauben folgt, bleibt zwar weiterhin dieser Welt verhaftet mit allen ihren Gefahren, aber ihm wird ein Weg gewiesen, wie er an seinem Teil in der Verantwortung vor Gott seine Aufgaben in dieser Welt erfüllen kann, und ihm tut sich eine Hoffnung auf, die über alle Gefahren und Schrecken hinausweist.

LeerJesus Christus ist nicht nur mein Erlöser, nach diesem Glauben, nicht nur der Herr der Kirche, sondern er ist auch der Herr des kosmos. Diese seine Herrschaft bleibt noch verborgen. Sie ist ein Mysterium, ein Geheimnis, offenbar für den, der glaubt, und von einer großen Verheißung erfüllt. Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, zeigt uns in überwältigenden, erschreckenden und beseligenden Visionen das Schlußkapitel aller Geschichte: Christus als den Herrn aller Herren, als den Richter über diese Welt, und als ihren Retter. „Durch Ihn ist alles geschaffen”, durch den ewigen logos, und in Ihm soll es vollendet werden, der gesamte kosmos als ein neuer Himmel und eine neue Erde. So gilt als letztes Gebot für uns selbst und für die ganze Welt die Bitte: „Ja komm, Herr Jesu!”

Quatember 1985, S. 17-26

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-10
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