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Die Kirchberger Angelus-Glocke
von Hans Nickles

AngelusglockeLeerSie ist mehr ein Glöcklein denn eine Glocke, wiegt sie doch nur 21 Pfund, ist 16 cm hoch, und ihr Durchmesser am unteren Rand beträgt 27 cm. Aber sie ist die ehrwürdigste unter den fünf Kirchberger Glocken, sowohl an Alter als auch an Wohlklang. 1494 ist als das Jahr ihres Gusses auf dem Schriftband angegeben, das ihre Haube ziert. Ihre größeren, doch viel jüngeren Schwestern befinden sich verborgen im Glockentürmchen auf dem Dach der Klosterkirche, sie aber hängt für jedermann sichtbar in einem geschmiedeten Rahmen im hinteren Teil der Nonnenempore, unserer Kirchberger Hauskapelle. Während die Turmglocken mit Hanfseilen geläutet werden (zu jedem der vier Stundengebete ruft eine andere, und zur Eucharistiefeier läuten alle zusammen), erklingt der Silberton der Angelusglocke nur im Mittagsgebet, bei der Betrachtung der Menschwerdung des Herrn. Mit dreimal drei zarten Klöppelschlägen von Hand, denen eine Stille folgt, wird das „gottselige Geheimnis” der Offenbarung Gottes im Fleisch (1. Tim 3, 16) in seiner Tiefe und Bedeutung „betont” und damit der Schar der Beter auch klanglich nähergebracht.

LeerDoch erst seit zehn Jahren ist dies in Kirchberg Brauch, und erst damals konnten wir erkennen, welch kostbaren Schatz wir mit dieser Glocke haben. Wie es dazu kam, mutet wie ein Abenteuer an und ist des Festhaltens wert. Als Paul Rohleder, der zweite Leiter des Berneuchener Hauses, 1972 in den Ruhestand ging, legte er seinem Nachfolger ans Herz, sich um die Rückholung einer Glocke zu bemühen, die früher am westlichen Giebel des „Herrenhauses” hing, das seit der Säkularisierung des Kirchberger Dominikanerinnenklosters den Pächterfamilien als Wohnung diente. Ein langer, steifer Draht führte vom Giebel bis vor ein Flurfenster im Erdgeschoß, und mittels dieser Verbindung konnte die Glocke in Gang gesetzt werden, um den auf dem Felde Arbeitenden die Essens- oder Feierabendzeit anzukündigen. Nach dem Auszug der letzten Pächterfamilie hatte anläßlich von Instandsetzungsarbeiten das zuständige Hochbauamt jene Glocke in Gewahrsam genommen. Nun begann ein hartnäckiges Ringen um ihre Rückgabe. Wir sollten die Glocke nur bekommen, wenn wir für sie eine sinnvolle Verwendung hätten.

LeerWas lag näher, als sie als Angelus-Glocke zu gebrauchen, ist doch im Evangelischen Tagzeitenbuch in einer Rubrik vermerkt, daß beim Mittagsgebet während der Betrachtung der Menschwerdung des Herrn - sie beginnt mit den Worten „Der Engel (lat. Angelus) des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing von dem Heiligen Geiste” - an drei Stellen ein dreimaliger Glockenschlag erfolgen könne. Als endlich der zuständige Beamte die verschwundene Glocke auf den Kirchberg zurückbrachte, sahen wir zum ersten Mal das in eigenwilligen, aber schönen Majuskeln gegossene Schriftband in lateinischer Sprache und lasen zu unserer größten Überraschung den „Eng(e)lischen Gruß”: AVE MARIA GRAC(= T)IA PLENA DOMINUS TECUM BENEDICTA IN MULI (ERIBUS).

Inschrift Angelusglocke

LeerEs sind die Worte des Engels Gabriel, mit denen er nach der Überlieferung des Lukas-Evangeliums (Kap 1, 26 ff.) Maria angesprochen und ihr die Mutterschaft für Jesus, den Sohn Gottes, verkündigt hat: „Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit Dir.” Die unseren katholischen Mitchristen vertraute Fortsetzung „Du bist gepriesen (gebenedeit) unter den Frauen, und gepriesen ist die Frucht deines Leibes” sind Worte der Elisabeth anläßlich ihrer späteren Begegnung mit Maria (Lk 1,42).


LeerNun hatten wir eine originale Angelus-Glocke! Aber nicht der historische und künstlerische Rang ist es, der uns seitdem diese Glocke so lieb und wert macht, sondern der Dienst, zu dem sie von jeher bestimmt ist. Ist doch das Gedächtnis der Menschwerdung Gottes in der Person des Jesus von Nazareth, das die Angelus-Glocke mit ihrem Klang begleitet, für die Christenheit so wichtig und nötig wie die Verkündigung seines Todes, die Preisung seiner Auferstehung und die Bezeugung seiner Wiederkunft. Ohne die Weihnachtsbotschaft fehlte unserem Glauben das Fundament. Weil die Geburt Jesu die Mittagshöhe der Menschheitsgeschichte genannt werden kann, ist die sinnvolle Zeit für das Gedächtnis der Menschwerdung (Inkarnation) Gottes die Mitte des Tages. Und weil Maria das Gefäß war, in dem die göttliche Gnade Gestalt angenommen hat, dürfen und sollen wir auch ihrer gedenken.

LeerDas Apostolische und das Nizänische Glaubensbekenntnis nennen zusammen mit ihrem Sohn ihren Namen. Ihre Antwort auf den Gruß und die Botschaft des Engels hat in der Kirche aller Konfessionen immer und unbestritten als Vorbild demütigen Glaubensgehorsams gegolten: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.” An dem ihr durch das Konzil von Ephesus (431) zuerkannten Würdenamen „Gottesmutter” (Theotokos) haben auch die Reformatoren festgehalten, was viele evangelische Christen nicht mehr wissen, weil er leider aus unseren Liturgien und Gebetstexten verschwunden ist. Daß die Evangelien uns auch die Anfechtungen und Leiden dieser begnadeten Frau nicht verschweigen, schmälert nicht ihre einzigartige Würde. In seiner 1984, kurz vor seinem Tode, erschienenen „Ökumenischen Dogmatik” schreibt der evangelische Kirchenlehrer Edmund Schlink über Maria: „In beidem, in der Erwählung zur irdischen Mutter des Gottessohnes und in den Anfechtungen der leidenden Mutter, ist ihr Leben ein Lobpreis der göttlichen Gnade, den die Kirche niemals vergessen kann . . . Wann auch immer die irdische Kirche der Vollendeten gedenkt, gedenkt sie auch der Mutter ihres Herrn. Mit ihr und allen Vollendeten weiß sich die kämpfende Kirche im Lobpreis Jesu Christi als des alleinigen Erlösers verbunden.”

LeerAuch die Kirchberger Angelus-Glocke ist, auf ihre Weise, Stimme in diesem Chor.

Quatember 1985, S. 200-202

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-10
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