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Zum Dienst der Bruderschaft in Kirche und Welt
von Albrecht Peters

Einleitung
I. Eucharistiegebet und Umgang mit der Zeit
II. Beichtfeier als stellvertretendes Sichbeugen unter gemeinsame Schuld
III. Friedensdienst in der weltlichen Christenheit
IV. Schutzpflicht an der Erde

Einleitung

LeerAspekte unseres Dienstes in Kirche und Welt: Ich setze bewußt ein im Zentrum, beim Eucharistiegebet, und suche von dort aus vorzudringen bis zu unserem Schutzamt an dieser Erde. Vier Lebensräume und damit auch Dienstbereiche sollen ins Blickfeld genommen werden;ein jedes einzelne dieser Dienstfelder könnte genug Stoff für einen ganzen Gesprächszyklus bieten. Wir setzen ein beim Herrenmahl und überdenken anhand des Hochgebets unseren Umgang mit der Zeit. In einem zweiten Gedankenkreis soll unter Bezug auf die Beichte unsere Teilhabe an der Schuld unseres Volkes angesprochen werden. In einem dritten Kreis möchte ich den Friedensauftrag konzentrieren auf das Spannungsfeld zwischen den Generationen. In einem vierten und letzten Kreis seien einige Hinweise zum Umgang mit der nichtmenschlichen Kreatur gegeben. Jeweils wird ein prägnantes Zitat vorangestellt. Die Ausführungen können nur fragmentarisch sein, sie sind bewußt provokativ gefaßt und wollen zum intensiven Gespräch wie zur umfassenden Besinnung anregen.

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I. Eucharistiegebet und Umgang mit der Zeit

Leer"Das Gebet ist nicht in der Zeit, sondern die Zeit im Gebet, das Opfer nicht im Raum, sondern der Raum im Opfer, und wer das Verhältnis umkehrt, hebt die Wirklichkeit auf."

LeerIn Martin Bubers wegweisender Schrift "Das dialogische Prinzip" zum Verhältnis zwischen "Ich und Du" stieß ich auf diese flüchtig hingeworfene Bemerkung, die seitdem mit mir geht: Das Gebet nicht in der Zeit, sondern die Zeit im Gebet - wer dieses Verhältnis umkehrt, vergreift sich an der Wirklichkeit. Eine ungeheure These. In unserem zentralen Abendmahlsgebet, das lediglich die Grundgestalt eines jeden rechten christlichen Betens reich ausfaltet, wird die Zeit in ihren drei Horizonten oder Ekstasen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ausgeschritten und zugleich Gott, ihrem Schöpfer und Herrn, dargebracht. Unsere vergehende Zeit wird aufgenommen und hineingeborgen ins Gebet. Unser Hochgebet nimmt dann recht die Wirklichkeit wahr daß es jene drei Horizonte unserer Raum-Zeit ins Gebet hineinhebt.

LeerZum Eingang grüßen wir uns wechselseitig, werfen unsere Herzen empor zu Gott und lassen sie in der Danksagung sich verströmen. Der Lobpreis, die Doxologie, welche nach Edmund Schlink die unterschiedlichen Gestalten rechten Betens in sich vereint, wird angestimmt. Wir fallen ein in das ewige Lied der himmlischen Kreatur, ins Dreimalheilig der Cherubim und Seraphim. Aus diesem Lobpreis heraus spricht der verordnete Diener als Mund der versammelten Gemeinde die Anamnese. Darin erinnern wir uns nicht lediglich an ein längst Vergangenes, schon lange im Strom der Zeit Versunkenes. Wir heben dies scheinbar Vergangene vielmehr heraus aus dem Strom des Vergessens und halten es dem Herrn aller Zeit selber vor. Er selbst und nicht nur die versammelte Schar ist das Subjekt des Gedenkens. Vor ihm berufen wir uns auf die Heilstaten, die er selbst in den Strom der Zeit als Wegmarken hineingerammt hat; wir halten ihm diese seine Gnadenzeichen vor.

LeerIn Gemeinschaft mit der ganzen heiligen Kirche "gedenken wir vor Dir, himmlischer Vater . . . ", und nun wird der Opfergang des Sohnes nacherzählt, die Stiftung des Herrenmahls geltend gemacht. Damit ist schon die Brücke zur Gegenwart geschlagen, berufen wir uns doch hier und heute auf jenes heilsentscheidende Eingreifen Gottes. - Mit dem zweiten Glaubensartikel durchstößt zugleich unser Gedenken den eisernen Vorhang unserer Todeszeit. Nicht wir, sondern unser Herr Jesus Christus hat ihn aufgerissen, er ist erstanden aus den Toten, er wurde erhöht zur Rechten Gottes des Vaters, er vertritt uns dort als unser ewiger Hohepriester. Damit erschließt er uns wahrhaft Zukunft. Im Sehnsuchtsschrei der ersten Christen, im Maranatha ist dies noch radikaler bezeugt. Unser Herr Jesus Christus ist keineswegs in Gottes zeitenthobene Ewigkeit eingegangen; wie er auf seinem Erdenweg den unmittelbaren Einbruch der Gottesherrschaft angekündigt hat und uns in der Kernbitte des Vaterunsers um das endgültige Hereinbrechen des Reiches flehen läßt, so ist er selber als zu Gericht und Errettung Herbeieilender in Gottes letztgültige Zukunft aufgenommen. In Aufnahme frühchristlichen Betens, welches seinerseits auf die Bitten Israels um Heimführung der Zerstreuten zurückgreift, recken auch wir uns jener Zukunft entgegen und beziehen nun die gesamte Erdenwelt in sie ein. "Wie dies gebrochene Brot zerstreut war auf den Bergen und zusammengebracht eins wurde, so bringe zusammen Deine Kirche von den Enden der Erde zu Deinem Reich." Die epikletische Dimension des Hochgebets greift aus dem Hier und Heute heraus und umspannt die Zukunft unserer gesamten Erdenwelt.

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LeerStreng durchreflektiert enthüllt das biblische Zeugnis freilich noch eine präzisere Struktur der Raum-Zeit. Weil Jesus Christus nicht in die Ewigkeit einging, sondern in die Zukunft der Gottesherrschaft aufgenommen ist, deshalb kommt uns der scheinbar in der Vergangenheit Versunkene aus Gottes Zukunft heraus entgegen und gewährt uns erst so heilsträchtige Gegenwart. Die Epiklese, die Bitte um den Schöpfer- und Neuschöpfer-Geist, realisiert diesen eigenartigen Brückenschlag aus der Vergangenheit heraus über die Zukunft zur Gegenwart. Unser Hochgebet bezeugt und wird der Wahrheit gerecht, daß nicht wir Menschen die Raum-Zeit in ihren drei Ekstasen oder Horizonten in unseren Fäusten halten; der dreieinige Gott selber ist und bleibt der Herr der Zeit. Die Zeit steht im Gebet, nicht steht das Gebet in der Zeit. Dies gilt unverbrüchlich.

LeerWo wir diese Grundordnung auf den Kopf stellen, da machen sich jene drei Zeitdimensionen selbständig und geraten miteinander in Widerstreit. Dies haben wir in den letzten Jahrzehnten recht handgreiflich erfahren. Das 19. Jahrhundert war dem Historismus verfallen; es folgte eine Welle futurologischer Utopien, welche auf den Optimismus der Aufklärung zurückgriff; als sich der Zukunftshorizont verdüsterte, suchte man in der Meditation das Ewig-Wahre im gegenwärtigen Augenblick zu erhaschen. Nun scheint sich das Karussell bereits wieder zur nostalgischen Wiederbelebung der guten alten Zeit hin zu bewegen.

LeerAuch unter uns knüpfen manche in ihrer Seelsorge entweder an Sigmund Freud oder an Carl Gustav Jung an. Gemeinsam hierbei ist das Regredieren, der Wille, sich bis in früheste seelische Verknotungen zurückzutasten, um sie durch erneutes Ausagieren aufzulösen. Dieser Vorstoß zurück in die Vergangenheit bleibt sachnotwendig ambivalent und trägt, wie dies etwa an der Malerei und Architektur des 19. Jahrhunderts erkennbar wurde, die Gefahr in sich, daß nicht wir das einst Gewesene "aufarbeiten", sondern daß uns die Vergangenheit in ihren Bann schlägt. Deshalb werden wir schon als bedachtsame und besonnene Menschen nicht nur ins Dunkel des Gewesenen hineinstarren, sondern uns tief einzugründen suchen in gute Erlebnisse und hilfreiche Erfahrungen, die unserem Leben Halt und Orientierung gaben. Doch selbst ein derartiges Sich-Gründen in Gutes und Tragendes vermag jenes Kreisen um sich selber nur schwer aufzubrechen. Deshalb lassen wir uns im Erzählen biblischer Geschichten in eine fremde und zugleich unendlich reiche Tradition hineinnehmen. Dieser Vorgang ist bereits im Horizont des Ersten Glaubensartikels sowie des Schöpfersegens therapeutisch wirksam. Wir werden behutsam aus dem Kreisen um uns selber herausgelöst; unsere Herzen werden weit, wir beginnen zu ahnen, daß die Welt nicht erst mit uns begann und keineswegs um uns kreist.

LeerEine analoge Hypertrophie des Erwarteten, ein ungutes Übergewicht des Zukünftigen brach mit dem futurologischen Trend der letzten Jahrzehnte auf. Das "Prinzip Hoffnung" (Ernst Bloch) erzeugte auch in der Christenheit einen gewaltigen Bücherberg von Theologien der Hoffnung, der Zukunft, der Befreiung, der Emanzipation, der Revolution. Nicht lediglich die gesellschaftlichen Zwänge, die zwischenmenschlichen Strukturen, auch das Verhältnis zwischen Mensch und Natur sollte nicht mehr nur neu interpretiert, sondern radikal umgestaltet werden. Doch ein derartiges Drängen auf absolute Neuprägung ohne echte Annahme des Gewordenen ist irreal und illusorisch und muß umschlagen entweder in Terror oder in Resignation. Das Atmen im Hochgebet kann uns hiervor bewahren, gemahnt es uns doch daran daß wir zuerst Beter und darauf dann auch Täter sind, daß hierbei der Dank der Bitte vorhergeht.

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LeerDeshalb beten wir: "Wie Du Deinen Sohn auferweckt hast von den Toten und seinen irdischen Leib verwandelt hast in himmlisches Wesen, so wandle uns, Herr, und schaffe diese Welt neu nach Deiner Liebe." Wir haben uns nicht selber geboren; wir werden aus uns heraus diese Welt nicht in ein Paradies verwandeln können. Das Eucharistiegebet wird der Wirklichkeit gerecht, daß wir die Zukunft nicht in unseren Fäusten halten;es gemahnt uns daran, daß wir deren Gelingen weder zu erzwingen noch zu garantieren vermögen. Deshalb will unser geduldiges Sich-Mühen vom beharrlichen Beten umgriffen sein. Bei dieser Bitte schlagen wir über uns das Kreuz und halten Gott dem Vater sogar die Auferweckung des Sohnes vor. Wirkliches Neuwerden unseres Lebens und dieser Welt schließt ein daß wir miteinander dem Gekreuzigten und Erhöhten gleichgestaltet werden.

LeerWeil der Ausgriff der Futurologen ins Dunkel der Zukunft utopisch und zugleich zu kurzatmig war, ist die Flutwelle jener Hoffnungstheologien und Befreiungsutopien schon wieder fortgespült von einer neuen Welle des Feierns und Meditierens, welche im gegenwärtigen Hier und Jetzt das wahre Leben zu erhaschen sucht. Mit einer Art zweiten Romantik gewinnt Schleiermachers frühes Diktum zum Wesen des Religiösen erneut Macht über unsere nach Halt und Sinn dürstenden Gemüter: "Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick das ist die Unsterblichkeit der Religion" (Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern).

LeerIn meist unkritischer und oft enthusiastischer Rezeption östlicher Meditationspraktiken wird der Einbruch des ewigen Jetzt in die dahinrinnende Zeit angestrebt, wo man nicht gar die Last des Vergangenen abwirft, sich der Verantwortung für die Zukunft entschlägt und in den rauschhaften Augenblick flüchtet. Unser Hochgebet will uns vor einem derartigen Hinundherschwanken zwischen Historismus, Futurologie und Meditation bewahren. Sein intensiver und wacher Mitvollzug übt uns ein in jenes Aushalten des Spannungsfeldes der drei Zeitdimensionen, bewahrt uns vor Bevorzugung oder Vernachlässigung der einzelnen Ekstasen und läßt uns durch jenen raschen Wandel der Moden frei hindurchgehen. Schon rein innerweltlich lernen wir: Keine rechte Vergangenheit, die uns nicht in der Gegenwart verpflichtet und sich so unter uns Zukunft erschließt. Keine rechte Zukunft in der nicht die Vergangenheit als prägend für die Gegenwart auf dem Spiel steht. Keine rechte Gegenwart, in der sich nicht Vergangenes mit Zukünftigem vereint und so dem Augenblick Gehalt und Gestalt verleiht.

LeerUnser Eucharistiegebet ist freilich noch etwas anderes als eine meditative Einführung ins Zusammenspiel von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, wie dies etwa auf einem hohen Niveau Martin Heidegger in "Sein und Zeit" expliziert hat. Nicht wir halten die Zeit in ihren drei Ekstasen in unseren Händen; wir können ihrem Geheimnis wohl nachsinnen, doch mit Leben zu erfüllen vermag sie allein der Schöpfer, Versöhner und Neuschöpfer. Deshalb lassen wir unser Leben bestimmt sein durch jene Einsicht Bubers: Die Zeit steht im Gebet, nicht das Gebet in der Zeit. Wer dieses Verhältnis umkehren will, verstößt gegen das erste Gebot und versündigt sich zugleich an seinen Menschenbrüdern und Mitkreaturen. Indem wir uns unverdrossen in den weltumspannenden Atem des Hochgebets hineinnehmen lassen, weitet sich unser Leben. Nur so lassen sich auch die Vorlieben und Einseitigkeiten unter uns aushalten und integrieren. Nur so tun wir einen notwendigen stellvertretenden Dienst sowohl für unsere Kirchen als auch für die Menschen. Diesen doppelseitigen Dienst sollten wir wohl noch bewußter und intensiver tun.

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II. Beichtfeier als stellvertretendes Sichbeugen unter gemeinsame Schuld

Leer"Unser Jahrhundert zeichnet sich wohl durch den traurigen Ruhm aus, jedes bisherige Jahrhundert durch Massierung und Steigerung entsetzlicher Greuel zu überbieten . . . Daß dieser Flut der Erfahrung des Bösen eine fast völlige Ebbe der Sündenerfahrung korrespondiert, gibt sehr zu denken."

LeerDiese Sätze von Gerhard Ebeling in seiner "Dogmatik des christlichen Glaubens" (Bd. I, Tübingen 1978, S. 361), die für viele ähnliche Beobachtungen stehen mögen, rühren an eine wohl noch abgründigere Not. Setzen wir erneut bei uns selber ein. Lange nicht so lebendig - so muß ich wenigstens von mir bekennen - wie das Leben im Eucharistiegebet ist der Vollzug von Gemeinde- und Einzelbeichte. Dies dürfte mehr oder weniger für uns alle zutreffen. Die häufigeren Mahlfeiern haben die Überreste der Beichte verkümmern, wenn nicht gar absterben lassen. Die Konvergenzerklärungen von Lima handeln von der Taufe und dem Herrenmahl. Die nach reformatorischem und im Grunde gesamtkirchlichem Verständnis dritte sakramentale Stiftung Jesu Christi, das Schlüsselamt, der Auftrag, vor Gott Schuld zu vergeben, aber notfalls auch zu behalten, wird jedoch nicht thematisiert. Selbst in der Erklärung zum Amt übergeht man schamhaft die hierfür grundlegenden Herrenworte (Mt 16, 19;18, 15-20;Joh 20, 22 f.). Unser Formular zur Beichtfeier ist lange nicht so durchgebetet und durchgeformt wie die evangelische Messe. Auch die Einzelbeichte wird wohl seit dem Einbruch der amerikanischen Seelsorgebewegung kaum noch praktiziert. Hierin schwimmen wir fraglos mit im allgemeinen Trend, der trotz der Erneuerung der Bußordnung (1973) sich auch in der römisch-katholischen Kirche verheerend auswirkt, Bei uns in der Heidelberger Universitätskirche, um nur noch ein Beispiel zu nennen, gibt es seit über zwanzig Jahren keine Beichtfeiern mehr.

LeerWohl noch im Jahre 1942 entwarf Dietrich Bonhoeffer eine Kanzelabkündigung für den Fall des gelungenen Umsturzes. Sie dringt vor zur Paraklese: "Wir rufen zur persönlichen Beichte. Drückende Schuld langer Jahre hat unsere Herzen verstockt und stumpf gemacht. Christus hat seiner Gemeinde die Gewalt gegeben, Sünde zu vergeben in seinem Namen. In der persönlichen Beichte dürfen wir in besonderer Weise der Befreiung von der Sünde und der Versöhnung mit Gott gewiß werden. Ihr Pfarrer, sagt Euren Gemeinden von diesem weithin nicht mehr gekannten Gnadenweg und Angebot Gottes, sucht selbst die brüderliche Beichte und Lossprechung und gebt Euren Gemeindegliedern Gelegenheit, die Gnade der persönlichen Beichte und Sündenvergebung zu empfangen!" (Gesammelte Schriften, Bd. II, S. 438).

LeerWir nun schon Älteren sind in diesen Aufbruch hineingerissen worden, welcher neben unserer Bruderschaft etwa auch die Studentengemeinden ergriff, 1956 auf dem Kirchentag in Frankfurt ans Licht der Öffentlichkeit drang und sich in den kirchlichen Lebensordnungen sowie in Beichtanleitungen niederschlug. Wir haben jedoch auch das Abheben jenes Neuansatzes sowie den Umbruch innerhalb der Seelsorge erlebt. Gegenwärtig scheint sich eine Situation erneuter Besinnung anzubahnen. Deshalb möchte ich dieses umstrittene Feld wenigstens ansprechen.

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LeerIst es nicht so, wie Gerhard Ebeling schreibt? "Unser Jahrhundert zeichnet sich . . . durch den traurigen Ruhm aus, jedes bisherige Jahrhundert durch Massierung und Steigerung entsetzlicher Greuel zu überbieten. Man denke an die beiden Weltkriege und die nicht abreißenden Kämpfe zwischen und nach ihnen, an Religionsverfolgungen und Rassenhaß, an den Stalinismus und an die grauenhafte Judenausrottung im Dritten Reich sowie an Konzentrationslager und Terrorakte aller Art." Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg zählt man schon über 150 bewaffnete Konflikte mit etwa zehn Millionen Toten. Zugleich gilt leider: Dieser "Flut der Erfahrung des Bösen" korrespondiert eine "fast völlige Ebbe der Sündenerfahrung." Das Böse verliert für uns sein personhaftes Antlitz, es erscheint als fast zwangsläufige Folge entfremdender Großstrukturen und undurchschaubarer Verflechtungen. Seinen Bildern sind wir täglich vor allem bei der Tagesschau ausgesetzt; wir wenden die Augen ab, um weiteressen zu können. Das Furchtbare kommt uns unheimlich nahe bis hinein ins Wohnzimmer, zugleich bleibt es fremd und unwirklich. Die Medien bringen uns die Nöte der ganzen Welt ins Haus und können doch den Abstand nicht wirklich überbrücken.

LeerUnsere evangelische Kirche ihrerseits hat schon mit dem Schritt vom Pietismus zur Aufklärung die bewährten Anleitungen, die eigene Mitschuld zu erkennen und sich unter Gottes Gericht und Vergebung zu beugen, verspielt und preisgegeben. Ich selber habe auch als Theologe dies alles erst aus alten Büchern lernen müssen! Durch den Aufbruch im und nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir zwar Anleitungen zur Beichte bekommen; wirkliche Hilfen zum Beichte-Hören gibt es faktisch nicht. Am meisten gelernt habe ich dazu von Wilhelm Löhe und Johann Christoph Blumhardt, von zwei begnadeten Seelsorgern, die in den von Friedrich Wintzer herausgebrachten "Texten zum gewandelten Verständnis und zur Praxis der Seelsorge in der Neuzeit" (München 1978) übergangen sind. In der römisch-katholischen Kirche steht es heute leider kaum besser. Selbst ein Karl Rahner gesteht auf einem Symposium anläßlich seines 80. Geburtstages wenige Wochen vor seinem Tod "wenn auch ein wenig ängstlich", in seiner Theologie trete "in einer sicher problematischen Weise das Thema der Sünde und der Sündenvergebung gegenüber dem Thema der Selbstmitteilung Gottes ein wenig in den Hintergrund" (Vor dem Geheimnis Gottes den Menschen verstehen, Karl Rahner zum 80. Geburtstag, hrsg. von Karl Lehmann, Freiburg 1984, S. 112 f.).

LeerIn unserer evangelischen Theologie hat die Generation des Neuaufbruchs nach dem Ersten Weltkrieg, haben sowohl die dialektischen Theologen um Karl Barth und Eduard Thurneysen als auch ihr Gegenpol Paul Tillich, sowohl die Theologen der Lutherrenaissance um Karl Holl und Emanuel Hirsch als auch die Exegeten in Rudolf Bultmanns Nachfolge und nicht minder betont lutherische Theologen wie Werner Elert oder Paul Althaus die Einsicht in unsere sündige Verlorenheit scheinbar vertieft, sie dabei jedoch faktisch ineinsgesetzt mit unsrer Existenz in unausweichlicher Entfremdung vom göttlichen Ursprung. Martin Heidegger und Karl Jaspers faßten dies unter den Terminus der "Existenzschuld". Hierin verstärkte sich eine Gefahr, die sich schon bei den Reformatoren anbahnte, sollte doch etwa nach Luthers Schmalkaldischen Artikeln rechte Buße "nicht stucklich noch bettelisch" sein "wie jene, so die wirklichen Sunde bußet"; "rechte Buße disputiert nicht, welchs Sunde oder nicht Sunde sei, sondern stoßt alles in' Haufen, spricht, es sei alles und eitel Sunde mit uns" (BSLK 446, 19 -23).

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LeerAls Zurückweisung eines selbstquälerischen Forschens nach jeder einzelnen Übertretung mit allen ihren Umständen ist dies recht; in der Neuzeit aufgegriffen und scheinradikalisiert zur "Existenzschuld", verkehrt es sich in ein Alibi, sich etwa die eigene Mitschuld am Aufkommen des Nationalsozialismus nicht bewußt machen zu müssen. Eine derartige Schein-Radikalisierung, welche angesichts unsres unausweichlichen Verstricktseins in übergreifende Schuldverflechtungen naheliegt, zieht sich bis in die jüngsten Opera etwa von Eberhard Jüngel und Gerhard Ebeling hinein. In Jüngels dickleibigem Werk "Gott als Geheimnis der Welt" (Tübingen 1971) findet sich lediglich eine größere Anmerkung (S. 305 f. Anm. 73) zur Sünde. Sie wird umschrieben als "die Vermessenheit des Menschen, selber mit dem Nichts fertig werden zu können, selber sich als von daher kommend (statt : daraus erschaffen) zu rechtfertigen und also das eigene Sein als ein ex nihilo Eksistieren zu verstehen." So behauptet der Mensch, er habe von sich aus, aus eigener Kraft heraus das Nichts als das Woher seiner Existenz hinter sich gelassen, doch gerade so verfalle er dem Nichts. Dies ist fraglos eine Letztaussage, doch hierbei ist nur noch von "dem Menschen" die Rede; alles Konkrete und Handfeste liegt weit unter uns, etwa auch die furchtbaren Unrechtstaten unserer Generation und deren handgreifliche Folgen für viele Menschen unseres Volkes bis heute.

LeerIntensiver und direkter geht Gerhard Ebeling das Thema der Sünde an; für ihn ist es der "aufregendste Knotenpunkt, . ., wo die Aussage des Glaubens gewissermaßen in das Wespennest der Lebenswirklichkeit hineingreift". An diesem Thema hänge "die ganze Last des Furchtbaren, das der Mensch in der Welt anrichtet, und ebenso die ungeheure Last der Verantwortung dafür" (Dogmatik, Bd. I, S. 363). Doch das Blicken auf "den Menschen" führt auch Ebeling dazu, die konkreten Unrechtstaten rasch hinter sich zu lassen;an ihnen entstehe noch nicht die eigentliche Sündenerkenntnis. Diese geschehe erst dort, wo ich mich selber als Sünder erkenne. Als Pendant zur Gotteserkenntnis gehe auch die Sündenerkenntnis "aufs Ganze und an die Wurzel des Menschseins", sie betreffe unser Personsein und könne sich deshalb nur als Selbsterkenntnis vollziehen (ebd., S. 367). Das sind fraglos gut reformatorische Gedanken. Doch das abstrahierende Reden von "dem Menschen" sowie die Rückblende auf dessen Selbsterkenntnis verliert die furchtbaren Verbrechen und unser aller abgründiges Hineinverflochtensein in jene aus dem Blick.

LeerSowohl unsere persönlichen Verfehlungen als die Schuld und Sündenlast der Gemeinschaften, in welchen wir leben, haben wir Gott entgegenzuhalten und ihn um Vergebung und Heilung anzuflehen. Hierzu sollten wir in unseren Gemeinden wie auch in der Bruderschaft die Überreste der Beichtfeiern zu erneuern und verlebendigen suchen. Sicher wäre einerseits an bestimmten Tagen im Kirchenjahr wie etwa am Aschermittwoch, in der Karwoche, am Bußtag oder auch in den Quatembertagen und andererseits aus konkreten Anlässen in unserer Gesellschaft heraus wie etwa zum 40. Jahrestag der Kapitulation, aber auch in bestimmten Situationen unsrer Gemeinden wie der Bruderschaft besondere Buß- und Beichtgottesdienste zu vollziehen. Hierin halten wir Gott gleichsam die vor allem uns selber betreffenden Fäden jenes Schuldgeflechtes hin, in das wir alle hineinverstrickt sind. Wir flehen ihn an, daß er es in seine versöhnenden und heilenden Hände nehme und es mit seinem Gnadenlicht durchstrahle. An die Stelle der Predigt oder auch sie ergänzend könnte ein nachsinnendes oder auch bekennendes Gespräch treten.

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LeerIn unserem nordbadischen Konvent haben wir etwa, angestoßen durch ein Referat zur Barmer Theologischen Erklärung von 1934, das Verstricktgewesensein in sozialdarwinistische Vorstellungen vom Kampf ums Leben sowie in Rassegedanken überdacht. An derartigen neuralgischen Punkten ist ein offenes Gespräch zwischen den Generationen dringend geboten, Dies läßt sich wohl in der Bruderschaft oder entsprechenden Gemeindekreisen leichter führen als in den Familien. Wir dürften nun den notwendigen Abstand gewonnen haben, um auch tiefere Verwundungen anzurühren und weithin Verdrängtes anzusprechen. Dies sollte geschehen, solange noch die Generation unter uns ist, welche den Umbruch von der Weimarer Republik zum Hitlerregime bewußt miterlebt hat, Wir nun selber ins Alter eines "ehrwürdigen Greises" Eintretenden waren 1933 noch zu jung, um begreifen zu können, was sich vollzog, Wir begannen erst im Krieg aufzuwachen, haben dafür wohl jene Jahre vor wie nach 1945 besonders intensiv durchlebt. Unsere traditionelle "Rede zum Vaterland" am Michaelsfest rührt an die hier schwärende Wunde; deshalb ist sie fast immer umstritten und lockt durchweg spontane Reaktionen hervor - oder wird, um dem allem zu entgehen, nicht gehalten.

III. Friedensdienst in der weltlichen Christenheit

LeerIn der intensiven Beschäftigung mit den "Tausend Jahren" zwischen 1933 und 1945 liegt freilich auch eine Gefahr, die Verantwortung für das Heute und Hier zu versäumen. Diesen Auftrag möchte ich lediglich in zwei relativ naheliegenden Aspekten ansprechen. Die Spirale der Atom-Rüstung sowie den Nord-Süd-Konflikt klammere ich aus; beides bedürfte einer viel umfassenderen Besinnung. Ich möchte vielmehr an das eben Angesprochene anknüpfen. Bei einer Durchsicht der theologischen Literatur zur Frage der Leiderfahrung drängten sich mir folgende Beobachtungen auf: Die Generation, welche vor dem Ersten Weltkrieg heranwuchs, hat trotz aller Beschwörung der "Krise" ihr Schicksal erstaunlich ungebrochen durchgestanden. Hierfür seien die Namen von Karl Barth und Paul Tillich, von Martin Heidegger und Karl Jaspers, von Thomas Mann und Ernst Jünger, von Konrad Adenauer und Theodor Heuß genannt. Das gleiche gilt für viele einfache, unbekannte Menschen. Die nächste Generation, welche in der Weimarer Republik oder auch erst unter Hitler heranwuchs, wurde stärker aus der Bahn geschleudert. Für diese Generation möge ein Wort von Dietrich Bonhoeffer zitiert werden, das über diesem dritten Gedankenkreis stehen könnte. In seinen "Gedanken zum Tauftag von D. W. R." vom Mai 1944 verweist er auf das Gotteswort durch den Propheten Jeremia an Baruch (Jer 45) und zieht daraus für die Gegenwart die Konsequenz: "Wenn wir aus dem Zusammenbruch der Lebensgüter unsere lebendige Seele unversehrt davontragen, dann wollen wir uns damit zufriedengeben. Wenn der Schöpfer selbst sein Werk zerstört, dürfen wir dann über die Zerstörung unserer Werke jammern? Es wird nicht die Aufgabe unserer Generation sein, noch einmal 'große Dinge zu begehren', sondern unsere Seele aus dem Chaos zu retten und zu bewahren und in ihr das Einzige zu erkennen, das wir wie eine 'Beute' aus dem brennenden Hause tragen" (Widerstand und Ergebung, München 1959 S. 202 f.).

LeerDie Generation, welche nun in Rente oder Pension geht, hat freilich nach einer kurzen Phase intensiver Orientierungssuche das zerstörte Haus erneut aufgebaut und die kleine Lebenswelt sorgfältig abgesichert. Sie hat das Furchtbare, was sie anderen antat und das ihr vergolten wurde, ausgeblendet oder verdrängt. Wie soll man etwa auch der Realität standhalten oder sie "aufarbeiten", daß aus meiner Kieler Schulklasse nur jeder Vierte überlebte?

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LeerDoch unser Verdrängen der Schuld und Absichern der kleinen Welt hat der nächsten Generation ein Trauma vermacht; dies führte zunächst in den fünfziger und sechziger Jahren zum Streben nach gutem Verdienst und absoluter Sicherheit, in den siebziger Jahren dann jedoch zum Leiden und Rütteln an dieser zubetonierten Welt. Auf dieser Basis haben sich im Streit um den Frieden unter uns zwei Lager gebildet, wobei die Fronten zunehmend quer durch die Generationen hindurchgehen. Die einen fürchten das Zerbrechen von Recht und Ordnung, den totalen Verlust ethischer Grundnormen. Die Älteren unter ihnen haben noch die drückende Not der Weltwirtschaftskrise vor Augen und die Schrecken des Krieges im Unterbewußtsein, leider nicht so sehr die Untaten, die wir begangen haben, als das Grauen, das die englischen und amerikanischen Bomber wie das Zerbrechen der Ostfront über uns brachten. Deshalb die Furcht vor einem erneuten sittlichen Chaos und das Festhalten an der nuklearen Abschreckung. - Die anderen verweisen, wenn sie älter sind, gerade auf die Schrecken eines totalen Krieges; bei den Jüngeren schwingt etwas Neues mit, die Angst vor unserer zubetonierten und verbürokratisierten Welt, die Furcht vor einem sozialen und physischen Erstickungstod. Mit diesen unterschiedlichen Ängsten, welche apokalyptische Dimensionen anzunehmen drohen, sollten wir umzugehen lernen. Wie die Bruderschaft in der Hitlerära sowohl Glieder der Bekennenden Kirche als auch der anderen Gruppen in sich vereinte und aneinander band, so sollte sie heute den Friedensauftrag der Verständigung und Aussöhnung zwischen diesen beiden sich befehdenden und einander das Christsein absprechenden Fronten zu erfüllen suchen.

LeerMit dem Verdrängen unserer Mitschuld und dem intensiven Aufbau nach 1945 haben wir Älteren im Westen den Jüngeren durchweg auch das Ausblenden der Lebenswelten jenseits der deutsch-deutschen Grenze übertragen. Die Jüngeren sind bewußte Europäer, doch ihr Europa verliert meist hinter der Elbe seine Konturen. Sie blicken abschätzig nach Nord- und enthusiastisch nach Südamerika; sie meinen in Südafrika mitreden zu müssen und kennen sich in Nicaragua besser aus als in Pommern. Die blutmäßigen Verflechtungen der Familien zwischen Ost und West lösen sich allmählich auf. Neue Fäden müssen aufgenommen und geknüpft werden. Die Friedensbewegung wird an Realitätsbewußtsein und Überzeugungskraft gewinnen, wenn die Kinder in die Schuld ihrer Eltern eintreten und das Gespräch mit Gleichaltrigen aber natürlich auch mit Älteren nicht nur innerhalb der Deutschen Demokratischen Republik, sondern auch in den osteuropäischen Staaten suchen.

Leer"Die Väter haben saure Trauben gegessen / und den Söhnen sind davon die Zähne stumpf geworden" (Jer 31, 29;Hes 18, 2). Dieses zynische Sprichwort hat sich an uns leider in einer noch unheimlicheren Weise bewahrheitet. Wir haben nicht nur den eigenen Söhnen die Zähne stumpf werden lassen, sondern auch den Kindern unserer Nachbarn. Ein hier geforderter "Generationenvertrag", eine aktive Übernahme der Schuld der Väter durch die Söhne und Töchter, würde diese erneute Wendung nach Osten aber nun nicht mit der gepanzerten Faust, sondern mit der ausgestreckten Friedenshand einschließen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir ja im Verhältnis zum Westen erlebt, wie rasch sich durch Kontakte zwischen den Kommunen die törichte Idee vom Franzosen als unserem "Erbfeind" in Luft aufgelöst hat.

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LeerSeit einigen Jahren wird uns auch im Blick nach Osten bewußt: Das Sichlockern der Familienbande sowie die vornehmliche Westorientierung lassen ein Vakuum entstehen, welches den Frieden zu gefährden droht. In dieser Aufgabe, das Netz persönlicher Bande über die Grenze hinweg so eng wie irgend möglich zu knüpfen, sollten sich diejenigen, welche eine kernwaffenfreie Zone fordern, mit den Befürwortern des Rüstungsgleichgewichts vereinen. Diese Aufgabe sollten wir als Michaelsbrüder der nachwachsenden Generation weiterzugeben suchen.

LeerMit dem Spannungsfeld der Generationen sowie mit dem Wiederaufbau nach 1945 hängt eine weitere Problematik zusammen, auf die ich wenigstens noch den Finger legen möchte. Indem wir Älteren uns ins Wirtschaftswunder hineingestürzt haben und aus den dunklen Erfahrungen von Inflation, Arbeitslosigkeit, Ausbombung und Vertreibung heraus auf größtmögliche Absicherungen drangen, haben wir bewirkt, daß nun die 65- bis 30jährigen zumeist mit beiden Ehepartnern hochbezahlte Positionen innehaben. In der Zeit des Wachstums sind die Löhne und Gehälter so hochgeschraubt worden wie irgend möglich, und zugleich wurden die Absicherungen minutiös ausgebaut. Bei der Zumessung geht man nicht von den Bedürfnissen der Familien, sondern von der Vorbildung und Arbeitsleistung der einzelnen aus. So haben gerade unter uns Akademikern oft beide Eltern gutdotierte Posten inne, ihre Kinder hingegen, durchweg mit eher noch qualifizierterer Ausbildung, schlagen sich irgendwie durch, natürlich von ihren Eltern unterstützt. Nicht selten sind jene Eltern leidenschaftliche Gegner der Apartheidspolitik in Südafrika, nicht selten berufen sie sich angesichts des Rüstungswahnsinns mit dem reformierten Moderamen auf die Bergpredigt. Diese warnt uns jedoch: "Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!" (Mt 7, 1). Gott wird euch genau denselben Maßstab vorhalten, den ihr an andere anlegt!

LeerFraglos suchen sich die Weißen in Südafrika mit Hilfe der Apartheidsgesetze die von unten her nachdrängenden Schwarzen vom Leibe zu halten - wie verhalten wir uns im Blick auf unsere Positionen, und dies gar den eigenen Kindern gegenüber? Hochbezahlte Arbeit ist nicht unbegrenzt ausweitbar. Wenn wir hier nicht umdenken, muß die Arbeitslosigkeit strukturell werden und sich bei Millionen einpendeln, falls sie nicht noch weiter steigt. Hier tut sich vor uns ein neu zu beackerndes Feld auf, auf dem wir miteinander lernen könnten, daß sich christlicher Glaube und sozialpolitisches Handeln nicht voneinander trennen oder gar gegeneinander ausspielen lassen. Hier gilt es, Modelle auszuprobieren, neue Rechtsformen zu suchen, ehrenamtlichen Dienst aufzuwerten, auch ganze Lebensräume wie die Familie, aber auch die Dienstleistungen neu mit Leben zu füllen. In die Regel der Ansverusbruderschaft haben wir schon vor Jahren einen Passus aufgenommen, der in diese Richtung weist: "In unserer Welt, wo alte Ordnungen sich auflösen und neue kaum gefunden sind, möchten wir Zentren rechter Gemeinschaft bilden, in denen die Freude und der Friede der Kinder Gottes sichtbar werden."

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IV. Schutzpflicht an der Erde

LeerAm Beginn der ökologischen Neubesinnung "stand die beängstigende Einsicht, daß das Naturwesen Mensch sich selbst ausrottet, wenn es die natürlichen Kreisläufe zerstört, in die es einbezogen ist. Es ging um Erhaltung und Pflege der Natur im Blick auf die Menschen, um des Menschen willen. Inzwischen kommt wohl bei vielen noch etwas hinzu: Wir beginnen gewahr zu werden, daß Lebewesen so etwas wie eigenes Recht auf Entfaltung haben, Pflanze und Tier sind nicht nur Material in der Hand des Menschen, der sie beliebig manipulieren darf."

LeerDiese Worte von Erhard Eppler (in Theologia practica, 18/1983, S, 153) aus einer Besinnung zum Ineinander von Frieden, Ökologie und Entwicklung gemahnen uns an unseren Schutzauftrag. Gott der Schöpfer wies den Adam an die Adama, die Erde. Wir jedoch haben uns zunehmend von ihr abgelöst und über ihr unsere eigene wissenschaftlich-technische Sekundärwelt errichtet. Seit einigen Jahren müssen wir schmerzhaft lernen, daß diese unsere Sekundärwelt auf der Primärwelt ruht und deshalb ihr Fundament nicht unbedacht zerstören darf. Blickt man nur auf uns hier in West-Deutschland, so könnte man zynisch sagen, wir hätten nach 1945 lediglich Hitlers Expansionsdrang umgepolt. Hitler wollte nach Osten ausgreifen, um Deutschlands Achillesferse des Rohstoffmangels zu beheben, so mißbrauchte er den Nichtangriffspakt mit Stalin, um durch Transit aus Asien, aber auch von den Russen selber die nötigen Metalle und Rohstoffe einzukaufen und so den Krieg für einige Jahre durchstehen zu können. Durch die Kapitulation ins Restdeutschland zurückgedrängt, dazu noch in West und Ost gespalten, haben wir den Angriff auf die Adama faktisch fortgesetzt und wohl noch intensiviert, hüben wie drüben, freilich mit unterschiedlichem Tempo. Viele unter uns reisen sicher auch deshalb gerne in die DDR, um noch einmal das alte, uns vertraute Deutschland zu sehen; doch auch dort schießt die neue Unkultur gewaltig aus dem Boden.

LeerDie Älteren sollten den Jüngeren einfach einmal erzählen, wie sich in den letzten Jahrzehnten das Wohnen und Heizen, das Sichwaschen und Duschen das Reisen und Ferienmachen gewandelt hat. Vor einiger Zeit waren wir in einem Predigerseminar in der DDR; dort wäscht man sich noch gemeinsam an einer Blechrinne mit etwa zehn Wasserhähnen. Wer würde uns in Kirchberg noch etwas derartiges zumuten? In dieser Entwicklung muß es allem Klagen der Bauwirtschaft zum Trotz zu einem Stopp wie zu einer Kehrtwendung kommen. Die Älteren unter uns klagen gerne, daß die Jüngeren nicht mehr so tüchtig sind wie sie selber. Wir sollten Gott dafür danken. Wollte jede neue Generation in derselben Weise weiterbauen, die natürlichen Grenzen wären schnell erreicht! Denkt man an die gesamte Weltbevölkerung, so kann einen Furcht befallen. Wenn alle Völker, wenn die "Dritte" und "Vierte" Welt in einem ähnlichen Tempo vorpreschen und sich uns angleichen wollten - und wer wollte es ihnen verwehren? - dann wäre das Ende der Menschheit auch ohne Atomkriege schnell erreicht.

LeerWir beginnen einzusehen: die Goldene Regel (Mt 7, 12) und das in ihr auf den Begriff gebrachte Grundgesetz der Wechselseitigkeit gilt auch für unseren Umgang mit der nichtmenschlichen Kreatur. Auch hierbei schlägt der Bumerang des Tun-Erleiden-Zusammenhangs auf uns zurück. Was wir hier säen, das werden wir ernten. Wie es nach H. A. Dombois im Umgang der Menschen miteinander zwei Grundformen des Verbrechens gibt, den Mörder und den Heiratsschwindler, so gibt es im Umgang mit der Natur einerseits das rücksichtslose Ausbeuten und andrerseits das Aufputschen und Auspowern von innen heraus. Auf diese subtilere Art haben wir in den letzten Jahrzehnten Raubbau getrieben und die Gesetze der Regeneration mißachtet. Auch auf diesem Feld gilt der Generationenvertrag. Wenn wir die nächste Generation zu unseren Renten heranziehen wollen, müssen wir ihr den Atem- und Schaffensraum freihalten. Auch in der Ausbeutung der Ressourcen muß eine gewisse Ausgewogenheit zwischen den Generationen beachtet werden. Zugleich gilt viel grundlegender, daß das Naturwesen Mensch sich selber ausrottet, wenn es die natürlichen Kreisläufe zerstört, in die es eingebunden ist. Zugleich wird über die Erhaltung und Pflege der Natur um unseres eigenen Überlebens willen nach einem Recht wenigstens der einzelnen Arten auf ein Weiterexistieren gefragt.

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LeerGerade in diesem Problemfeld haben wir Michaelsbrüder aus der Jugendbewegung heraus sowie vom Berneuchener Buch her Wichtiges weiterzutragen und zu vermitteln. Doch müssen wir einer romantisierenden Regression wehren. Von ihr dürfte etwa auch in Jochen Kleppers "Mittagslied" (EKG 351) noch manches mitschwingen, wenn von "Truhe, Trog und Schrein" oder von "meiner Bäume Frucht, meinem Land und Vieh" gesungen wird. Die neuzeitlichen Techniken werden wir nicht ausklammern dürfen, sondern phantasiereich einzubringen haben. Doch die Richtung der Dynamik ist umzukehren: nicht ständig hektischer hochschrauben, sondern zurückdrehen auf einen intensiveren und behutsameren Umgang. An uns alle wird dabei wohl die Frage gerichtet: Wo hast du etwas getan, was noch nach Jahrzehnten Bestand haben dürfte?

LeerDie Hektik unsrer Konsum- und Wegwerfgesellschaft wurde mir erneut bewußt, als ich zum Abschluß des vorigen Sommersemesters einen Vortrag zur Friedensproblematik halten sollte. Dazu geht man erst einmal an den Schlagwortkatalog und dann an die entsprechenden Regale heran. Die Signatur zu "Krieg und Frieden politisch" (S Ldg) umschloß bereits über 300, die zu "Krieg und Frieden theologisch" (S Ldh) über 150 Bücher oder zumeist Broschüren. Schnell erkennt man, wie hier einer den anderen ausschreibt. Für den Frieden müssen ganze Wälder sterben. Dieser hektische Papierausstoß beherrscht auch die Friedensbewegung.

LeerCarl Friedrich von Weizsäcker (Wahrnehmung der Neuzeit, Hanser 1983, S. 380 ff.) wendet auf den Rüstungswettlauf einen Begriff aus der Evolutionstheorie an: auch hier beobachten wir jenes unheimliche "Luxurieren". Wie bereits Karl Marx den Kapitalismus als Akkumulation von Mitteln für Zwecke umschrieb, so zeigt die Rüstungsspirale analoge Gesetzmäßigkeiten. "Wo ein Mensch den andern, eine menschliche Gruppe die andere fürchten gelernt hat, luxuriert bald auf beiden Seiten die Akkumulation von Machtmitteln: das ist der Rüstungswettlauf." Für die hierin verstrickten Partner ist es "völlig natürlich", die eigene Stärke ständig zu steigern, dazu braucht sie nicht angreifen zu wollen, die Sorge um die Selbstverteidigung ist durchaus ausreichend. Doch durch ein derartiges "Luxurieren" wird das gesamte System, das übergreifende Geflecht der Menschheit, tödlich bedroht. Wie läßt sich jene allwaltende Hektik auffangen? Sie herrscht ja nicht allein in der Rüstungsspirale, sie wirkt sich ebenso aus in der Explosion der Krankenhauskosten, sie läßt sich selbst in der Theologie nachweisen.

LeerDiese Hektik gilt es zu überwinden. Vermag unser Umgang mit den Schöpfungsgaben Brot und Wein hier in unseren Alltag auszustrahlen? Wie können wir gegen einen Strom anschwimmen, der uns selber innerlich ergriffen hat und mit sich in seinen tödlichen Strudel hineinreißen will? Wie können wir den sorgsamen Umgang mit dem uns Anvertrauten wieder lernen; wie können wir Dinge schaffen, die uns Schwergewicht geben, wie Bücher schreiben, die zur Wegweisung helfen? Nach der Regel Benedikts soll der Cellerar "alle Geräte des Klosters und den ganzen Besitz wie heilige Altargefäße" achten und die Brüder jenen ehrfürchtigen Umgang mit ihnen lehren (Kap. 31). Wie läßt sich diese Weisung auf unsere heutige Weltsituation übertragen?

Albrecht Peters (∗1924 †1987)
Professor der systematischen Theologie in Heidelberg
Gründer der Ansverusbruderschaft
Quatember 1985, S. 203-217

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-10
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