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Fünftes Berneuchener Gespräch
von Waldemar Wucher

LeerIm Bild gesprochen, aber ebenso real verstanden: Der Engel der Geschichte begleitete das Fünfte Berneuchener Gespräch, das am Wochenende zum Ersten Advent 1985 in Kloster Kirchberg achtundfünfzig Teilnehmer verschiedener Berufe und aller Altersstufen unter dem Thema "Durch Ihn beten Dich an die Mächte. Die Wirklichkeit Christi in der Welt der Strukturen" zum Nachdenken über die geschichtlichen Horizonte der Gegenwart vereinte. Eingeladen hatte der Arbeitskreis für Gegenwartsfragen der Evangelischen Michaelsbruderschaft in Verbindung mit der Evangelischen Akademie Arnoldshain. Beide, Michaelsbruderschaft wie Evangelische Akademien haben einen gemeinsamen geistes- und kirchengeschichtlichen Herkunftsort in der ersten Jahrhunderthälfte. Die Michaelsbruderschaft hat ihren Grund in der Berneuchener Bewegung der zwanziger Jahre. Im "Berneuchener Buch" von 1926 lautet einer der Kernsätze: "Es liegt uns alles daran, die Not der Kirche in den Zusammenhang der unsere ganze Zeit erschütternden Krisis hineinzustellen." Und im Zusammenhang der Frühgeschichte der Evangelischen Akademien hat der Schweizer Theologe Theophil Vogt, seinerzeit Mitarbeiter der Reformierten Heimstätte (Akademie) Boldern bei Zürich, in einer umfassenden Untersuchung deutlich gemacht, daß wir aus der Gegenwart nicht emigrieren dürfen, sondern darum ringen müssen, in ihr zu bleiben und sie in der Tiefe, das heißt im Lichte der Verheißungen Gottes zu erfassen, und daß daraus dem christlichen Glauben, der Theologie und der Kirche "eine Aufgabe von ungeheurer Tragweite" zuwächst.

LeerGegenwart in diesem Sinne ist für uns dieses Jahrhundert. Dieser Gegenwart lebt, denkt und handelt bereits eine Generationenfolge (Thema des Dritten Berneuchener Gesprächs 1984). Die Berneuchener Gespräche seit 1975 - darauf wurde am Schluß der jüngsten Zusammenkunft aufmerksam gemacht - sind der Versuch, eine Generation später Schritt für Schritt dem Auftrag aus dem frühen Jahrhundert näherzukommen. Sie lenkte zunächst den Blick auf das umfassende bildhafte Schauen inmitten eines übermächtig gewordenen wissenschaftlich-technischen Denkens (1975). Referate (Hans-Rudolf Müller-Schwefe zu "Kunst und Liturgie", 1984) sowie eine Tagung "Suchbild Christus" (1985) in der Evangelischen Akademie Arnoldshain waren flankierende Vorarbeiten für das Fünfte Berneuchener Gespräch. Und ein weiterer Schritt auf dessen Thema zu war die Tagung "Leben aus Hoffnung. Auf der Suche nach menschlichen Lebensformen in der technisch-wissenschaftlichen Welt" mit Carl Friedrich von Weizsäcker (Zweites Berneuchener Gespräch 1979). Das Vierte Berneuchener Gespräch "Liturgie in Bewegung" (1984) war ein dritter Schritt hin auf das dreifach gegliederte Thema der jüngsten Zusammenkunft. Diese gewann in solchen Zusammenhängen gesehen - und darum galt es zunächst zurückzublicken - ihren besonderen Erkenntniswert. So eignete in diesem Augenblick allen Referaten und Aussprachen jene Offenheit nach vorn, die vor Selbstsicherheit und Überheblichkeitschützt, wie sie derzeit oftmals aus dem Aberglauben entspringt, der auch in der Kirche nicht selten ist, die Fragen der Welt auf direktem Wege angehen und lösen zu können.

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LeerDieser geistigen Freiheit und Offenheit leistete das erste Referat einen unschätzbaren Dienst. Der Braunschweiger Professor für theoretische Physik A. M. Klaus Müller, in seiner philosophischen Schau von Georg Picht herkommend, schilderte, an kein Manuskript gebunden, in einem zweistündigen Referat den spannenden Weg auf ein einheitliches Weltbild hin, den die Physik der letzten hundert Jahre eingeschlagen hat: Noch vor hundert Jahren herrschte der Glaube an das mechanistische Weltbild. Ende des 19. Jahrhunderts erfolgt mit der Entdeckung des "Feldes" der erste Einbruch. 1905 kommt es zur Relativierung von Zeit und Raum (Einstein). Das Jahr 1900 signalisiert die Quantenphysik. Das "dauernde Sein" wird in Frage gestellt. Zukunft ist offen. Die neue Wirklichkeit ist nicht Materie, sondern perspektives Wissen. Für die moderne Physik gibt es nichts Konstantes mehr. Picht: "Zeit ist selbst das Sein". Es kommt zu einer Zeithorizontale, in der die Gegenwart gar nicht vorkommt, die Zukunft unzugänglich ist und die Vergangenheit schon unzugänglich geworden ist. Hier liegt das Geheimnis der Schöpfung beschlossen. Es gibt kein autonomes Weltbild mehr. Die Physik wird als Ganzes relativiert. Wir sind angewiesen, auf das vorlaufende Handeln Gottes an uns zu vertrauen. Diese wenigen markanten Sätze aus dem Referat A. M. Klaus Müllers geben nicht den kontinuierlichen Gang der hundertjährigen Entwicklung der Physik und - gegen den Schluß des Referates hin - der wissenschaftlich gebundenen und doch glaubend freien Gedanken des Referenten wieder. Sie sollten den weiten Horizont und die Prägnanz seiner Ausführungen in aller Vorläufigkeit andeuten.

LeerIm zweiten Referat der Tagung unternahm der Heidelberger Theologe Professor Albrecht Peters unter dem Thema "Christus und die Mächte" den Versuch, die Usurpation des heutigen Menschen, der die ganze technisch-sekundäre Welt in die Hand genommen und bekommen hat, vom biblischen Denken her kritisch zu begreifen. Auch hier bliebe jeder Versuch vergeblich, die biblischen Einsichten und glaubensgeschichtlichen Entfaltungen, wie sie Peters in drei großen schritten vorgenommen hat, in der gebotenen Kürze zusammenhängend wiederzugeben: 1. Theologie des Kreuzes - Theologie der Herrlichkeit. - 2. Das Kreuz Christi - Zentrum des Kosmos und Überwindung der Welt. - 3. Christi Kreuz als Anker unserer Zuflucht vor Gott hin zu Gott selber. Gewiß - das war eine der Schlußfolgerungen des Referats: Im Blick auf die Mächte heute läßt sich sagen, in der Welt hat sich geändert, daß das Dunkle dunkler geworden ist - aber das Helle auch heller. Wir fliehen mit Luther - "Mitten wir im Leben sind" - vor den Mächten hin zu Christus.

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LeerFolgerungen für die Liturgie der Kirche? Diese Aufgabe hatte Superintendent Alexander Völker, Leiter des Liturgischen Arbeitskreises der Evangelischen Michaelsbruderschaft, übernommen: "Anbetung und Opfer in der Liturgie. Vom Wandel der Formen". Daß aus den Einsichten der beiden ersten Referate, die von biblischen Meditationen (Jürgen Boeckh), Tagzeitgebeten und Evangelischer Messe begleitet waren, auf der Stelle Hilfen für eine künftige liturgische Gestalt zu gewinnen war, konnte nicht erwartet werden. Hier muß noch viel reifen. So gab Alexander Völker in weiser Zurückhaltung zunächst einen Einblick in den geschichtlichen Wandel der Formen von Anbetung und Opfer in der Liturgie. Er ließ aber auch deutlich werden, daß an dieser Stelle die Kirche eine neue Vollmacht im Angesicht des neuen Weltbildes und der Mächte der Gegenwart gewinnen müsse.

LeerIm Zentrum eines festlichen Abends, der unter dem Signum stand "Bleibt ihr Engel, bleibt bei mir" hielt Staatsrat a. D. Hans Mestern/Hamburg den Festvortrag. Seine Gedanken waren getragen von dem Ernst und der Gewißheit eigener Erfahrungen mit der Wirklichkeit der Engel, die bis in den Alltag moderner Staatsverwaltung hineinreicht. An diesem Abend wurden Zusammenhang und Aufgabe des Berneuchener Gesprächs vollends deutlich. Die Verflechtungen, in denen wir leben, können wir selbst zuletzt nicht lösen. Doch Wissenschaft und Technik sind auf dem Wege, ihre Grenzen selbst zu erkennen. So wurde am Schluß auf das letzte Bild eines der großen Künstler unseres Jahrhunderts aufmerksam gemacht. Paul Klee, der in seinen letzten Lebensjahren mit raschen Strichen das vielgestaltige Bild von Engeln zu zeichnen versuchte, hat in seinem letzten Gemälde abstrakte Figuren nur zum Teil farblich ausgefüllt, viele andere aber offengelassen. Nur wissenschaftlich argumentierende Kunstwissenschaftler meinen, das Bild sei also "unvollendet" geblieben. Doch schrieb nicht Paul Klee an den oberen Rand des Bildes mit Bleistift die sinnreichen Worte "Muß alles denn gewußt sein? Ach, ich denke nein!"? Das einer Bach-Kantate - wir hörten sie an diesem Abend - entnommene Wort "Bleibt ihr Engel, bleibt bei mir!" war und bleibt das Leitmotiv aller Überlegungen zu dem zentralen Thema des Berneuchener Gesprächs.

Quatember 1986, S. 34-36

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-10
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