|
von Hans-Rudolf Müller-Schwefe † |
Der Vortrag wurde während der Tagung des Nordisch-Deutschen Kirchenkonventes „Zeit zu leben ” im September 1981 in der Evangelischen Akademie Bad Segeberg gehalten. Das mir zugewiesene Thema „Verlorene Zeit” zu behandeln, steht einem älteren Menschen wohl an. Zwar kann auch den jungen Menschen schon die Vergänglichkeit mit ihrem Schatten überfallen und das Leben verdunkeln. Aber erst für den alternden Menschen wird die Vergänglichkeit und Einmaligkeit, die Unwiederholbarkeit zum bestimmenden Gesichtspunkt seiner Existenz. Es ist zunächst vielleicht die Erfahrung der Unwiederholbarkeit, die ihn stellt. Er erkennt die verschiedenen Stadien seines Lebens und wird sich klar, daß er nicht noch einmal von vorn beginnen kann. Was ihm bleibt, ist die Erinnerung. Manchmal ist ein Stück vergangenen Lebens so präsent, daß es schmerzt. Dann wieder erlebt er, daß sich ihm das Gewesene entzieht; es löscht allmählich aus, die Farben verblassen. Und es bleibt wenig Zeit. Um ihn herum verschwinden Weggenossen, die mit ihm verbunden waren. Wie in Haydn's Abschieds-Symphonie legt einer nach dem anderen sein Instrument beiseite; er löscht sein Licht und verschwindet ins Dunkle. Die Unerbittlichkeit und Willkür dieses Vorgangs beunruhigt und bedrückt ihn. Dabei ist das Zentrum des Schmerzes nicht schon das Vergehen, sondern der Widerspruch, den wir mit dem Wort „einmalig” ausdrücken. Ist das, was wir Leben nennen, wirklich nicht mehr als ein Spiel von Elementen in ständiger Verwandlung, so daß die Einmaligkeit der Konstellation, einer Person und Gestalt, nur zufällig ist, Ergebnis von Wahrscheinlichkeiten? Oder ist das Einmalige wesentlich? Er möchte es glauben, er möchte gegen den Augenschein das Wesen und seine Beständigkeit festhalten. Nicht nur Marcel Proust hat gemeint: wen ich liebe, der kann nicht sterben. Ermannt sich aber der von der Vergänglichkeit Angefochtene, am Individuum und seiner Einmaligkeit festzuhalten, dann wird er von der entgegengesetzten Seite her angegriffen. Wenn denn das Einmalige dem Ende der Zeit Widerstand leistet und sich gegenüber dem Vergehen behauptet, dann enthüllt sich gerade dieses Nichtvergehenkönnen im Augenblick des Vergehens als Quelle des Entsetzens. Wenn wir bleiben, bewahrt werden angesichts des Endes, kommt nicht dann erst heraus, daß das Einmalige für das Wirken in der Zeit einstehen muß. „Verlorene Zeit” ist dann nicht nur die Anzeige eines Verlustes, sondern viel schlimmer: die Einsicht in eine Schuld. Die Vergänglichkeit ist nicht nur verhängt. Sie klagt uns an. Das ist die tiefere Sicht des „Verloren”. Wir müssen die Erfahrung des Einmaligen angesichts des Endes der Zeit noch weiter treiben: Wir verlieren nicht nur, was wir doch einmal besaßen; wir gehören selbst zu dem Verlorenen. Was ist das? Verlieren wir uns selbst? Oder gehen wir (jemandem) verloren? Werden wir also dessen inne, daß wir verloren sind, weil wir den verloren haben, der alleine unsere Einmaligkeit garantieren und uns vor dem Verlust bewahren kann? Diese Fragen bohren tief, sie bohren ins Dunkle. Wir werden diese dreifache Kennzeichnung des Verlustes im Auge behalten müssen: Verlust der Verfügung über die Zeit,Wenn wir uns jetzt daran machen, „verlorene Zeit” nach den drei Tempora zu konjugieren und nachzudenken über Verlorene Zeit - im Blick auf das Vergangeneso können unsere Überlegungen konkret werden. Der jüngere Mensch handelt umgekehrt: Er möchte das Vergangene abkappen, sich mit ihm auseinandersetzen, es seines Zwanges, seiner Fixierkraft berauben. Darum schreiben heute (nur heute?) vor allem junge Menschen sich von einer unbewältigten Vergangenheit frei. Oft sind es Neurotiker, Geschädigte, Überzarte. Wenn es gelingt, was sie da unternehmen, dann entsteht eine Dichtung: Gestaltete Vergangenheit, analysiert, strukturiert, abgeblockt. Man kann damit berühmt werden. Ganz verschieden kann der Umgang mit der Vergangenheit, mit der „verlorenen Zeit” aussehen. Orpheus, so berichtet die Sage, konnte die verlorene Geliebte nicht vergessen. Sie war ihm gegenwärtig. Aber als er sich aus Sehnsucht und Verlangen umschaute, da versank ihr Bild als Schatten. Wer das Vergehende halten will, der verliert es. Und ihm bleibt nur die Klage. „Alles das war in Wirklichkeit tot für mich. Tot für immer? Vielleicht. Der Zufall spielt in diesen Dingen eine große Rolle, und ein anderer Zufall, nämlich der unseres Todes, erlaubt uns sehr oft nicht, die Gunst jenes ersteren abzuwarten. Ich finde den keltischen Aberglauben sehr vernünftig, nach dem die Seelen der Lieben, die uns verlassen haben, in irgendein Wesen untergeordneter Art gebannt bleiben, ein Tier, eine Pflanze, ein unbelebtes Ding, dennoch verloren für uns bis zu dem Tag, der für viele niemals kommt, wo wir zufällig an dem Baum vorbeigehen oder in den Besitz des Dinges gelangen, in dem sie eingeschlossen sind. Dann horchen sie bebend auf, sie rufen uns an, und sobald wir sie erkennen, ist der Zauber gebrochen. Befreit durch uns besiegen sie den Tod und kehren ins Leben zu uns zurück. Ebenso ist es mit unserer Vergangenheit. Vergebens suchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines Machtbereiches und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser Gegenstand in uns weckt); in welchem, ahnen wir nicht. Ob wir diesem Gegenstand aber vor unserem Tode begegnen oder nie auf ihn stoßen, hängt einzig vom Zufall ab.” (Marcel Proust: Auf der Suche . . .) Die Vergangenheit also ist für ihn die Wirklichkeit, alles Gegenwärtige wird in ihr aufgehoben. Es bedarf aber eines Dinges, eines Anstoßes; der Zufall muß die Erinnerung wecken. Dann wird sie als verlorene doch unser eigen. Wahrscheinlich haben wir ähnliche Erfahrungen gemacht. Auch für uns hängt die Erinnerung an Zeichen und Zufällen. Die Photos sollen Vergangenes präsent machen. Oder wie zufällig kommt mit einem kleinen Zeichen ein Stück Vergangenes zurück. Ich erinnere mich an den Advent 1945. Meine Frau stellte ein Transparent auf, das ich in Rußland bei mir gehabt hatte. Bei seinem Anblick schossen die Bilder in mich ein. Ich wurde überwältigt von der „verlorenen Zeit”. Manchmal ist es darum gefährlich, wenn wir uns mit zu viel Zeichen unseres vergangenen Lebens umgeben. Wir blicken zurück und erblicken Schatten. Sie nähren sich von unserem Blut. Proust also suchte in der Vergangenheit das wesentliche Leben. Er verfiel ihrem Zauber. Aber er erfuhr zugleich, daß alles, auch das Vergangene, der Zeit, dem Vergehen unterworfen ist. Anders als die vielen in unseren Tagen, die in der Zeit irgendwo, vielleicht im vorgeburtlichen Sein, den Ursprung auch der Zeit suchen, hielt er daran fest, daß wir in den Ursprung nicht zurück können. Denn es gibt nur Zeitliches, sonst nichts. Was den - erwachsenen - Menschen auszeichnet, ist, daß er diese Zeitigung des Lebens als Dasein erfährt. Er wird der Zeitlichkeit bewußt. Aber nun ist es nicht nur die Sehnsucht, die uns an Vergangenes denken läßt. Das Vergangene läßt uns nicht los, weil es unerlöste, unbewältigte, ungestaltete, nicht genutzte, verlorene Zeit ist. Die Vergangenheit ruft mit der Stimme des Gewissens. „Entgangen, Herr, der Bürde, die mir schwer (Aus: Dichtungen des Michelangelo. Wir wollen im Augenblick noch an uns halten und der Lösung nicht nachgehen, die Michelangelo im Blick auf das Kreuz Christi findet. Wichtig ist mir zunächst: Das Vergangene zieht uns nicht nur an, es hält uns auch fest. Wir kommen nicht los. Denn das Vergangene muß von uns verantwortet werden. Das ist nun eine Seite der „verlorenen Zeit”, die bei vielen, vielleicht bei den meisten stark mitschwingt. Das kann dann freilich sehr verschieden konkret werden. Vielleicht stehen wir immer wieder des Nachts im Traum auf einer Seinebrücke wie Camus' Johannes Clamans in seinem Buch „Der Fall” und hören den Hilferuf aus dem Wasser, der damals, von uns unerhört, verhallte. Oder wir versuchen immer wieder eine vergangene, nicht genützte Entscheidungssituation noch einmal nachzuspielen, um, wie jener General Krings bei Günter Grass, die verlorene Schlacht doch noch zu gewinnen. Oder: ein alter Mensch wird von sexuellen Bildern heimgesucht, weil er sein Leben nicht gelebt hat, sondern ausgewichen ist. Phantomschmerzen des Lebens sind sehr real. Verlorene Gelegenheiten, vertane Zeit, falsche Entscheidungen, nicht verwirklichte Möglichkeiten, das sind Variationen von Erfahrungen verlorener Zeit, die uns anklagt. Wer Zeit für Gespräche mit alten Menschen hat, den bedrücken diese Erscheinungen. Nicht daß alles Gelebte wie ein Traum dahin ist, ist wichtig, sondern daß das Vergangene, das nicht gestaltet, verantwortet, verwirklicht wurde, das festgehalten oder weggescheucht wurde, daß das alles anwesend ist und sein Recht fordert. Für mich ist an dieser Stelle die Verlegenheit als Seelsorger groß. Ich kenne den Hinweis von Michelangelo wohl, wie er ihn an anderer Stelle noch deutlicher ausgesprochen hat: „Es schmerzt mich, macht mich trüb, und wiederumDas ist auch für mich der Halt und Trost. Aber doch ist die Reue auch ein Prozeß in der Zeit. Die Anklagen der verlorenen Zeit wollen ihr Recht. Sie wollen verarbeitet werden. Dante muß sich dreimal der Anklage seiner Beatrice stellen; dreimal muß er beichten, ehe er von seiner Schuld gelöst wird und weiterschreiten darf. Wo sind, so frage ich, in dem Umgang mit der verlorenen Zeit heute die Mittel, Methoden, Hilfen, um den Prozeß der Läuterung zu vollziehen und die „billige Gnade” zu verlassen, die niemandem hilft? Wir werden noch davon reden, was die Meditation gegenüber dem Zerfetzen der Zeit vermag. Jetzt ist zu bedenken, was sie nicht vermag. Wir meinen, die Zeit unterlaufen zu können. Und doch ist sie das Element, in dem wir uns verwirklichen müssen. Steigen wir aus der Zeitlichkeit aus - genauer: Versuchen wir es, dann sind wir wie ein Fisch, der sein Element verläßt. Vielleicht ist es doch so: Wer aus der Zeit aussteigt, verliert die Zeit. Wer sich in ihr erfüllen will, verliert sie auch. Das offenbart eine tiefe Antinomie. Ich denke an das Wort Jesu: Wer sein Leben gewinnen will, der wird's verlieren. Wer sein Leben verliert, der wird's gewinnen. Dann wäre gerade das also der Weg zum Gewinn und zur Erfüllung, daß wir uns in den Verlust, in die Hingabe der Zeit fügten. Ich denke, Jesus hat auch diese Wahrheit gemeint, daß wir die uns gewährte Zeit nicht festhalten dürfen und können, soll sie nicht verloren gehen. Wenn wir sie aber anwenden, weitergeben, realisieren, abgeben und verlieren, dann gewinnen wir Präsenz, Gegenwart in höherem Sinne. Diese Antinomie macht wahrscheinlich die eigentliche Erfahrung von Zeitlichkeit aus, die uns heute eigentümlich ist. Wir sind zur Zeit, zu ihrer Erfahrung erwacht. Alles, was Gegenwart und Leben ist, nehmen wir unmittelbar und mittelbar zugleich. Wir leiden unter der Zeit und reflektieren. Das 19. Jahrhundert hat uns auf die Höhe der Reflexion gebracht. Denken Sie an Gösta Berling. Die schöne Marianne sieht sich im Spiegel, dieser spiegelt sich wiederum in einem zweiten Spiegel und so ins Unendliche. Wir haben die Unmittelbarkeit verloren. Kierkegaard hat alle Stufen dieser ihrer Unmittelbarkeit verlustig gegangenen Zeit durchlitten und durchdacht. Er setzte die Nähe Gottes mit der wiedergewonnenen Unmittelbarkeit gleich. Wir leben heute sehr reflektiert. Aber wir haben die Doppelbödigkeit der Reflexion, die Kierkegaard bestimmte, nicht festgehalten. Wir vernichten die Unmittelbarkeit und lösen alles in Reflexion auf, um so eine Art Zeitlosigkeit zu gewinnen. Seit einiger Zeit hat darum eine Gegenbewegung eingesetzt. Wir möchten aus der indirekten, abstrakten Welt, die unsere Reflexion schafft, aussteigen und wieder direkt, konkret werden. Ich brauche die Tendenzen nicht groß zu beschreiben. Wir kennen die „Grünen”. Hinweisen aber muß ich auf die Naivität, die in dieser Suche nach der Unmittelbarkeit liegt. Wer den Schutz der Mittelbarkeit, der schmerzstillenden Mittel und Prothesen verläßt, der setzt sich den Erfahrungen der Unvertretbarkeit und Präsenz aus: Körperliche Schmerzen, Abhängigkeit von Jahreszeit und Lebensaltern, Vergänglichkeit und eigene Widersprüchlichkeit, Schuld und Sinnlosigkeit. Wer da standhält, der freilich erfährt das Geheimnis der Zeit. 3. Aber nun gehören nicht nur Vergangenheit und Gegenwart der Zeit. Offen ist die Zeit in Richtung auf die Zukunft. Wenn auch tausendmal die Vergangenheit verloren und die Präsenz nicht festzuhalten ist - die Zukunft ist offen. In ihr wird aller Verlust aufgeholt und aufgehoben werden. Die Erfüllung liegt in der Zukunft. Sogar die Wissenschaften haben heute die „offene Zeit” entdeckt. Für den Naturwissenschaftler ist die Zeit das Ur-Maß, mit dem alles gemessen werden muß. Ihre Unruhe, ihre unumkehrbare Bewegung schafft die Wirklichkeit. Es ist verständlich, daß vor allem von der Bibel her Menschen die Erfüllung der Zeit, das Ende aller Verlorenheit in der Zukunft suchen. Ernst Bloch hat diesen Ton der Hoffnung angeschlagen. Jürgen Moltmann hat ihm von der reformierten Theologie aus kräftig sekundiert. Für Bloch ist die Zeit ein unumkehrbarer Prozeß. Gerade daß also alles in der Vergangenheit versinkt, gerade daß wir den Augenblick nicht festhalten können, ist kein Grund zur Verzweiflung, sondern stärkster Grund zur Hoffnung. Man muß das Alphabet der Zeit nur umgekehrt lesen, von hinten nach vorn. Dann erkennt man als ihr Wesen das ständige Transzendieren nach vorn, ins Offene. Die Zeit selbst ist auf dem Marsch. Jeder Augenblick ist gut zum Überholen. So fahren wir auf dem Strom der Zeit durch die Zeit. Alles ist voller Verheißung. Bloch gelingt es, die Zeugnisse aller Kulturen nach vorwärts zu lesen als Anzeichen, Vorzeichen, die über sich hinausweisen auf ein Letztes. Auch die Zeugnisse der Bibel sprechen diese Sprache. Alles ist voller Exodus. a) Einmal: den unendlichen qualitativen Unterschied von Zeit und Ewigkeit. Gott ist der Schöpfer der Zeit. Er hat Zeit. Uns, seinen Geschöpfen, schenkt er Zeit. Wir Menschen fühlen uns in ihr verloren, wenn wir selbst Herren der Zeit sein wollen. Dann hängt sich das Vergangene an uns mit seinen Gewichten, dann versuchen wir die Gegenwart zu halten oder auszubeuten, dann überziehen wir das Konto der Zukunft und schwärmen oder verzweifeln. b) Und zweitens: Jesus hat die Zeit erfüllt. Er fügte sich in die von Gott gegebene Zeit, er versöhnte den Menschen mit seiner Zeitlichkeit und arbeitete die unbewältigte Vergangenheit auf, er eröffnete die Zukunft; in der Auferstehung wird jede Zeit in Gottes Ewigkeit und Nähe aufgehoben. Darum kann der Mensch, der an Christus glaubt, sein endliches Leben als von Gott geschenkte Zeit leben und Gott die Rettung und Erfüllung der verlorenen Zeit überlassen. Die zweite (und dritte) Generation der Dialektischen Theologen hat in verschiedener Weise aus diesem Ansatz die Konsequenzen gezogen. Ich nenne nur zwei Repräsentanten. Gollwitzer nahm das Perfektum ernst: Jesus hat uns die Freiheit gebracht, diese endliche Zeit auszuleben. Dann kümmert sich der Mensch um die Erfüllung des Diesseits. Er läßt die Verlorenheit hinter sich. Jeden Augenblick ist für ihn die Zukunft offen. Er kann unbefangen und verantwortlich mit denen kooperieren, die die Welt verändern wollen. Anders Moltmann. Für ihn ist Gottes Futurum konstitutiv: Die Auferstehung hat die Zeitlichkeit auf die Vollendung ausgerichtet. Nun lebt die Welt auf die neue Welt, auf das Novum im Sinn von Ernst Bloch hin. Der Sinn der Zeitlichkeit ist Aufbruch, Transzendieren, Zerstören alles Geronnenen, Hintersichlassen des Vergangenen. Dann kommt es darauf an, daß die ganze Welt verwandelt wird. „Wellen der Vorwegnahme” bringen die Menschheit aufs Novum hin in Bewegung. Die Bewegung der Zeit selbst ist freilich nach Moltmann ein unaufhörliches Leiden. Dieses destilliert die quinta essentia aus der Substanz der Geschichte. Jesus hat offenbar gemacht, daß so Gottes Bestimmung der Zeitlichkeit zum Zuge kommt. Er, Moltmann, kann sagen, daß Gott selbst das Subjekt des Weltprozesses ist. Die Übertreibung, die in dieser Theologie liegt, muß deutlich sein. Wenn Gott und Weltprozeß nicht mehr unterschieden werden, dann gibt es kein Gericht und alles kann auch immanent verstanden werden. Die „verlorene Zeit” in ihrer Zukunfts-Dimension wird überspielt. Weizsäcker erzählt: „Freilich, wenn die Lehre der Kirche in Vernunft und Nächstenliebe aufginge, so wäre die Frage legitim, ob es dazu auf die Dauer dieses historischen Gebildes der christlichen Kirche bedürfe. Bewahrt die Kirche in dem, was sie selbst ihren Glauben nennt, noch ein anderes Gut, eine andere Kraft und Erkenntnis als Vernunft und Nächstenliebe, ein Gut, ohne das vielleicht Vernunft zum bloßen begrenzten Verstand, Nächstenliebe zur Selbsttäuschung werden könnte? Als ich in dem einzigen Gespräch, das ich - als junger Physiker - mit Karl Barth geführt habe, ihn fragte, ob ich nach seiner Ansicht weiter Physik treiben dürfe, da ich eingesehen habe, daß die Atombombe nicht ein Mißverständnis der Physik, sondern eine faktisch unausweichliche Folge der Physik ist, sagte er: ‚Herr v. Weizsäcker, wenn Sie das glauben, was alle Christen bekennen und fast keiner wirklich glaubt, nämlich, daß Christus wiederkommt, dann dürfen und sollen Sie weiter Physik machen; sonst nicht.’ Barth war für mich alles andere als ein Kirchenvater, alles andere als eine gültige Autorität, aber diese Antwort ging mir in die Knochen. Er selbst sagte mir in demselben Gespräch: ‚Ich drücke mich für Sie wohl zu mythologisch aus. ’ In der Tat, was die Wiederkunft Christi einem modernen Bewußtsein bedeuten soll, wußte ich nicht. Aber daß hier ein Nerv unseres Verhältnisses zur Geschichte getroffen war, das verstand ich sofort. Ich mochte das zu äußerlich sehen, wenn mir beim Blick auf den bevorstehenden Atomkrieg die uralten Bilder der Apokalypse einfielen und beim Gedanken einer Friedensordnung der Welt das mythische Gleichnis des Neuen Jerusalem. Das scheint mir auch heute, mehr als zwanzig Jahre später, nach vielen neuen Erfahrungen: Eine Kirche, die nicht, um die alten Worte noch einmal zu gebrauchen, auf die Wiederkunft des Herrn wartet, hat den Kern ihres Wesens, ihrer Kraft aufgegeben.” Sie müssen bitte einmal alle Übertreibungen im Reden der Christen vom Frieden heute unter diesem Aspekt sehen: Man kennt weder das Jüngste Gericht noch den Frieden des neuen Jerusalems, darum wachsen die Ängste ins Ungemessene. Ich meine, daß wir heute bei ihr ansetzen müssen. Denn die Hölle bezeichnet jenen Ort, an dem alle zeitliche Wirklichkeit endet. Nur weil und wenn Jesus diesen letzten Bereich besucht hat, kann die Zeit als ganzes aus ihrer Verlorenheit gerettet werden. Ich weiß wohl, daß die Rede von der Höllenfahrt Christi im urchristlichen Zeugnis spät auftaucht. Der 1. Petrusbrief spricht davon, daß Christus gestorben ist und den Geistern im Gefängnis gepredigt hat. In dieser Vorstellung kommt zum Ausdruck, daß sich Christi Rettung der Verlorenen darin vollendet, daß er sich auch zu denen gesellt, die das Ende der verlorenen Zeitlichkeit erfahren haben, zu den Toten. Das „Hinabsteigen in das Reich des Todes” ist also nur die letzte Konsequenz des Glaubens, daß Christus alle Zeitlichkeit rettet. Das Ganze der Zeitlichkeit wird also von Jesus befreit. Für das Vergangene bedeutet das: Jesus hat „die Strafe auf sich genommen”, damit wir frei würden von der Last der Vergangenheit. Darum ist das Kernstück der Beichte nicht die Analyse, sondern die Vergebung im Namen Jesu. Für die Gegenwart bedeutet das: Erfüllt wird unser Augenblick nicht schon dadurch, daß wir im Genuß oder Hingabe ganz präsent sind. Erfüllt wird die Gegenwart durch Christi Präsenz. Er gibt sich in die Zeit hinein, hat keine Angst vor der Hingabe oder vor dem Verrat (παραδοσις bedeutet im Griechischen beides), sondern vollendet sein Leben in dem „für Euch”. Darum werden wir gegenwärtig durch die Gabe des Heiligen Mahles. Für die Zukunft bedeutet das: Jesus hat die Zeitlichkeit mit in das ewige Leben hineingenommen. Das Ja zum Eingehen in die Zeit, die Nachfolge Christi also führt uns zum ewigen Leben. Die Taufe ist für uns das Symbol für diese Geburt, auf die alles zugeht. Quatember 1986, S. 100-111 |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-09-21 Haftungsausschluss |