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Meinen Weg gehen...
Gedanken über das Unterwegs-Sein
von Heinz Grosch

LeerWandern, gemeinsam gehen, einen guten Weg gehen, auf ein Ziel zu, das man sich gemeinsam steckt: das ist mehr als nur ein Vergnügen für erholsame Tage. Gemeinsam gehen ist ein Hinweis auf die gemeinsame Wanderung derer, die „hier keine bleibende Statt” haben, sondern unterwegs sind: der „zukünftigen” entgegen, wie der Hebräerbrief sagt. Dem entspricht es, daß sich die ersten Christen als Anhänger „des (neuen) Weges” verstanden, wie die Apostelgeschichte (9,2; 19,9; 24,22) überliefert. Es könnte darum gut sein, einmal den vielfältigen biblischen Bildern vom Gehen und Wandern nachzuspüren, beginnend beim Pascha (dem Fest vom Vorübergehen des Gottes, der zum Aufbruch ruft) über den Weg Jesu und seiner Freunde bis hin zu seiner Weisung „Geht zu allen Völkern ...” Aber vielleicht ist es ebenso richtig, zunächst einmal bei unseren eigenen Erfahrungen einzusetzen; auch der Herr selber überfällt ja die nach Wegen Suchenden nicht allemal gleich mit seinen Befehlen, sondern fragt zuweilen, was diejenigen bewegt, die ihm begegnen. Ich denke an den Blinden in Jericho, zu dem er sagt: „Was willst du, daß ich dir tun soll?” Und erst als der Blinde ausspricht, was er erhofft, widerfährt ihm das Wunder des Sehens - „und er folgte ihm nach auf dem Wege”.

LeerVielleicht sollten wir uns bei unserer Besinnung durch eine Frau anregen lassen, deren Namen mancher in diesem Zusammenhang kaum erwarten wird - durch die Schauspielerin Liv Ullmann. In ihren Memoiren (deutsch im Scherz-Verlag, Bern/München/Wien, 1976: Wandlungen), schreibt sie: „Wenn ich an meine Kindheitsträume zurückdenke, wird mir bewußt, daß sie im großen und ganzen denen, die ich jetzt habe, gar nicht so unähnlich sind .. . Das junge Mädchen, das in mir ist und ‚nicht sterben will’, hofft noch immer auf etwas anderes. Kein Erfolg kann es zufriedenstellen, kein Glück läßt es verstummen... Denn ich weiß genau, daß es viel mehr Dinge gibt, als ich kennengelernt habe. Und ich möchte den Weg zu ihnen finden, damit ich in Frieden ... auf das horchen kann, was in mir ist.” Wovon redet Liv Ullmann? Gewiß nicht nur von sich. Die hier wiedergegebenen Sätze aus ihren Erinnerungen deuten zwar auch etwas an von der äußeren und inneren Bewegtheit ihres Lebens als Schauspielerin, sie reden aber zugleich den Leser auf seinen eigenen Lebensweg hin an. Sie reden von unserer Grunderfahrung auf der via vitae, bei der Wanderung auf der Straße unseres Lebens - von der Erfahrung, daß wir immer wieder Neuem begegnen; daß wir in all dem Neuen zwar auf Ruhe, auf ein Ans-Ziel-Kommen hoffen, und doch gleichzeitig ahnen, wie uns hier und jetzt solche Ruhe nicht gegeben ist. Leben heißt: Neuem begegnen, Neuem nicht ausweichen können.

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LeerNeuem zu begegnen, das bedeutet aber zugleich, dieses Neue an- und aufzunehmen (wie eine Speise), es zu verarbeiten, damit es ein Teil von uns werde, damit wir selber teilgewinnen an ihm. Neuem zu begegnen, das heißt, bereit sein, sich zu verwandeln, genauer, sich verwandeln zu lassen, seine Pflöcke anders zu stecken (Jes. 54) - zuzulassen, „daß sie anders gesteckt werden”, wie es einmal ein Teilnehmer einer Fastenwoche ausdrückte, der als Älterwerdender plötzlich entdeckte, daß er vermochte, was er seit Jahren in sich für verschüttet hielt: nämlich liebevoll-spontan auf „Fremde” zuzugehen. Und so ist es wohl kein Zufall, daß Liv Ullmann ihren Rückblick mit dem Wort „Wandlungen” überschreibt, und Anselrn Grün OSB macht in seinem Büchlein „Auf dem Wege” (Münsterschwarzach, 1983) zu Recht darauf aufmerksam, daß „wandern” und „wandeln” (also auch „ver-wandeln”) sprachlich und inhaltlich miteinander zu tun haben.

LeerUnd ein Drittes gehört zum Auf-dem-Wege-Sein: Wo wir vorangehen, da bleibt etwas hinter uns. Was eben noch da war, wird zur Vergangenheit, was uns eben noch groß erschien, wird wieder kleiner, bis es unseren Blicken vielleicht ganz entzogen ist. Gehen heißt zurücklassen: das kleine Mädchen oder den kleinen Jungen, die wir einst waren, den Lehrling oder die Schülerin, den Berufsanfänger, die Frau oder den Mann „in den besten Jahren”. Sie alle wollen von uns losgelassen werden, bleiben zurück, und mit ihnen ganze Wegstücke - ja, unser Leben selbst. Daß das schmerzhaft ist, weiß vor allem jeder Ältere, und doppelt bedrängend wird dieser Sachverhalt, wo wir erkennen, daß auch die Möglichkeiten, unsere Kräfte verantwortlich ins Spiel zu bringen, Mitverantwortung für die Welt um uns wahrzunehmen, losgelassen werden müssen - wo wir erkennen, daß in solchen Grenz-Erfahrungen unsere Begrenztheit überhaupt sichtbar wird. Wir können nichts festhalten, und selbst die notwendigen Prozesse der Anverwandlung dessen, was uns widerfährt, liegen nur bedingt in unserer Hand. Nicht einmal die lebendige Begegnung mit dem Neuen ist etwas Selbstverständliches oder gar Verfügbares - und schon gar nicht die glückende Begegnung. Unser Weg wird begleitet durch die nicht zu verdrängende Erfahrung äußerer und innerer Wüsten.
„... du vermagst nicht
sie zu bewässern
und fruchtbar zu machen
den Sand und die Steine
bringt ein anderer
zum Blühen ...”
(Margot Bickel)
LeerEin Gedanke am Rande: Es wäre unfair, jungen Menschen zum Vorwurf zu machen, daß ihnen - in aller Regel jedenfalls - dieses Lebensgefühl fremd und unheimlich ist. Die zuversichtliche Gewißheit, über unsere Kräfte und Möglichkeiten verfügen und unsere Ziele ins Weite setzen zu können, gehört ebenso zur Lebensphase des Heranwachsens wie das entschlossene und fröhliche Ja zum Zurücklassen und Loslassen. Als Kind, als Jugendlicher will und muß ich ja sagen zum Hinaus-Wachsen aus dem Gegenwärtigen und aus dem Vergangenen; ich muß „groß” und „erwachsen” werden wollen. Aber irgendwann später entdecken wir, daß das Zurückgebliebene zugleich noch in uns ist („das junge Mädchen in mir, das nicht sterben will”, hieß es bei Liv Ullmann), und wir spüren, daß uns diese Erfahrung zerreißen kann - und das eben ist schmerzhaft. Nicht weniger schmerzhaft als der Abschied von liebgewordenen Menschen.

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LeerDamit sind wir bei einer zweiten wichtigen Grunderfahrung unserer Lebenswanderung: Wir wandern nicht allein. Wir begegnen Menschen, wir nehmen an und werden angenommen (oder verweigern uns dem anderen), wir lassen andere zurück (oder werden zurückgelassen). Zu dem Neuen, das uns widerfährt, das uns verwandeln will und von dem wir doch auch wieder Abschied nehmen müssen, gehören zuallererst die Menschen, die unsern Weg für ein kleines oder größeres Wegstück begleiten, die ihn vielleicht auch nur berühren oder kreuzen.

LeerBegegnung - ein vielbenutztes Wort für das Wunder menschlichen Lebens überhaupt. Für Martin Buber wurde es zum Schlüsselbegriff einer ganzen Philosophie, der junge Bonhoeffer entwarf vom Phänomen der Begegnung her sein Bild der Kirche, in der Pädagogik unseres Jahrhunderts suchte man das Begegnen für Erziehung und Schule fruchtbar zu machen, und die Nachdenklichen in der jungen Generation von heute verstehen es als Bezeichnung dessen, was allein vielleicht die uns anvertraute Erde noch vor uns Menschen schützen kann: die Begegnung der Menschen über alle von ihnen selbst errichteten Grenzen hinweg, vor allem eine neue Weise des Begegnens mit der außermenschlichen Schöpfung.

LeerAuf dem Wege sein - Menschen begegnen - das kann viele Gesichter haben, und die Bibel ist voll von Geschichten zum Thema „Begegnung” (und „Abschied”). Es beginnt mit Adam, für den es nach Gottes Urteil „nicht gut ist, allein zu sein”, und er erhält sein Gegenüber, das ihn jubeln macht: „Bein von meinem Bein! Fleisch von meinem Fleisch!” Es geht weiter mit Abraham, der Verwandte und Freunde hinter sich lassen muß, um wandernd Neues zu gewinnen und für andere eine Bleibe zu begründen, und mit all den „Vätern” (und Müttern), Männern und Frauen, die einander begegnen, einander annehmen oder sich verweigern, einander zurücklassen oder an der Hand nehmen. Und es findet seinen Höhepunkt in den vielfältigen Begegnungen Jesu mit den Menschen, die seinen Weg kreuzen: die Jünger, die Mühseligen und Beladenen, die Kinder, die Frauen, die Fragenden und diejenigen, die immer schon alles wissen ...

LeerEinander begegnen - das kann auch in unserm Leben viele Gesichter haben. Da ist die Begegnung mit jemandem, den wir nie zuvor gesehen, von dem wir nie gehört haben und der uns doch von Augenblick zu Augenblick so vertraut ist, daß wir meinen, wir seien uns immer schon nahe gewesen: wie Geschwister, die die gleiche Frau zur Mutter haben und von klein auf gemeinsam über diese Erde gegangen sind; so reden sich die Liebenden im Hohenlied wie Geschwister an oder wünschen es zu sein. Da ist aber auch die Begegnung mit denen, die uns vertraut zu sein schienen und an denen wir plötzlich ganz neue oder sogar fremde, Staunen machende oder sogar beängstigende Züge entdecken - vielleicht, weil sich da wirklich etwas Neues zeigt, das bisher verborgen oder noch gar nicht vorhanden war - vielleicht auch, weil wir selber uns verändert haben, ohne es zu bemerken. Die biblische Gestalt Josephs fällt mir ein, der seine Brüder ganz anders erlebt, als sie um Brotgetreide bitten, weil ihre Familien hungern, und die Brüder, die den Gehaßten von einst nun als Wohltäter sehen, der sich seiner Tränen nicht schämt. Und da ist schließlich die Begegnung, die uns erschüttert oder mindestens in Frage stellt, der Mensch, der uns durch sein So-Sein (ob es uns vertraut erscheint oder fremd) im Tiefsten anrührt und zwingend unsere Antwort herausfordert.

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LeerWas aber heißt „in Frage gestellt werden”? Wieder meine ich, drei Stufen zu sehen, in denen sich diese tiefgreifende Form der Begegnung mit anderen vollzieht.

LeerMit der ersten Stufe haben wir es wohl dort zu tun, wo wir entdecken: Unser eigener Weg (oder der Weg der uns nächsten Menschen), ist nicht der einzig mögliche Weg. In äußeren Dingen ist uns das in der Regel durchaus vertraut. Jeder hat seinen Beruf und seine Interessen, jeder reitet sein Steckenpferd (das gibt es auch im kirchlichen Leben, und es ist gut so), jeder hat seinen Standort in den Fragen, die uns alle angehen. Und doch kann zuweilen die bloße Wahrnehmung anderer und ungewohnter Wege ärgerlich und bedrängend sein: etwa dort, wo es unsere herangewachsenen Kinder oder enge Freunde betrifft, vor allem in Bereichen, die uns gefühlsmäßig stark berühren - bei Fragen des Glaubens (der Pfarrerssohn, der aus der Kirche austritt), der persönlichen Lebensführung (Ehe ohne Trauschein) oder in Urteilen über dritte („Mit solchen Leuten verkehrst du?”).

LeerDiese Betroffenheit, dieses Staunen, dieser Schmerz bekommt eine neue und andere Qualität - und das wäre bereits eine zweite Stufe -, wenn wir vor solchen Wahrnehmungen nicht die Augen schließen (oder sie gewaltsam zu korrigieren versuchen), sondern sie gewissermaßen als „An-rede” hören, als direkte Frage an unsern eigenen Weg: Warum beharrst du denn auf dieser deiner Meinung? Was bindet dich denn im Innersten und eigentlich an deinen Weg, an deine Weise der Lebensführung, an deine Art zu glauben? Ich muß an die Schriftgelehrten und Pharisäer (Joh. 8) denken, die eine Ehebrecherin gefaßt haben und Jesu Urteil einfordern. Aber sein Urteil - sein Weg mit den Sündern und mit den Gerechten: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie?” - dieses sein Urteil wird zur Anfrage an die Richtenden: Seid ihr ohne Sünde? „Und sie gingen hinaus”, erzählt Johannes, „einer nach dem anderen...” Fragen dieser Art können quälend sein - so quälend, daß wir uns vor ihnen die Ohren zustopfen und um so energischer auf unseren jeweils eingeschlagenen Wegen voranzukommen suchen, als ob nichts geschehen wäre, oder aber daß wir schließlich resignierend unseren eigenen Weg aufgeben und uns (mehr schlecht als recht) den anderen anschließen.

LeerBeides aber, das ängstliche Festhalten an dem, was wir für recht halten, und die Anpassung ans scheinbar Unvermeidliche, kann uns um eine große Chance bringen - um die Chance der dritten Stufe: der wirklichen und eigenen Neuorientierung, um die Chance der Entscheidung für einen neuen und vielleicht anderen Weg für uns selber.

LeerDie Bibel nennt solche Punkte auf unserm Lebensweg Punkte der „Umkehr”, des „Umdenkens” oder des „Neumachens” („Neu-gemacht-Werdens” durch Gott). In den deutschen Übersetzungen der Heiligen Schrift steht an solchen Stellen oft das Wort „Buße” oder „Buße tun”, aber darin ist für uns Heutige nur noch wenig von dem schönen ursprünglichen Sinn enthalten, und es müßte wohl eine Aufgabe der Prediger sein, eben jenen in der Bibel gemeinten Sinn immer wieder freizulegen - nicht zuletzt, weil wir es gerade hier mit der Mitte des Evangeliums zu tun haben: „So wird mehr Freude sein im Himmel über einen Sünder, der Buße tut / umkehrt (der sich auf neue Wege, auf Wege des Lebens rufen läßt), als über neunundneunzig, die der Buße / der Umkehr nicht bedürfen (die sicher zu sein meinen, daß sie auf dem richtigen Wege sind)...” (Lk. 15,7)

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LeerSolche Umkehr, solche Kurskorrektur, ist oft mit Leiden verbunden, mit Erkennen von Schwäche und Schuld. Ja, solche Umkehr - zumal die in liebender Verantwortung für andere vollzogene - kann uns sogar in neue Schuld verstricken, und es kann zum wachen Wahrnehmen der Forderung Gottes an uns (in einer bestimmten Stunde und an einem bestimmten Punkt unseres Lebens) gehören, daß wir im Vertrauen auf Gottes zurechtbringende Gnade bereit sind, gegen die „Überlieferungen der Alten” (Mk. 7) zu verstoßen. Dietrich Bonhoeffer hat in seiner „Ethik” (vgl. dort das Kapitel „Die Struktur des verantwortlichen Lebens”) so tief wie kaum ein anderer Christ unserer Tage darüber nachgedacht: „Wer sich in der Verantwortung der Schuld entziehen will, löst sich ... auch aus dem erlösenden Geheimnis ... Jesu Christi und hat keinen Anteil an der göttlichen Rechtfertigung ...” In jedem Falle werden wir damit rechnen müssen, daß wir aus solchen Situationen nicht ungezeichnet hervorgehen. Es kann sein, daß wir etwas davon zurückbehalten - wie Jakob, der nach dem nächtlichen Ringen mit Gott und um Gottes Weg („Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!”) eine lahme Hüfte behält. Solche Umkehr, solches Hinfinden auf den Weg, den Gott uns zumuten will, (oder müßten wir sagen: solches Gefunden-Werden?), hat aber zugleich eine ungeheure Verheißung. Das Leben der Maria aus Magdala könnte als Beispiel dafür stehen.

LeerSie (vom Glauben der mittelalterlichen Kirche intuitiv mit der großen Sünderin gleichgesetzt) wurde durch Jesus von sieben Dämonen befreit - also wohl von einem schweren psychosomatischen Leiden -, und das brachte ihrem Leben die Wende. Sie konnte nicht anders, als ihm nachfolgen: bis unter das Kreuz - ja, bis dorthin, wo sie begreifen darf, daß ihr Retter (und damit auch ihre Beziehung zu ihm, ihr Glaube, ihr Vertrauen, ihre Hoffnung) nicht dem Tode unterworfen ist. Er, ihr lebendiger Herr, ruft sie bei ihrem Namen, und sie kann sich von neuem zu ihm bekennen. Er schickt sie auf den Weg zu den anderen, zu den „Brüdern” (und Schwestern), damit sie ihnen sage: Der Herr lebt.

LeerZart und zugleich klar und kraftvoll ist die Erzählung im vorletzten Kapitel des Johannesevangeliums. (20,11-18) Mir drängen sich beim Lesen dieser Begegnungs- und Weggeschichte drei Gedanken auf. Der erste Gedanke: Maria Magdalenas Weg ist in eine Wüste eingemündet. Diese Frau und Jüngerin des .Predigers aus Galiläa ist am Ende ihrer Möglichkeiten. Was ihr zu tun bleibt, ist ein letzter Liebesdienst für ihren Freund und Herrn: die Sorge um seinen Leichnam. Aber mitten in dieser Wüste wird sie neu dessen inne, was er - dem sie sich, von ihrem einstigen Weg umkehrend, angeschlossen hatte - als Gewißheit in ihr Herz einsenkte: Dein Weg hat ein Ziel. Daß dieses Ziel Vergangenheit und Gegenwart in ein neues Licht rückt, ja sogar relativiert, drückt sich in Jesu Weisung aus, ihn nicht „festzuhalten”. Die Botschaft des Auferstandenen an Maria ist zugleich die Botschaft des Evangelisten Johannes an uns: Wir gehen auf den „Vater” zu, und Jesus - der in den Augen der Welt Gescheiterte - geht uns voran, ist unterwegs, um uns eine Stätte zu bereiten. Wir dürfen darauf vertrauen, daß unser Weg nicht irgendwo im Dickicht oder an einer Abbruchkante endet. Gewiß, jetzt sehen wir das verheißene Ziel nur wie „in einem Spiegel” und mit „rätselhaften Umrissen” (so drückt es Paulus im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes aus), aber wir gehen dem Punkt entgegen, an dem wir es „von Angesicht zu Angesicht” sehen werden, an dem wir ihn erkennen werden, der uns liebend immer schon erkannt hat.

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LeerEin Ziel ist jedoch mehr als nur der Endpunkt einer Wegstrecke. Das Ziel gibt einer Wanderung zugleich erst den Sinn und die Richtung. Was der eigentliche Auftrag ist, der für unsern Lebensweg Geltung hat, hängt ab von dem, was wir als Ziel erkennen oder anerkennen. Liv Ullmann weist nach Abschluß der Niederschrift ihrer Memoiren auf Sören Kierkegaard hin, der einmal von dem „besiegelten Auftrag” sprach, mit dem jeder von uns zur Welt komme. Und die Schauspielerin fährt fort: „Ich habe mich bemüht herauszufinden, welchen Auftrag ich habe.” Einen Weg gehen, das bedeutet: nach Sinn, Ziel und Auftrag fragen und danach alle notwendigen Entscheidungen treffen.

LeerDer zweite Gedanke: Wie alle, die dem Auferstandenen begegnen, wird auch Maria Magdalena zu den anderen hingeschickt, zu denen, die ihren Weg teilen sollen - zu denen, deren Weg sie, als Botin des Auferstandenen, teilen soll. Gott weiß: Wir können unsern Weg nicht allein gehen. Und eben darum brauchen wir ihn nach seinem Willen auch nicht allein zu gehen. Die Ostergeschichten der Evangelien lassen es uns wissen, daß er selber uns nahe ist, wo wir Gefährten im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe finden: „Er wird euch vorausgehen nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.” (Mk. 16,7) So aber hat er gesagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.” Er, der um das Ziel beim Vater weiß, er, der selbst das Ziel ist, begegnet mir in, mit und unter denen, die mit mir auf dem Wege sind. Durch sie läßt er mich finden, welchen Weg ich zu gehen habe. Er ist bei mir und läßt mich nicht allein meine Straße ziehen. Es mag sein, daß ich ihn gar nicht als den „Herrn” oder als „Engel Gottes” erkenne - wie ja auch Tobias, der Wanderer im Alten Testament, erst am Ende seines Weges erkennt, daß der Engel bei ihm war. Aber gleich jener alttestamentlichen Gestalt gehe auch ich - ob ich es gerade spüre oder nicht - in seinem Geleit.

LeerUnd der dritte Gedanke: Seine Nähe ist keine abstrakte Zusage, sondern sie ist eingebettet in etwas, für das ich kein anderes Wort wüßte als „liebende Fürsorge” oder „fürsorgliche Liebe”. Bevor der Auferstandene Maria Magdalena den Auftrag gibt, die Osterbotschaft weiterzusagen, fragt er sie: „Warum weinst du? Wen suchst du?” Bevor er sie wieder auf ihren Weg schickt, läßt er sie erfahren, daß er um sie weiß. Er nennt ihren Namen. Und indem sie das alles wahrnimmt, erkennt sie in der fürsorglichen Liebe des Fragenden ihn, den Herrn. Er, der uns vorangeht, legt gewissermaßen die Spuren, die auf das Ziel hinführen. Er, der uns ruft, steckt hier und jetzt kleine Ziele, die wie Weg-Weiser auf das letzte Ziel hinweisen. Er, der uns anleitet, einander zu fragen: „Warum weinst du? Wen suchst du?” läßt uns gerade damit wissen, was uns am Ende unseres Weges erwarten soll. Er wird mit uns sein und abwischen alle Tränen von unseren Augen. (Offb. 21,3.4) An diesem Ziel sind wir noch nicht angelangt. Wir sind auf dem Wege. Kirche und Gottesdienst, geschwisterliche Gemeinschaft im Hören, Beten und Feiern, sind nicht das Ziel. Aber das Gehen und Rasten mit den Schwestern und Brüdern hilft uns vielleicht, immer wieder neu herauszufinden, wohin unser gemeinsamer (und unser je eigener) Weg führt - und das heißt zugleich: „... welchen Auftrag ich habe”. Daß ich es nicht allein herausfinden muß, daß es Spuren gibt, die mich anleiten, ist tröstlich. Es ist ein Grund zum Hoffen. Es ist auch ein Grund zum Dankbar-Sein.

Quatember 1987, S. 3-10

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-15
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