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Einsamkeit und Gemeinsamkeit
von Johannes Krinke

LeerAuf den ersten Seiten der Bibel wird von den Anfängen der Welt in zwei verschiedenen Schöpfungsberichten erzählt. Im zweiten begegnet uns Adam als zunächst alleinstehender Mann. Er befindet sich nicht in einer Wüste, sondern im Garten Gottes, umgeben von Bäumen und Büschen und von Tieren aller Art, denen er ihre Namen gibt und die so etwas wie Kameradschaft anbieten. Diese Beziehung des einsamen Adam zum Tier wiederholt sich im Leben vieler einsamen Menschen. Hund oder Katze, Vogel oder Pferd füllen oft eine Leere aus. Wer sich an ein Tier gewöhnt hat, kann echte Trauer empfinden, wenn es ihm davonstirbt.

LeerDer Schöpfungsbericht macht aber deutlich, daß das Fehlen eines menschlichen Du durch kein Tier aufgewogen wird. Der Schöpfer selbst spricht: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.” Ein Wort, das bei Hochzeiten in der Trauungsliturgie verlesen wird. Das weibliche Gegenüber, als „Gehilfin des Mannes” gedacht, ist Erlösung aus Not und Gefahr der Einsamkeit. War es dieser Gedanke, der den biblischen Autor dazu bewegte, zunächst mit dem Menschen als Einzelwesen zu beginnen? Er wußte offenbar von der Einsamkeit als Ur-Zustand, an dem jeder, der in die Welt hineingesetzt wird, teil hat.

LeerRainer Maria Rilke sagt: „Wir sind einsam. Man kann sich darüber täuschen und tun, als wäre es nicht so. Das ist alles. Wieviel besser ist es aber einzusehen, daß wir es sind. Da wird es freilich geschehen, daß wir schwindeln.” Der deutsche Dichter hat begriffen, was sein hebräischer Vorgänger gemeint hat. Die Einsamkeit will als Ur-Tatsache, als Voraus-Setzung unseres Lebens erkannt und anerkannt werden. Wir sind es im Leben, und wir sind es im Sterben. Rilke sagt mit Recht, daß der Gedanke daran einen schwindlig machen kann. Es ist, als täte sich hier ein Abgrund auf, in den man hineinzustürzen droht. Schopenhauer meint, Einsamkeit sei das Los aller hervorragenden Geister. Ich möchte meinen, das Los aller Menschen. Derselbe Schopenhauer hat aber auch den bedeutsamen Satz geschrieben: „Ein Hauptstudium der Jugend sollte sein, die Einsamkeit ertragen zu lernen, weil sie eine Quelle des Glücks und der Gemütsruhe ist.” Der Philosoph kann also der Sache eine durchaus positive Seite abgewinnen. Ebenso bejahend ist eine Inschrift an einem elsässischen Trappistenkloster: Solitudo coeli janua. Doch ist die negative Seite nicht zu übersehen.

LeerNicht überhörbar ist die Klage jenes 38 Jahre hindurch Kranken am Teich Bethesda: „Ich habe keinen Menschen!” Die Klage eines Mannes, der von vielen Menschen umgeben ist und doch allein ist. Eine Klage, die im Zeitalter der Massengesellschaft von Tausenden wiederholt wird.

LeerDer Historiker Hans Freyer hat in seinem Buch „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters” ein Kapitel geschrieben unter dem Titel „Die Vereinzelung des Einzelnen”. Er bemerkt darin, daß die Einsamkeit des Menschen im Bannkreis der modernen Lebensverhältnisse erschreckend zugenommen habe, und beinahe zum allgemeinen Schicksal geworden sei. So wirke zum Beispiel die einfache Tatsache der immerzu wechselnden unbefestigten Partnerschaft vereinzelnd. In diese Richtung laufen auch die heutigen Arbeitsbedingungen. „Der Mensch ist einerseits nie allein, immer bildet er mit anderen eine Kette oder Reihe. Aber er ist auswechselbar wie ein Rad am Wagen. Und diese Auswechselbarkeit bringt ihm die widersprüchliche Tatsache zum Bewußtsein, daß er als Einzelner wichtig und zugleich völlig unwichtig ist.”

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LeerWir machen auch folgende Beobachtung: Wo Menschen zusammenkommen, da wird geredet. Und was da geredet wird, ist nicht immer und nicht für jeden ergötzlich. Das Wort als Mittel der Verständigung und Mit-Teilung hat die fatale Eigenschaft, sowohl Gemeinschaft zu stiften als auch zu verhindern und zu zerstören. Man darf also das Zusammensein nicht überschätzen und nicht zu viel davon erwarten. Mit anderen Worten: Man sollte dem Alleinsein - so schmerzlich es sein mag - nicht um jeden Preis entfliehen wollen. Wir müssen uns sogar mit ihm befreunden. Einsamkeit ist - wie bei Adam im Paradies - die Vorstufe zur Gemeinschaftsfähigkeit. Wir müssen von Zeit zu Zeit immer wieder auf sie zurückkommen, um gemeinschaftsfähig zu werden und zu bleiben.

LeerErinnern wir uns an die starken religiösen Einflüsse, die von der Wüste ausgegangen sind, da es in ihr keine Ablenkung gibt und sie die höchste Konzentration ermöglicht. Gestalten wie Elia, Johannes der Täufer, Jesus Christus, Hieronymus, Benedikt von Nursia: für alle hat die Einöde eine enorme positive religiöse Bedeutung gehabt. Sie wurde für sie zum Ausgangspunkt großer geistlicher Erfahrungen und Erkenntnisse. Das Durchstehen der Einsamkeit befähigte sie dazu, dann anderen Menschen etwas zu sein und sie zu bereichern. Hier wurden sie zu Leuchttürmen, Wegweisern, Gesetzgebern, zu Begründern neuer zukunftsträchtiger Gemeinschaften.

LeerAuch die Stille der Studierstube und des Labors ist die unentbehrliche Voraussetzung für jene wissenschaftlichen Errungenschaften, die unsere Welt verändern. Der pausenlos redende Pfarrer wird bald merken, daß er den andern nichts Wesentliches mitteilen kann, wenn er keine Zeit findet, mit Gott allein zu sein. In diesem Zusammenhang sei hingewiesen auf den beklagenswerten Mangel am landläufigen protestantischen Lebensstil, nämlich den Mangel an Gelegenheiten zur Stille in Einsamkeit.

Leer Die Frau des amerikanischen Ozeanfliegers Morrow Lindbergh hat in einsamen Urlaubstagen - fern von ihrem Mann und ihren Kindern - eine Art Lebensphilosophie komponiert („Muscheln in meiner Hand”). Darin sagt sie „Wir müssen das Alleinsein wieder lernen ... das ist heute eine schwierige Lektion - seine Freunde und seine Familie zu verlassen, um sich vorsätzlich eine Stunde, einen Tag oder eine Woche lang in der Kunst des Alleinseins zu üben ... Ich entdecke in der Einsamkeit etwas unglaublich Kostbares. Das Leben flutet reicher, intensiver, voller in die Leere zurück... Ich fühle mich auch meinen Mitmenschen näher, sogar in meiner Einsamkeit... Ist man sich selber fremd, dann ist man auch den anderen entfremdet. Ohne Zugang zum eigenen Ich kann man auch keinen Zugang zu anderen finden ... Langsam begreife ich, daß man nur durch die Verbundenheit mit dem eigenen Lebenskern den anderen verbunden ist. Und ich bin der Meinung, daß man das eigene Ich, die innere Quelle, am besten in der Einsamkeit wiederfindet... Ich kann wenig geben, wenn ich das Inselhafte in mir nicht erhalte. Die großen Geister, die mit ihrem Licht die Kirche aller Jahrhunderte geziert und bereichert haben, sind eine Bestätigung dieser Wahrheit.”

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LeerDennoch bleibt das Wort aus der Schöpfungsgeschichte auch wahr: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.” Unser Da-Sein ist die Folge einer Gemeinschaft zweier Menschen, eines Mannes und einer Frau, die sich zueinander hingezogen fühlten. Wir hätten keine Kinder, wenn wir allein geblieben wären. Der Mensch ist deshalb in seinem Wesen auf Einsamkeit und Gemeinsamkeit angelegt, also doppelpolig. Er ist in seinem Innersten immer auf der Suche nach dem anderen Menschen, nach dem Menschen, der zu ihm paßt, der das, was er liebt und erstrebt, ebenfalls liebt und erstrebt, der ihm hilft und dem er helfen kann. Ihn gefunden zu haben, wird als großes Glück empfunden, das Alleinstehen als Mangel, Not und Verlassenheit, ja geradezu als Katastrophe erlebt, wenn er einen solchen Menschen gehabt hat und verliert. Daher gibt es eine Verlustangst. Der Drang nach Gemeinschaft geht aber auch über den einzelnen hinaus zur Gruppe, zu einer Vielzahl von Gleichgestimmten, Gleichgesinnten, Gleichinteressierten. Die Möglichkeiten sind vielseitig wie das Leben: Chor und Orchester, Club und Verein, die Partei, die Kirchengemeinde mit ihren verschiedenen „Kreisen”, die Bruderschaft, das Kloster. Es ist nicht zufällig, daß das Einsiedlertum im 3. und 4. Jahrhundert in der ägyptischen Wüste einmündet in die Gründung klösterlicher Gemeinschaften, in denen gemeinsam gebetet und gearbeitet wird.

LeerSchon von der Urgemeinde in Jerusalem wird als Charakteristikum festgestellt: „Sie blieben beständig in der Gemeinschaft.” (Apg. 2, 42) Der Gemeinde in Korinth schreibt Paulus: „Ihr seid berufen zur Gemeinschaft Jesu Christi, unsres Herrn.” (1. Kor. 1, 9) Und an anderer Stelle (1. Kor. 10, 16, 17) im Blick auf die Eucharistiefeier: „Der gesegnete Kelch, welchen wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist es, so sind wir viele ein Leib, weil wir alle eines Brotes teilhaftig sind.”

LeerAuch im 1. Brief des Johannes (Vers 7) wird bestätigt: „So wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander.” Auf diese Weise ist Einsamkeit und Alleinstehen, wenn als bedrückende und quälende Not erlebt, aufgehoben und entmachtet.

LeerIch lasse zum Beschluß Dietrich Bonhoeffer sprechen: „Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor der Gemeinschaft! Er wird sich selbst und der Gemeinschaft nur Schaden tun. Allein standest du vor Gott, als er dich rief. Allein mußt du dem Ruf folgen, allein mußt du das Kreuz - dein Kreuz -aufnehmen und allein ist dein Sterben. Du kannst dir selbst nicht ausweichen.” Aber dann fährt er fort: „Wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein! In der Gemeinde bist du berufen; der Ruf galt nicht dir allein. In der Gemeinde der Berufenen trägst du dein Kreuz. Du bist nicht allein, selbst im Sterben und am Jüngsten Tage wirst du nur ein Glied der großen Gemeinde Jesu Christi sein. Mißachtest du die Gemeinschaft der Brüder, so kann dein Alleinsein dir nur zum Unheil werden. Wir erkennen: Nur in der Gemeinschaft stehend können wir allein sein, und nur wer allein ist, kann in der Gemeinschaft leben. Beides gehört zusammen. Jedes für sich genommen hat tiefe Abgründe und Gefahren. Wer Gemeinschaft will ohne Alleinsein, der stürzt in die Leere der Worte und Gefühle. Wer Alleinsein sucht ohne Gemeinschaft, der kommt um im Abgrund der Eitelkeit, Selbstvernarrtheit und Verzweiflung.”

LeerDie „Gemeinschaft der Heiligen” ist ein wesentliches, unaufgebbares Stück unseres Credo.

Quatember 1987, S. 22-25

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-15
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