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Zur Tausendjahrfeier der Russischen Orthodoxen Kirche
von Ludolf Müller

LeerDie Russische Orthodoxe Kirche gedenkt in diesem Jahr mit großer Feierlichkeit der tausendsten Wiederkehr des Tages, an dem der russische Großfürst Wladimir sich und bald danach die Bevölkerung seiner Hauptstadt Kiew hat taufen lassen.

LeerViele Kirchen in der weltweiten Christenheit, darunter auch die Evangelische Kirche in Deutschland, fühlen sich im Gedenken an diesen Tag in Mitfreude und in Dankbarkeit gegenüber dem Herrn der Kirche mit der Russischen Orthodoxen Kirche verbunden.

LeerIndem Wladimir sich von Priestern taufen ließ, die dem Patriarchen von Konstantinopel unterstanden, machte er die „Orthodoxie” (russisch „prawossláwije”), das heißt das Christentum in seiner östlichen, byzantinischen Ausprägung, zur staatlich anerkannten und geförderten Religion seines Reiches, das von der Ostgrenze Polens bis zur Wolga und von der Ostsee bis zur südrussischen Steppe reichte. Es war hauptsächlich von Ostslawen besiedelt, einer Gruppe slawischer Stämme, aus denen sich dann später die drei ostslawischen Völker der Ukrainer, der Russen (im engeren Sinne des Wortes, auch „Großrussen” genannt) und der Weißrussen gebildet haben. Durch die Entscheidung Wladimirs wurde die Orthodoxie zur Seele der Kultur der ostslawischen Völker.

LeerGewiß hat diese Kultur auch andere Wurzeln. Sie geht zurück auf die vorchristliche, also heidnische, bäuerlich bestimmte Volkskultur der ostslawischen Stämme, die zur Zeit der Christianisierung noch eine gemeinsame Sprache (das Gemein-Ostslawische oder Altrussische) sprachen. Auch finnische und baltische Stämme siedelten in dem Riesenreich, die ihre eigenen Sprachen und ihre eigenen kulturellen und religiösen Traditionen hatten. All dies wurde nun aber, von 988 an, in einem verhältnismäßig rasch und friedlich verlaufenden Prozeß hineingenommen in die reiche geistig-geistliche religiöse Kultur der Östlich-Orthodoxen Kirche, die ihren Mittelpunkt in Konstantinopel (heute Istanbul), dem Sitz des oströmischen (byzantinischen) Kaisers und des „ökumenischen Patriarchen” (wie sich das Oberhaupt der Ostkirche, auch gegen den Protest der Päpste von Rom, nannte), hatte.

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LeerDie Östlich-Orthodoxe Kirche war damals noch nicht von der Römisch-Katholischen Kirche getrennt; zu dieser offiziellen Trennung und gegenseitigen Exkommunikation ist es erst 66 Jahre nach der Taufe Rußlands, im Jahr 1054, gekommen. Aber schon lange vor 1054 bestanden zwischen den Kirchen des Ostens und des Westens erhebliche Unterschiede im Kultus und in der Lehre, im Kirchenrecht und in der Spiritualität. Im Osten herrschte nicht der straffe Zentralismus der westlichen Kirche, und auch in der Frage der gottesdienstlichen Sprache gab es größere Freiheit.

LeerWährend im Westen praktisch nur das Lateinische als Gottesdienstsprache zugelassen war, waren in der Ostkirche mehrere Sprachen in liturgischem Gebrauch, unter ihnen seit dem Wirken der Slawenapostel Kyrill und Method im 9. Jahrhundert auch das Slawische, in der Form des sogenannten „Kirchenslawisch”, das die Slawenapostel bei ihrer Mission im Gebiet der heutigen Slowakei benutzt hatten. Als Rußland, 125 Jahre nach dem Beginn der Slawenmission von Kyrill und Method, zum orthodoxen Christentum überging, konnte es sich das reiche liturgische und literarische Erbe der Slawenapostel zu Nutze machen und den Gottesdienst von Anfang an in einer Sprache feiern, die den Ostslawen verständlich war, wenn sie sich auch von der ostslawischen Umgangssprache unterschied - so wie etwa die Sprache Luthers, die auf mitteldeutschen Dialekten beruhte, sowohl in Süd- wie auch in Norddeutschland verstanden wurde, wenn sie auch einen etwas fremden Klang hatte.

LeerDiese Nähe zwischen der Sprache der Liturgie und der Literatur und der Sprache der weltlichen Kultur begünstigte das rasche Verschmelzen der neuen, christlichen geistigen und geistlichen Kultur mit der vorchristlichen Kultur der Völker des Russischen Reiches. Ihre Synthese war die kirchliche Kultur der ostslawischen Völker. Vieles, was in ihrem Schöße entstanden ist, hat weit über die Grenzen des Russischen Reiches und der Östlich-Orthodoxen Kirche hinausgewirkt und ist zum gemeinsamen kostbaren Besitz der christlichen Welt geworden: etwa die altrussische kirchliche Baukunst und Ikonenmalerei; die reiche geistliche und weltliche Literatur, die schon bald nach der Einführung des Christentums in Rußland zu hoher Blüte gelangt ist und im 19. Jahrhundert Weltgeltung erlangt hat; die russische religionsphilosophische (oder besser gesagt: laientheologische) Bewegung, in der sich vom 18. Jahrhundert an das geistige Erbe der russischen Orthodoxie der Herausforderung des westeuropäischen philosophischen Denkens stellte und die in den Werken der Schriftsteller Dostojewskij und Tolstój, der Philosophen Ssolowjów (Solowjew) und Berdjájew stark nach Westeuropa zurückgewirkt hat; die Spiritualität der Russischen Orthodoxen Kirche, wie sie im liturgischen Leben und in der Volksfrömmigkeit, im vielgestaltigen Heiligkeitsideal und im Mönchtum der ostslawischen Völker zum Ausdruck kommt.

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LeerWie anders sähe deren geistliches Antlitz aus, wenn Wladimir sich im Jahre 988 etwa für den Islam oder für das Judentum oder für das westliche Christentum entschieden hätte! (All dies lag, wenn auch in verschiedenem Ausmaß, damals im Bereich des Möglichen.) Der tiefgreifende kulturelle Unterschied zwischen den ostslawischen Völkern und dem ihnen benachbarten, sprachlich und ethnisch nächstverwandten polnischen Volk hat seinen Grund in ihrer verschiedenen Konfessionszugehörigkeit und geht zurück auf die Entscheidung, die Wladimir im Jahre 988 getroffen hat. Aber auch für die Östlich-Orthodoxe Kirche war die Entscheidung Wladimirs von schicksalhafter Bedeutung. Wir müssen bedenken, daß seit der Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahr 1453 fast der gesamte Bereich dieser Kirche für etwa 500 Jahre unter türkischer Herrschaft gestanden hat. In dieser Zeit war die orthodoxe Christenheit in Gefahr, von innen her durch den Islam und von außen her durch die Glaubenspropaganda der Römisch-Katholischen Kirche ausgezehrt zu werden. Ganze Länder, in denen das Christentum zuvor geblüht hatte, wurden entchristlicht, wie etwa Kleinasien, Bosnien und Albanien.

LeerDie Katholische Kirche bot, wo sie konnte, zunächst eine Union der östlich-orthodoxen Christen mit Rom an, das heißt eine Vereinigung mit Rom durch Anerkennung des Papstes als des obersten Richters in Fragen des Glaubens und des kirchlichen Rechtes unter Beibehaltung des byzantinischen Ritus (einschließlich Priesterehe und Laienkelch). Aber oft folgte der Union bald genug die völlige Latinisierung. Dieser doppelten Bedrängung hätte die Östlich-Orthodoxe Kirche nur geringen Widerstand entgegensetzen können, wenn sie in diesem halben Jahrtausend nicht einen starken finanziellen, politischen und geistigen Rückhalt an der großen, volkreichen und traditionsbewußten Kirche des mächtigen Zarenreiches gehabt hätte, das sich nach dem Untergang des byzantinischen Reiches, des „zweiten Rom”, als dessen Erbe, als das „dritte Rom” und als Schutzmacht für alle orthodoxen Christen fühlte. Seit dem Jahre 988 ist Rußland nicht mehr ohne die Orthodoxie und die Orthodoxie nicht mehr ohne Rußland denkbar.

LeerDarum: Wenn wir Rußland und seine von der Orthodoxie geprägte Kultur, und andererseits: wenn wir die Östlich-Orthodoxe Kirche lieben, die das kirchliche Erbe des ersten Jahrtausends der Christenheit treu bewahrt und es im zweiten Jahrtausend lebendig weiterentwickelt hat, und wenn wir die Stimme dieser Kirche im ökumenischen Gespräch nicht mehr missen möchten, dann haben wir allen Grund, zusammen mit der Russischen Orthodoxen Kirche das tausendjährige Gedächtnis ihrer Gründung zu feiern.

Quatember 1988, S. 2-4

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-02
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