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Eine Pilgerreise in den Ranft
von Paul Kramer

LeerVor etlichen Jahren unternahm ein Wanderer eine Pilgerreise zum Bruder Klaus. Der Weg führte ihn von seinem Wohnort bei Bern Aare aufwärts bis Thun, dann über den Pilgerweg nach Sigriswil und Interlaken, dann über Iseltwald nach Brienz, hinauf über den Brünig und das Tal hinunter nach Sachseln. Diese Reise machte er nicht ohne Grund. Er befand sich damals in einer düsteren Lebensphase. Sorgen, Ängste, Schlaflosigkeit. Er wollte Abstand gewinnen von zu Hause und der Gemeinde. Er wollte wandern, wandern. So machte er sich auf die Beine. Ziel war der Ort, wo wir nun sind.

LeerEr nahm sich vor, mit hellem Sinn alle Dinge zu grüßen, denen er begegnen würde: den Morgen, die frische Luft, die aufgehende Sonne. Blumen und Vögel, das lebendige Wasser im Brunnentrog, in den Bächen, in der breiten Strömung des Flusses. Er grüßte den scheuen Vogel, der vor ihm aufflog, die eifrigen Sänger des Waldes. Er grüßte das flinke Eichhörnchen, den Käfer, den er nicht zertreten wollte. Er grüßte die Bäuerin im Garten, den Bauer auf dem Feld. Er grüßte die Nacht, wenn sie hereinbrach, das Lager, das ihm bereitet war. So ging er leichten Fußes seinen Weg.

LeerDie erste Nacht verbrachte er im Haus eines befreundeten Ehepaares. Da hatte er einen Traum, einen schrecklichen, makabren Traum. Der erschrockene Schläfer erwachte und versuchte ihn zu deuten. Vielleicht, ja gewiß spiegelte sich darin eine Lebensnot, die ihn schon lange beunruhigt hatte. Das leidenschaftlich heftige Traumbild sollte ihn jahrelang verfolgen und sich endlich als begründete Warnung erweisen. Nach dem Frühstück bedankte er sich bei den Wirtsleuten und zog nachdenklich, dann aber wieder fröhlich seine Straße. Es war just der 1. Mai. „D'Zyt isch do, d'Zyt esch do” - und der Wanderer fing wieder an zu grüßen alle Dinge, die er mit dem Herzen wahrnahm.

LeerUnterwegs las er einen Hausspruch:
Geh nicht ohne zu segnen von zu Hause fort.
Vielleicht warst du zum letzten Mal an diesem Ort.
LeerEr dachte an so viele Male, da er in Eile oder unwirsch sein Haus verlassen hatte, ohne ade oder auf Wiedersehen zu sagen, und nahm diesen Spruch mit als Ermahnung.

LeerAm Abend des vierten Tages erreichte er Sachseln, wo Bruder Klaus begraben liegt. Er betrat die große Wallfahrtskirche. Sie war für ihn nicht der Ort der Andacht. Es war schon spät. So klopfte er an die Tür des Pilgerpfarrers. Der wies ihn zu einem älteren Ehepaar, wo der müde Wanderer übernachten durfte.

LeerAndern Tags, sehr früh, stand er auf, stieg aber nicht auf dem üblichen Pilgerweg den Hang hinauf ins Flüeli, sondern wählte den Weg am See entlang nach Samen, dem Hauptort Obwaldens. Über das Wasser tönte der Klang einer Glocke. Wenn du dich beeilst, kommst du noch rechtzeitig zum Sanctus. Und siehe da, so war es auch. „Voll sind Himmel und Erde seiner Herrlichkeit.” Er betrat ein geräumiges, hochgewölbtes, weihevolles Gotteshaus, erbaut in der Sprache des süddeutschen Barock. Vorne am Altar stand ein junger Priester, dem er sich hernach vorstellte.

LeerReformiert und katholisch begegneten sich. Sie konnten ihre Zuneigung zu einander nicht verbergen. Beide erkannten im anderen den Bruder und umarmten sich. Der Priester nahm den Pilger zu sich ins Pfarrhaus und gab ihm zu essen. Nach einem telefonischen Anruf ins Flüeli brachte er die Botschaft, der Unbekannte möge sich oben in der PAX MONTANA beim Hauspriester melden. Dieser empfing ihn dann auch herzlich und nahm ihn auf als Gast für die ganze Dauer seiner Einkehr. In Kurzansprachen predigte er jeden Morgen über die heiligen Geräte des Altars, über den stillen Gang der Eucharistie und ihre Gebete.

LeerZweimal des Tages, in der Frühe und vor Einbruch der Dunkelheit, stieg der Wanderer hinab in den Ranft, zuerst in die obere Kapelle mit der Klause des Eremiten, dann in die untere Marienkirche. Die Lieblichkeit des Frühlings war noch nicht in dieses Tal eingezogen. Noch lag winterliche Kälte auf seinem Grund. Der Bach, die Melchaa, sang ihren Psalm wie seit Urzeiten, wo noch kein menschliches Gebet laut wurde. Es war ein Ort der Einsamkeit, einer pathetischen, leidvollen, bedrohlichen Einsamkeit.

LeerDer Pilger vertiefte sich in diesen Tagen in die Lebensgeschichte des visionären, scheuen Mannes, der sich nach starken Jahren öffentlicher Tätigkeit im letzten Abschnitt seines Lebens hier unten aufgehalten hatte. Er las sie als die Geschichte eines Aussteigers des 15. Jahrhunderts, der unter dem Zwang seiner Visionen und seines Temperamentes allem entsagte, was er hatte, um sich durch Gebet und Askese der Gottesfreundschaft zu weihen, Er wählte dabei nicht das Kloster, sondern auf eigenem Grund, einen Flecken Erde, wo er als Eremit und strenger Faster die Harmonie seiner selbst zu linden hoffte.

Leer Obwohl sich der Pilger schon früh mit dem sonderbaren Mann beschäftigt hatte, kam ihm seine Lebensweise hier am Ort immer unheimlicher vor. Oben die Familie mit Frau, Kind und Kindeskind, unten der Vater und Großvater im Büßergewand. Die Trennung kann nicht ohne Tragik und Vergewaltigung der Gefühle ertragen worden sein.

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LeerNeben Verehrung für Bruder Klaus regte sich nun in ihm ein leidvoller Zwiespalt, ja sogar ein Widerspruch. Er fragte sich, ob diese Bußgesinnung und Entsagungsmystik auf die Dauer eine Möglichkeit sei zu leben. Ist sie natürlich, gesund, menschlich, göttlich, heilig? War diese Art Frömmigkeit nicht ein Merkmal des ausgehenden müden Mittelalters, die Frucht tausendjähriger Erziehungsarbeit einer Kirche, die ihre Kinder endlich soweit gebracht hatte, daß sie von Angst und Bangen befallen wurden?

LeerEr erinnerte sich auch, wie oft er das Büchlein des Thomas von Kempen betrübt aus der Hand gelegt hatte und über dessen Anleitung zur Nachfolge Christi verzagt war. Sind die vielen, allzu vielen hoffnungsvollen und angefochtenen jungen Menschen, die sich selbst entsagten, Gott näher gekommen? Haben sie den Frieden gefunden, die Gottinnigkeit, die UNIO MYSTICA? Sie suchten das geheiligte Leben. Sind sie den Leidenschaften ihres Blutes entronnen? War's nicht ein auswegloses, vergebliches Mühen? Hat nicht Martin Luther, nachdem er selber diesen Weg gegangen, davor gewarnt? „Ich fiel auch immer tiefer drein, kein Gutes war am Leben mein, die Sund hat mich besessen.”

LeerAuf einmal fing der Wanderer an, sich vor dem Waldbruder zu fürchten. Er kam ihm vor als ein zutiefst Erschrockener, Fragender, Gepeinigter, Sehnsüchtiger. Da half ihm die Geschichte von jenem Jüngling aus Burgdorf, der einmal den berühmten Gottesfreund im Ranft besucht habe, die alte Frage auf dem Herzen und auf den Lippen: Was muß ich tun, daß ich das ewige Leben gewinne? Worauf er den einfachen und praktischen Rat erhalten habe: Bueb, gehe heim, hilf deinem Vater und deiner Mutter.

LeerImmer wieder zog es den Pilger in diesen abgelegenen Ort. Er betete viel, morgens früh und abends spät. Das ewige Licht bedeutete ihm, daß er nicht allein sei. Einmal kletterte er hinauf zur Kapelle des Mitbruders Ulrich, die da oben steht. Die beiden pflegten sich öfter zu treffen und wohl auch zu trösten. Gewiß haben sie sich auch über die Zeitläufte unterhalten, über den Lärm und das Kriegsgeschrei jener Tage. Immer übte sich der Ratsuchende im Grüßen und hielt Ausschau nach einem Blick der Liebe, einem freundlichen Wort, einer helfenden Tat, die er selber zu spenden bereit war.

LeerEndlich glaubte er das alles gefunden zu haben im hörbaren Spruch des ernsten Mannes hier im Ranft: mein Sohn, was quälst du dich? Gehe heim! Sorge für dein Haus und deine Gemeinde.

LeerAuf der Heimreise dachte er über alles nach, was ihm auf seiner Wanderung begegnet war. Im schweren Traum, den er gehabt, im Hausspruch, den er gelesen, im katholischen Bruder, den er gefunden, im charismatischen Priester, dem er zugehört, in jeder Kreatur, die er gegrüßt - in dem allem erkannte er den ENGEL DES HERRN, der den Pilger begleitet, führt und zu ihm redet.
Ihr guten Mächte über dieser Welt,
Heerscharen Gottes, bleibt uns immer nah.
Gehalten als Vesperandacht
am 3. Oktober 1987
in der Marienkirche im Ranft.

Quatember 1988, S. 12-15

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-02
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