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Zwischen Ausleben und Verdrängen: König über meine Gefühle
von Gerhard Steege

Als die Brüder einmal bei Vater Joseph saßen, freute er sich, und bereitwillig sprach er:
„Ich bin heute König, denn ich habe meine Leidenschaften beherrscht.”

Weg und Wort der Väter, Nr. 393/Paulinus-Verlag

Leer„Sich beherrschen”: Es ist noch gar nicht lange her, da galt die Selbstbeherrschung nicht nur als eine adlige, sondern gerade auch als bürgerliche Tugend. „Nimm dich zusammen!”, „Beherrsch dich!” gehörte als selbstverständliche Mahnung in die Erziehung des Kindes und Jugendlichen. „Sich gehen lassen” war ein schlimmer Verstoß gegen die „guten Sitten” des Benehmens, wenn einer mal seinen Gefühlen freien Lauf ließ - seien es Aggressionen, aber auch überströmende Freude. Die Älteren unter uns kennen das noch vielfach aus eigener Erfahrung.

LeerInzwischen ist in der Bewertung der Gefühle und damit auch im Verhalten eine tiefgreifende Wandlung eingetreten. Gefühle können wir zeigen, wir können spüren lassen, was wir empfinden, nicht nur Freude und Zuneigung, auch Unwillen oder Zorn. Wir haben gelernt - wir Älteren dabei nicht wenig von den Jüngeren -, daß Offenheit im Mitteilen der Gefühle entscheidend dazu beiträgt, zwischenmenschliche Beziehungen lebendig zu erhalten. „Selbstbeherrschung” gilt nicht mehr als einer der höchsten Werte im Verhalten. Auch im Zusammenleben kann man sich „gehen lassen”, und selten erregt das Anstoß.

LeerIm scharfen Gegensatz dazu erlebt sich der Wüstenmönch Joseph unseres Spruches als „König”, weil er seine Gefühle, seine „Leidenschaften”, gerade einmal beherrscht hat. Er steht aber mit seiner Selbstbeherrschung nicht nur im Gegensatz zu dem, was vielfach das „Ausleben der Gefühle” genannt wird und dann mit einem negativen Vorzeichen versehen ist. Er steht auch im Gegensatz zur Selbstbeherrschung der bürgerlichen Zeit in der jüngsten Vergangenheit. Denn der Weg zur Selbstbeherrschung ging hier über die Verdrängung der Gefühle und Leidenschaften. Das Ergebnis waren dann nicht selten verklemmte oder kalte und unpersönliche oder zerrissene Menschen.

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LeerWenn der altkirchliche Mönch Joseph sich als König über seine Gefühle sieht, dann nicht deshalb, weil er sie verdrängt, also ins Unbewußte abgespalten hat, sondern weil er sie erlebt, zugelassen, aufgenommen und eingeordnet hat. Er sieht sich als „König” über das „Reich der Gefühle”. Er fühlt sich nicht von seinen Leidenschaften bedroht, denn er hat ihnen das Zerstörerische, Mitreißende genommen und verwendet zugleich die in ihnen steckende Energie aufbauend für sein „Reich”. Er hat seine Gefühle integriert.

LeerVon der bürgerlichen Art des Umgangs mit den Gefühlen unterscheidet er sich in seiner Einstellung dadurch, daß er seine Gefühle bejaht und nicht gehemmt ist. Von der gegenwärtigen, häufig anzutreffenden Überschätzung der Gefühle unterscheidet er sich dadurch, daß er die Gefühle formt und gestaltet; er läßt sich von ihnen nicht einfach mitreißen, sondern hat zugleich den Abstand, der es ihm ermöglicht, sie so einzuordnen, daß sie ihn lebendig, menschlich, farbig machen. Von diesem Wüstenmönch her, der sich freuen kann, weil er gerade einmal König über sein inneres Reich ist, wird Selbstbeherrschung zu einem richtungweisenden Begriff, der gereifte Menschlichkeit anzeigt und entsprechende Ausstrahlung hat.

LeerNoch eine weitere Dimension in diesem christlichen Väterspruch entdecken wir, wenn wir ihn in Beziehung setzen zu dem Spruch aus dem alttestamentlichen Buch der Sprüche: „Besser langmütig sein als ein Kriegsheld; besser sich selbst beherrschen als Städte bezwingen.” (16,32; Züricher Bibel) Dieser noch ältere Spruch nährt die gegenwärtig wachsende Einsicht, daß hier einer der wesentlichsten Aspekte zur Lösung der anstehenden Probleme zum Weiterbestehen der Menschheit angezeigt wird. Aus diesem uralten Weisheitsspruch erhalten wir den Hinweis darauf, daß Streitfragen nicht auf die Weise eine Lösung finden und befriedet werden, daß - wenn auch anfangs ganz unbewußt - Feindbilder aufgebaut werden, womit ja eine Rechtfertigung zur Bekämpfung oder sogar Auslöschung dieses Feindes gesucht wird.

LeerEine dauerhafte Befriedung kann nur gelingen, wenn der eigene Beitrag am Entstehen des Konfliktes gesucht und gefunden wird, also in den Problemen, die in mir selbst liegen und mit denen ich noch nicht zu Rande gekommen bin, weil z. B. meine „Leidenschaften” noch nicht integriert sind. In dem Maß, in dem ich (als einzelner, als ganzes Land) König im befriedeten Reich meines Innern werde, werden auch die zwischenmenschlichen und die zwischenstaatlichen Konflikte eine für alle befriedigende Lösung finden. Das aber, König über die Leidenschaften zu werden, ist eine der schwersten Aufgaben, die uns von Gott gestellt sind - wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen. Diese Aufgabe ist heute dringlicher denn je.

LeerÜbrigens: Sollte einer unter uns noch ein Bild von Mönchen (und gar von Wüstenmönchen!) haben, das sie hart, verbissen, finster zeigt: diese Anekdote mit ihrer Freude am Königtum über die Gefühle dürfte beitragen zu einer gründlichen Korrektur.

Quatember 1988, S. 22-23

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-02
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