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Wider falsche Festigkeit und gefährliches Nachgeben
von Gerhard Steege

Ein Altvater pflegte zu sagen:
Werde für dich selbst nicht zum Gesetzgeber
und anderen nicht zum Richter, denn du stehst
nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade.
LeerWeg und Wort der Väter, Spruch 227

Vater Poimen sagte:
Wenn es dem Menschen zur Gewohnheit wird, Wünschen und
Annehmlichkeiten zu folgen, so werden sie ihn niederziehen.
LeerWeg und Wort der Väter, Spruch 236

Vater Poimen sagte:
Der Mensch wird immer zu Fall gebracht durch das,
was er von sich abschneiden sollte - und doch nicht tut.
LeerWeg und Wort der Väter, Spruch 237
LeerAlle drei Aussprüche haben das gleiche Thema: Den Umgang mit sich selbst. Für manchen von Ihnen mag das erstaunlich sein und Sie werden sich fragen: Was hat die Offenheit für Gottes Wort und Willen, was hat der Gehorsam in der Nachfolge Jesu damit zu tun, wie ich mit mir selbst umgehe? Liegt das nicht weitab von der Vertiefung im Glauben? Nun, die alten Väter in der Kirche hielten es für ganz selbstverständlich, die Selbsterkenntnis sowie die Fragen, die mit dem Umgang mit sich selbst zusammenhängen, in die Nachfolge einzubeziehen. Noch deutlicher: Der Umgang mit sich selbst, wie er der Zugehörigkeit zu Gott angemessen ist, war für sie Bestandteil aller Bemühungen um die rechte Nachfolge, er gehörte für sie zum Gehorsam gegenüber dem Herrn hinzu. Ähnlich dachten Christen auch später. Erst seit der Aufklärungszeit, also seit etwa 250 Jahren, wurden die Gotteserkenntnis und die Selbsterkenntnis auseinandergerissen. Lernen wir, sie wieder zusammenzusehen, und lassen wir uns dazu von den Mönchsvätern der Alten Kirche anleiten!

LeerDenn weil für die Mönche damals die Selbsterkenntnis einer der Wege zur verstärkten Hingabe an Gott war, können wir bei ihnen auf ganz unterschiedliche Weise Einsichten zum eigenen Verhalten gewinnen. In den angegebenen Sprüchen wird von der Gotteserkenntnis her die Prinzipienfestigkeit eines Menschen ebenso in Frage gestellt wie die Prinzipienlosigkeit, die Nachgiebigkeit gegenüber lockenden Angeboten aus der Umwelt, die Wünsche wachrufen.

LeerDie Prinzipienfestigkeit: Ist sie denn nicht nützlich und wertvoll? Brauchen wir nicht die Menschen, die nach festen Grundsätzen, nach klaren Regeln loben, so daß wir wissen, woran wir mit ihnen sind? Drückt das Wort „prinzipiell”, das im politischen Sprachgebrauch zwischen den Supermächten einen hohen Stellenwert hat, nicht Gradlinigkeit und „Berechenbarkeit” aus? Für ein gutes Zusammenleben ist es förderlich, wenn wir ungefähr wissen, wie andere reagieren, und wenn andere wissen, wie sie mit uns am besten zurechtkommen.

LeerWenn aber Zuverlässigkeit und Festigkeit in der Überzeugung wie im Verhalten zu der Starrheit werden, die in den unterschiedlichsten Situationen immer dasselbe Ergebnis hervorbringt, im Verhalten wie in der Meinung - dann ist die zuverlässige Festigkeit zur tötenden Prinzipienstarre geworden, und damit zum Götzen „Prinzip”, der für mich selbst zum unerbittlichen (d. h. sich nicht bitten lassenden) Gesetzgeber geworden ist, und der mich anderen gegenüber zum Richter macht, der Urteile in letzter Instanz fällt. Und aus Erfahrung wissen wir, wie schnell jemand als Gesetzestreuer zum unmenschlichen Fanatiker wird, der andere seinem eigenen Idol zum Opfer bringt und/oder seine eigene Lebendigkeit und Kreativität erstickt, wobei es dann keinen Unterschied macht, ob es sich um profane oder religiöse Belange handelte.

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LeerEben deshalb warnt der Väterspruch: „Werde für dich selbst nicht zum Gesetzgeber und anderen nicht zum Richter.” Diese Warnung ist keine Besserwisserei, sie geschieht vielmehr, weil Größeres angeboten wird und nicht verpaßt werden soll: Du stehst nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. Gottes Gnade schenkt dir das, was auf dem Weg starrer Prinzipientreue nicht erreichbar, aber vielleicht ersehnt ist: Leben, weiter Raum, Freiheit, in der du du selber sein kannst, statt daß du dich einschnüren lassen mußt von außen vorhandenen oder selbstgemachten Prinzipien. Gottes Gnade schafft dir Leben, Raum, Freiheit selbst dort, wo äußere Zwänge nicht veränderbar sind; du wirst die Freiheit der Kinder Gottes erfahren, die sich nicht versklavt fühlen, auch wenn die äußeren Bedingungen einengend bleiben.

LeerNun kann es sein, daß wir nicht so sehr dazu neigen, Gesetzgeber und Richter zu sein, sondern viel eher bereit sind für die lockenden Möglichkeiten, die das Leben bereithält, so daß unsere Wünsche wie Pilze aus der Erde schießen. Wem die Erfüllung solcher Wünsche in nicht aufhörender Folge zuteil wird, ist in Gefahr, „zu Fall gebracht” zu werden, statt daß der Blick auf Jesus Christus gerichtet bleibt. Aber auch das Entgegengesetzte treffen wir an: Wer Wünsche hatte (und Wünsche zu haben, ist ganz menschlich!) - im Materiellen, und noch mehr im Seelischen, in seinen Wünschen nach Zuwendung etwa, nach Nähe, nach Anerkennung - und dabei immer abgewiesen wurde, der wird in der Gefahr sein, seine Wünsche und Bedürfnisse nicht zurückstellen zu können - gerade weil sie nie in angemessenem Umfang Erfüllung gefunden haben und sich deshalb immer wieder in den Vordergrund drängen.

LeerWenn wir zu den Menschen gehören, die lieber das Angenehme suchen und dafür das Anstrengende meiden, dann sind wir im Blickfeld dieser beiden Sprüche. Wurde beim „prinzipiellen” Menschen vom ersten Spruch her die Befreiung durch die Gnade in die Mitte gerückt, so wird in den beiden anderen Sprüchen die Strenge der Nachfolge betont: Die negativen Folgen eines bestimmten Verhalten werden ausgesprochen. Im ersten Fall: Wer so „prinzipienlos” ist, daß er/sie immer dem Angenehmsten folgen möchte, statt auf die innere Stimme, auf die Stimme des Evangeliums zu hören, den werden die Annehmlichkeiten „niederziehen”; das heißt, er/sie wird im Sumpf der Konturlosigkeit versinken, statt einen Weg zu gehen, der ein Ziel hat.

LeerDamit unsere persönliche Gestalt der Gnade sich herausbildet, müssen wir auch Grenzen erfahren, Verzicht und Leiden annehmen. Und im anderen Fall, in dem wir abschneiden sollen, wodurch wir zu Fall gebracht werden könnten: In dieser Situation muten wir uns nicht zu, etwas auf uns zu nehmen, was uns Mühe machen oder gar Schmerz bereiten oder zum Verzicht nötigen könnte. Wenn wir mit dem Rauchen aufhören oder das Fernsehen einschränken oder das Alleinsein ertragen lernen sollten; wenn uns empfohlen wird, täglich zu beten oder in der Bibel zu lesen -wenn wir bei solchen Zumutungen anfangen, uns selber leid zu tun, daß wir dies oder jenes auf uns nehmen müssen: Dann sind wir zu dieser Zeit an diesem Punkt bereits zu Fall gebracht, das heißt, wir sind einer Aufgabe ausgewichen, die Gott uns gestellt hat.

LeerUnd diese Aufgabe könnte heißen: „Abschneiden”, loslassen, nicht aufnehmen, was als Möglichkeit (natürlich der „Bereicherung”!) lockt, weil die Überzeugung sich durchgesetzt hat: Wenn ich an der verlockenden Möglichkeit vorbeigehe, statt sie zu verwirklichen, bin ich gehorsam in der Nachfolge, gewinne ich Größeres, als das ist, was ich beiseite lasse, werde ich reicher in der Wahrheit - weil ich Gottes Willen für mich folge.

Quatember 1988, S. 143-145

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-30
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