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... ins Licht darf mein Lebensgeist schauen
von Heinz Grosch

Besinnung vor einem Bild von Roland P. Litzenburger
Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesus und sprachen: Wer ist doch der Größte im Himmelreich? Jesus rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.
Sehet zu, daß ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel. Denn des Menschen Sohn ist gekommen, selig zu machen, was verloren ist.
LeerAm Heiligen Abend 1987 starb in seinem Heim unweit des Bodensees der Maler, Graphiker und Bildhauer Roland Peter Litzenburger - ein Geplagter und ein Begnadeter zugleich, abgelehnt oder mindestens umstritten bei den einen (vor allem im Blick auf seine Christusdarstellungen) - ein Helfer zu neuem und vertieftem Glauben für viele andere. Am Tage vor Allerheiligen hatte er, schon vom Tode gezeichnet, seinen 70. Geburtstag begangen.

LeerDer EngelZu seinen älteren Arbeiten gehört die 1955 entstandene Zeichnung „Der Engel”. Andeutende Linien nur - wie hingeworfen - lassen eine Figur erkennen, die betend die Hände erhebt, lebendig und bewegt: dem entgegen, der vielleicht irgendwo über dem Bild, jedenfalls außerhalb des Abgebildeten oder sogar des Abbildbaren, seinen Ort hat. Das Gesicht des Engels aber, ein Menschengesicht mit übergroßen Augen, ist den Betrachtern, ist uns zugewandt. Diese großen Augen sind es, die unwillkürlich unsere Aufmerksamkeit erregen. Sie sind beide weit geöffnet, aber nur das eine Auge scheint wirklich zu schauen - nein: nur das eine schaut nach außen, zu uns her. Das andere scheint leer zu sein. Genauer: es sieht wohl nach innen, ist auf etwas oder auf jemanden gerichtet, der jenseits der Welt des Betrachters und jenseits des Bildes zu stehen scheint. Trotzdem schielt der Engel nicht. Er erweckt nicht den Eindruck eines gespaltenen Wesens. Vielmehr geht etwas Gesammeltes und Sammelndes von ihm aus - Gelassenheit, Ruhe, beinahe möchte ich sagen: Einfalt.

LeerDer Engel von R. P. Litzenburger hat etwas, was mir nicht gegeben ist. Die beiden Ebenen, die sich in ihm durchdringen (Nähe und Ferne, Außen und Innen), die beiden Blickrichtungen, die sich in seinem Gesicht verbinden (der Blick auf die Welt, auf die Menschen, auf den, der gerade vor mir steht, und der Blick auf Gott), fallen bei mir auseinander. Nur in ganz seltenen Augenblicken scheinen sie sich einmal zu berühren oder ineinander überzugehen. Und das schmerzt mich. Ich lebe nicht in der Einfalt und Klarheit des Glaubens, zu der etwa Jakobus am Anfang seines Briefes aufruft. Ich lebe nicht in der Einfalt, die Dietrich Bonhoeffer so beschreibt: „Der Einfältige gehört ganz allein Gottes Willen. Weil... (er) nicht neben Gott auch auf die Welt schielt, darum ist er imstande, frei und unbefangen auf die Wirklichkeit der Welt zu schauen ... (auf) die Wirklichkeit, wie sie ist... auf den Grund der Dinge ... (auf) die Wirklichkeit in Gott.”

LeerEs ist nur ein kleiner Trost, daß es gelegentlich den Jüngern nicht anders erging als mir oder manchem von uns. Auch für die Jünger schien wohl die Einfalt des Glaubens etwas sehr Schwieriges zu sein. Ihr Blick ist gefangen davon, wie es in der Welt zugeht, und das, was sie da sehen, vermischt sich auf seltsame Weise mit dem, was sie im Glauben zu leben versuchen: „Wer ist der Größte im Himmelreich?” Das ist eine Frage mit vielen Gesichtern, und wir kennen sie vielleicht alle, jeder auf seine Art. Ich weiß ja, daß Gott uns hält - aber ist es nicht doch notwendig, die richtigen Entscheidungen auch durchzusetzen? Ich vertraue ja dem Vater im Himmel - aber soll ich wirklich das Risiko eingehen, einmal mehr den kürzeren zu ziehen? Ich weiß ja, daß ER, der Herr, mich zu sich holt und mir seine Liebe schenkt (wie der Hirte dem verlorenen Tier seiner Herde) -, aber tue ich wirklich genug, um dessen würdig zu werden? Tue ich nicht genauso wenig wie die anderen neben mir? Und ich möchte doch eigentlich ein bißchen besser sein, es ein wenig besser und richtiger machen ... Wenn schon nicht der Größte und Beste (wir sind ja bescheiden), so doch etwas besser und richtiger Christ oder Theologe oder Prediger sein.

LeerDie Antwort Jesu an seine Jünger, vielleicht auch seine Antwort an uns, ist zunächst ein Appell, ein Aufruf. Es ist das schmerzhafte Wort: Kehrt um! Nur wenn ihr wie dieses Kind werdet (es spielte wohl in der Nähe, und nun hat ER es herbeigerufen) - nur wenn ihr wie dieses Kind werdet, wenn ihr „so klein sein könnt wie dieses Kind”, heißt es in der Einheitsübersetzung wenn ihr eure eigene Realität annehmt wie ein Kind (es kann oft noch nicht einmal selber die Tür öffnen, es kann nicht für sich sorgen, es muß darauf vertrauen, daß die anderen und Stärkeren seine Schwäche nicht mißbrauchen) - nur wenn ihr dies als eure Wirklichkeit annehmt, sagt Jesus, werdet ihr teilhaben an dem, was ich bringe: am Reich Gottes ...

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LeerAber die eigene Realität wahrzunehmen (im strengen Sinne des Wortes), die eigene Realität und die Realität der konkreten Welt, in der wir leben - das ist eine schwere Aufgabe. Und sie scheint mir auf einen gefährlich schmalen Pfad zu führen, auf einen Pfad, der uns in doppelter Weise zur Aufmerksamkeit zwingt. Allzu groß ist die Versuchung, immer wieder zu rebellieren gegen diese Realität und in kindlicher (nein, wir müssen wohl sagen: in kindischer) Ungeduld letztlich zu zerstören, was wir verändern wollten - oder aber: uns zu arrangieren mit dem Gegebenen und zum „braven” Kind zu werden, an dem nicht der himmlische Vater und seine Engel Freude haben, sondern diejenigen, die sich hier auf der Erde für die rechten Väter halten, für die scheinbar so Großen und Erwachsenen, für die vernünftigen und tüchtigen Realisten.

LeerKind-Sein im Sinne Jesu ist, wie das Kind-Sein überhaupt, keine Idylle. Und darum bin ich froh, daß Jesu Ruf zur Umkehr, zum Umdenken, noch eine Fortsetzung hat. „Ich sage euch”, fügt Jesus hinzu, „ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel...” Das ist ein tröstliches und stärkendes Bild. Die Kleinen (und diejenigen, die es riskieren, sich ihr Klein-Sein einzugestehen) dürfen eine Entdeckung machen: Sie sind nicht allein. Da ist so etwas wie eine Brücke zwischen ihnen und Ihm, dem Einzigen, in dem alles seinen Grund, seinen Ursprung und sein Ziel hat. Und diese Brücke ist der Engel. Der Engel, dessen geleitender Blick zugleich ganz auf Gott gerichtet ist. Der Engel, der - ins Gebet versunken - Gott zugewandt ist und doch mich ansieht.

LeerRoland Litzenburger hat einmal den Satz notiert: „Wer bin ich, wenn mich niemand anschaut?” (Dieses Wort wurde übrigens zum Titel des Bildbandes, der wenige Wochen vor dem Tod des Künstlers erschien.) Ich denke, der Vers aus Jesu Antwort an die Jünger - „Ihre Engel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel” - ist zugleich auch eine Antwort auf mein, auf unser ängstliches Fragen: „Wer sind wir, wenn uns niemand anschaut? Wer bin ich, wenn mich niemand anschaut?” Jesus spricht uns, wenn wir unser Klein-Sein akzeptieren, das Wort zu, das uns leben läßt: Eure Engel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel! Sie schlagen eine vom ewigen Leben durchpulste Brücke zwischen Ihm und euch ...

LeerDieses Trostwort Jesu ist auf eigentümliche Weise geöffnet, und zwar wiederum nach zwei Richtungen hin: zum einen auf den hin, der den Seinen zuruft: „Siehe, ich bin bei euch, alle Tage, bis an der Welt Ende” - und zum anderen auf die Menschen hin, die sich als Reben an IHM, dem Weinstock, als Glieder seines Leibes zu begreifen suchen.

LeerIm Bilde des Engels scheint ER selber auf - ER, der als guter Hirte auf uns sieht. Im Bilde des Engels entdecken wir aber zugleich einander - als die, die einander brauchen, und als diejenigen, die gebraucht/gerufen/herausgefordert werden: von IHM. Denn „wer ein solches Kind aufnimmt um meinetwillen, der nimmt mich auf”. Im Bilde des Engels scheint ER selbst auf, Christus, das Licht der Welt - die Ikone des Vaters -, aber er trägt die Züge derer, für die ER, Christus, in die Welt kam, die Züge des Bruders, der Schwester. Und Geschwister sind wir nicht kraft unseres eigenen Willens, auch nicht kraft unserer Glaubensentscheidung. Kein Kind kann sich seine Geschwister auswählen. Nein, Geschwister sind wir, weil wir um den Einen Vater wissen. ER läßt uns in Seinem Sohn erkennen, daß auch wir Seine Söhne und Töchter sind. Geschwister sind wir nach Jesu eigenem Wort dank der Leben weckenden Liebe des Vaters im Himmel: „Denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.”

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LeerMeine Hoffnung für mich selber an jedem ersten Tag der neuen Woche, meine Hoffnung und mein Wunsch für uns, die wir in der Eucharistie SEIN Kommen feiern: daß wir die Züge Christi und der Brüder und Schwestern im Antlitz des Engels - oder müßten wir sagen: die Züge des Engels, das Antlitz Christi in den Menschen neben uns? -, daß wir dieses Wunder immer neu sehen lernen. Solches Neu- und Wiedererkennen wird das eine Mal etwas Tiefbeglückendes sein. Wie ein Vorschein des Lichtes, auf das wir im Glauben zugehen. Es kann aber auch zu einem schweren und schmerzhaften Prozeß werden, zum Widerstreit „mit dem Boten, dem Engel Satans” (so drückt es das 12. Kapitel des zweiten Briefs an die Korinther aus).

LeerEs kann zu einem Kampf werden, in dem wir allein darauf zu hoffen haben, daß ER, der gegenwärtige Herr, auch uns das zuspricht, was er dem Paulus sagt: „Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit.” Über der Todesanzeige für Roland Peter Litzenburger stand der Satz eines alttestamentlichen Beters: „Ins Licht darf mein Lebensgeist schauen.” Das sind Worte aus dem Buche Hiob (Kap. 33) nach der Verdeutschung von Martin Buber. Als ich die Stelle aufschlug, entdeckte ich, daß auch da wieder vom Engel die Rede ist. Luther übersetzt:

LeerIm Traum, im Nachtgesicht, wenn der Schlaf auf die Menschen fällt, wenn sie schlafen auf dem Bett, da öffnet er das Ohr der Menschen und schreckt sie auf und warnt sie, damit er den Menschen von seinem Vorhaben abwende und von ihm die Hoffart tilge und bewahre seine Seele vor dem Verderben und sein Leben vor des Todes Geschoß. Kommt dann zu ihm ein Engel, ein Mittler, einer aus tausend, kundzutun dem Menschen, was für ihn recht ist, so wird er ihm gnädig sein und sagen: „Erlöse ihn, daß er nicht hinunterfahre zu den Toten; denn ich habe ein Lösegeld gefunden. Sein Fleisch blühe wieder wie in der Jugend, und er soll wieder jung werden.” Er wird Gott bitten, und der wird ihm Gnade erweisen und wird ihn sein Antlitz sehen lassen mit Freuden und wird dem Menschen seine Gerechtigkeit zurückgeben. Er wird vor den Leuten lobsingen und sagen: „Ich hatte gesündigt und das Recht verkehrt, aber es ist mir nicht vergolten worden. Gott hat mich erlöst, daß ich nicht hinfahre zu den Toten, sondern mein Leben das Licht sieht.”
INS LICHT DARF MEIN LEBENSGEIST SCHAUEN

HERR, schenke uns, daß wir DEIN Licht sehen:
daß wir die Welt erkennen in DEINEM Licht,
daß wir einander erkennen in DEINEM Licht.

HERR, schenke uns, daß wir DEIN Licht sehen:
daß wir DICH erkennen im Antlitz DEINER Boten,
daß wir DICH erkennen in der Schwester, im Bruder.

HERR, schenke uns, daß wir DEIN Licht sehen:
auf daß wir DICH preisen mit den Engeln und Heiligen,
mit DEINER ganzen Schöpfung,
mit allen, die DU in DEIN Leben rufst.
Quatember 1988, S. 189-194

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-12
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