|
von Wolfgang Klinge |
Lied Nr. 159 des Evangelischen Kirchengesangbuches gehört wohl mit zu den bekanntesten und häufig gesungenen Liedern. Daß es aber gekürzt und bearbeitet worden ist, wissen wohl die wenigsten. Auf diesen Hinweis stieß ich beim Durchblättern des Handbuches zum EKG von Kulp und machte mich auf die Suche nach dem ursprünglichen Text. Ich habe ihn dann in meiner Gesangbuchsammlung gefunden. Er folgt gemeinsam mit dem veränderten Text aus dem EKG:
Es wäre sicher interessant zu wissen, wie es zu dieser Textveränderung kam, und wer diese vorgenommen hat. Die in meinem Besitz befindlichen Gesangbücher lassen da keine Rückschlüsse zu. Wer das Lied in seiner vollen Länge liest, wird eine Reihe sehr unterschiedlicher Beobachtungen machen. Da ist zunächst die lehrhafte Dichtung des frommen Rationalisten Johann Andreas Cramer. Man spürt beim Lesen den erhobenen Zeigefinger. Cramer vereinigt eine Reihe dogmatischer Einzelgesichtspunkte unter der Thematik des Heiligen Mahles, ein Gedankengang aber eilt den späteren theologischen Entwicklungen weit voraus. Die ökumenische Weite des Liedes ist unübersehbar. Was er in der fünften Strophe beklagt, ist heute als Skandalon erst richtig in das Bewußtsein der Konfessionen geraten, nämlich daß der Streit um „mehr Erkenntnis” Menschen trennt, wo sie doch das gemeinsame Bekenntnis eint, eine Trennung auch beim Heiligen Mahl. Dabei spielt für ihn offensichtlich Röm. 15, 1f. als „ökumenisches” Argument eine wichtige Rolle. Wie weit Gramer in seinem eigenen Leben und theologischen Denken ökumenisch zu bezeichnen ist, konnte ich leider nicht klären, und ebensowenig, was sein ökumenischer Ansatz, der in diesem Lied deutlich wird, seinerzeit bewirkt hat. Man mag es kritisch sehen, daß Gramer die Frage nach der Wahrheit in der achten Strophe „ganz im Sinne der Lessingschen Ringparabel mit der Relativierung der religiösen Wahrheit” beantwortet (so Köhler, S. 274). Immerhin haben die letzten Jahrzehnte ökumenischer Arbeit gezeigt, daß die Frage nach der Wahrheit des Glaubens sehr viel differenzierter ist und mit einer einstufigen Logik - wahr oder falsch, ein drittes gibt es nicht - nicht beantwortet wird. Das Bild der aufgehenden Sonne, die erst am Mittag richtig strahlt, relativiert weniger eine relative religiöse Wahrheit, sondern hat viel eher eine wachsende Erkenntnis im Glauben im Sinn, wobei, und das ist ein Tenor des ganzen Liedes, der in der Erkenntnis weiter Vorangeschrittene eben „des Schwachen schont”. Das Urteil von Kulp trifft zu: „Durch kleine Änderungen im Wortlaut ist zwar ein nicht bedeutendes, aber ansprechendes Lied entstanden, das den in vielen Abendmahlsliedern schmerzlich vermißten Gedanken von der brüderlichen Gemeinschaft der Glieder am Leibe des Herrn besingt und das letzte große Ziel „Eine Herde und ein Hirt" ins Auge faßt” (S. 247). Festzuhalten wäre, daß ausgerechnet ein Rationalist den Gedanken der communio, der Einheit am Tisch des Herrn aufnimmt, wo doch ein rational-moralischer Appell gegen sittliche Laxheit näher gelegen hätte. Denn das ist ja eine der Konfliktebenen, auf die sich Cramer als Hofprediger in Kopenhagen eingelassen hatte. Vielleicht ist hier die Stärke und der Beitrag eines, wenn auch frommen, Rationalismus für unseren Glauben, daß er solche Fragestellungen aufnehmen kann und so ein Stück biblischer Wahrheit sichtbar macht, die anderswo verlorengegangen wäre. An dieser Stelle lohnt sich die Auseinandersetzung wirklich. Literatur: Evangelisches Kirchengesangbuch, Ausgabe für die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, Hamburg 39 1976 Allgemeines Gesangbuch für Schleswig-Holstein, o. J. Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch Bd. II/2, Rudolf Köhler, Die biblischen Quellen der Lieder, Göttingen 1965, zit: Köhler Handbuch zum EKG/Sonderband: Kulp/Büchner/Fornagon, Die Lieder unserer Kirche, Göttingen 1958, zit.: Kulp Quatember 1989, S. 16-18 [In EG 221 sind weitere Änderungen vorgenommen, hier die Gegenüberstellung EKG und EG:
|
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-04-23 Haftungsausschluss |