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Die Frage nach dem wiederholten Erdenleben
von Adolf Köberle

LeerWer über die religiöse Lage der Gegenwart Bescheid weiß, dem muß auffallen, daß die Anhängerschaft der Wiederverkörperung ständig im Wachsen begriffen ist. Die Überzeugung, daß das gegenwärtige Dasein nicht das erste und nicht das letzte Leben ist, wird begünstigt durch den Einstrom ostasiatischer Religionen in das Abendland. Die Parapsychologie beschäftigt sich nicht nur mit den geheimnisvollen Kräften der immanenten Seele, sie zieht auch die Existenz nach dem Tod in ihren Forschungsbereich mit ein und schafft dadurch Raum für die Denkmöglichkeit einer Wiederkehr. Anthroposophie und „Christengemeinschaft” bekennen sich gleichermaßen zu der Überzeugung von einem wiederholten Erdenleben. Die New-Age-Welle hat in ihrem breitgefächerten Synkretismus auch die Seelenwanderung mit aufgenommen. Neben den organisierten Gruppen steht ein Heer von Gleichgesinnten, die von der Gewißheit erfüllt sind: Wir leben nicht nur einmal. Sie berufen sich auf eine Vielzahl großer Dichter und Denker in Vergangenheit und Gegenwart.

LeerDer Glaube an die Seelenwanderung und die christliche Zukunftserwartung haben eines miteinander gemeinsam. Sie sind beide von der Gewißheit durchdrungen: Es ist in alle Ewigkeit nicht gleichgültig, was wir aus unserem Leben machen, was wir in die jenseitige Welt mit hinübernehmen. Wenn wir uns vor Augen halten, wie oberflächlich, rein diesseits orientiert, wie sinnengierig, geld- und machthungrig die Mehrzahl aller Menschen dahinlebt, dann erscheinen Reinkarnation und christlicher Glaube wie zwei Geschwister, die nebeneinander zu stehen kommen. Beide sind von der Gültigkeit des biblischen Wortes durchdrungen: „Irret Euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten; denn was der Mensch sät, das wird er ernten.” (Gal. 6,7) Der Zusammenhang von Anfang und Ende wirkt sich nicht nur im irdischen Zeitverlauf aus, er gilt auch im Hinblick auf das Leben nach dem Tod.

LeerDie Gemeinschaft mit Christus, die der Tod nicht aufzuheben vermag, ist nach christlicher Überzeugung ein reines Gnadengeschenk. Der protestantische Mensch aber vergißt darüber allzu leicht, daß wir alle auch mit einem Gericht nach den Werken zu rechnen haben. Darum können wir nichts Besseres tun, als jetzt schon allem ungöttlichen Wesen den Kampf anzusagen. Alles, was wir uns an Reinigung und Beschneidung des alten Wesens gefallen lassen, das braucht uns in der jenseitigen Welt nicht mehr abgenommen zu werden. Und alles, was wir an Habgier und Hochmut festhalten, wird uns dann unter tausend Schmerzen ausgebrannt werden. Paulus macht auf diesen Zusammenhang ausdrücklich aufmerksam, wenn er an die Korinther schreibt: „Wenn wir uns selbst richteten, so würden wir nicht gerichtet.” (1. Kor. 11,31)

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LeerWer sich zur Reinkarnation bekennt, sieht sein Leben in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unter die Herrschaft des Karma gestellt. Karma bedeutet den Gesamtinhalt eines Lebens in Gedanken, Worten und Werken. Es gibt gutes und schlechtes Karma. Es kann beim Vorgang der Wiederverkörperung zu Aufstieg oder Abstieg kommen. Wer davon durchdrungen ist, wird an sich selbst arbeiten, er wird bemüht sein, anderen beizustehen, die mit einer leidvollen Schicksalslast ihren Weg gehen müssen. Weil die Anthroposophie die Reinkarnation in ihre kosmische Erlösungsschau miteingebaut hat, sind die in ihrem Geist geleiteten Heilstätten für geistigbehinderte Kinder mit Recht berühmt. Undenkbar ist gleichfalls, daß in einer in diesem Geist geführten Ehe die Abtreibung als Mittel der Geburtenregelung in Anwendung kommt. Denn hat eine präexistente Seele beschlossen, sich in einem irdischen Leib aufs neue zu inkarnieren, dann muß es als eine Grausamkeit erscheinen, ein solches Wesen alsbald in eine unbekannte Transzendenz zurückzustoßen.

LeerBei aller Gemeinschaft im ethischen Idealismus bleibt die Frage ungelöst und unbeantwortet: Wird die karmische Veredelung durch Arbeit am Charakter, durch Samaritertätigkeit an zurückgebliebenen Geschöpfen jemals einen solchen Grad von Vollkommenheit erreichen, daß sich die Tür in das Nirwana, in das Reich des Lichtes und des Friedens auftut? Wie steht es mit dem Freigewordensein von Selbstliebe, Selbstgefälligkeit, Eitelkeit, Ehrgeiz und Neid? Wer bei Paulus und Augustin, bei Pascal und Kierkegaard in die Schule gegangen ist, der weiß: Die Wurzel des radikal Bösen gehört zur Grundstruktur eines jeden Menschen, der geboren wird. Das Leben verstrickt uns alle jedes Mal aufs neue in Schuld, Schwäche und Niederlagen. Niemals sind wir nur Sieger im Kampf gegen die Trägheit. Wie können Müdigkeit und Traurigkeit die Seele in den hohen Lebensjahren belasten! So wird die sittliche Arbeit im Streben nach oben nie an ein Ende kommen. Ist es darum nicht besser, wir gründen unser ewiges Heil auf das Erbarmen Gottes, das uns Jesus Christus verbürgt und besiegelt hat?

LeerWeil der Seelenwanderungsglaube in unseren Tagen auch unter praktizierenden evangelischen und katholischen Christen zusehends an Anhängerschaft gewinnt, ist es verständlich, daß das Verlangen besteht, diese Überzeugung in der Bibel und in der Geschichte der christlichen Kirche bestätigt zu finden. Wie verhält es sich damit? Lehren Altes und Neues Testament die Wiederverkörperung? Hat die Kirche in ihrer Frühzeit sie bejaht und ist das Wissen darum erst im Lauf der Zeit in Vergessenheit geraten oder gar bekämpft worden?

LeerWas das Alte Testament betrifft, so gibt selbst ein Rudolf Frieling, der Nachfolger von Rittelmeyer und Bock in der Leitung der „Christengemeinschaft” zu: „Im Alten Testament ist vom wiederholten Erdenleben so gut wie gar nicht die Rede.” Die einzige Stelle, die man dafür anführen könnte, wäre der 90. Psalm, wenn es (nach der Übersetzung von Martin Luther) in der Hinwendung zu Gott heißt: „Der Du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder.” Doch der hebräische Urtext erlaubt nur die einzig richtige Übersetzung „Ihr Menschenkinder, kehrt zurück zum Staub der Erde, davon Ihr genommen seid.” Es geht hier allein darum, Gottes Ewigkeit und des Menschen Vergänglichkeit einander gegenüberzustellen.

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LeerDagegen finden sich im Neuen Testament zwei Stellen, die bei jeder Diskussion um unser Thema von den Anhängern der Wiederverkörperung regelmäßig als Beweis vorgebracht werden. Es ist das Wort Jesu über den Täufer Johannes und die Frage der Jünger nach dem Schicksal des Blindgeborenen.

LeerNach der Verheißung des Propheten Maleachi (3,23) soll Elias wiederkommen als Vorläufer des Messias. Die Stelle heißt wörtlich: „Siehe, ich will Euch senden den Propheten Elia, ehe der große und schreckliche Tag des Herrn kommt.” Im Matthäus-Evangelium lesen wir: „Und seine Jünger fragten ihn: Was sagen denn die Schriftgelehrten, zuvor müsse Elia kommen. Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Elia soll freilich kommen und alles zu recht bringen. Doch ich sage Euch, Elia ist schon gekommen, aber sie haben ihn nicht erkannt, sondern mit ihm getrieben, was sie wollten. So wird auch des Menschen Sohn leiden müssen von ihnen. Da verstanden die Jünger, daß er von Johannes dem Täufer zu ihnen geredet hatte.” Wir müssen aus dem Lukas-Evangelium den Bericht hinzunehmen, wo der Engel zu dem Vater Zacharias spricht: „Dein Kind Johannes wird in Geist und Kraft des Elia dem Herrn vorangehen.” Der Sinn dieser Aussage ist: Der Vorläufer des Messias wird mit der gleichen Vollmacht ausgerüstet sein, die einst einem Elia für seine Zeit von Gott verliehen war.

LeerWenn unsere Politiker in der Bundesrepublik nicht mehr weiter wissen, dann kann man sie, je nach ihrer parteilichen Zugehörigkeit, gelegentlich seufzen hören: Einen Bismarck, einen Konrad Adenauer, einen Kurt Schumacher sollten wir wieder haben! Dabei denkt niemand an deren Wiederverkörperung, wohl aber an Gestalten, die den Genannten an Geist und Kraft ebenbürtig sein sollten. Aber auch wenn wir gelten lassen, daß in dem Täufer Johannes eine Wiederverkörperung des Propheten Elia geschah, so handelt es sich dabei um ein einmaliges Ereignis in der göttlichen Heilsgeschichte, zu dessen Vollzug Gott jederzeit die Freiheit hat, und noch lange nicht um eine Begründung der Wiederverkörperung für jedermann. Ausdrücklich dagegen spricht schließlich ein Wort aus dem Johannes-Evangelium. Auf die Frage, die die Abgesandten aus Jerusalem an ihn richten: „Bist Du der Elia, gibt er die Antwort: Nein, ich bin es nicht”. (1,21)

LeerAngesichts des Blindgeborenen Joh. 9) fragen die Jünger ihren Meister: „Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist?” Die Frage nach der Schuld der Eltern gibt kein Problem auf. Wenn sich ein Mann eine Syphilis geholt und beim Verkehr seine Frau angesteckt hat, dann kann ein blindgeborenes Kind die Folge sein. Die leidvollen Erbzusammenhänge waren damals schon den Menschen bekannt, daß die Sünden der Väter an den Kindern heimgesucht werden bis ins dritte Glied. Wenn aber nach der Frage der Jünger der Blindgeborene die Schuld selbst verursacht haben kann, dann wäre das in der Tat nur mit Hilfe von Karma und Wiederverkörperung erklärbar. Hellenistisches Gedankengut war dem damaligen Judentum nicht fremd. Wenn man sich auch seit der Zeit der Makkabäerkämpfe leidenschaftlich gegen das Eindringen eines orientalischen Synkretismus wehrte, die platonische Lehre von der Seelenwanderung lag gleichwohl in der Luft und kann den Jüngern vertraut gewesen sein.

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LeerAber wie lautet die Antwort Jesu angesichts des Blindgeborenen: „Er hat so wenig gesündigt wie seine Eltern, sondern damit die Werke Gottes an ihm offenbar würden.” Jesus lehnt also jede karmische Erklärung eindeutig ab, und er gibt der Fragestellung der Jünger eine völlig neue Wendung. Dieses arme Leben soll dazu dienen, daß an ihm etwas zum Aufleuchten kommt von der Wundermacht, die Gott ihm verliehen hat. Man könnte sagen: Dieses Gespräch war die Geburtsstunde der christlichen Caritas und Diakonie. Uns wird damit nahegelegt: Verzichtet auf alle verrechnende Grübelei! Hütet euch vor allen moralischen Zensuren! Fragt lieber, wie kann geholfen werden im Blick auf das Elend, das uns begegnet.”

LeerWenn schon der Hinweis auf den wiederkommenden Elia und auf den Blindgeborenen nicht zu überzeugen vermag, dann sollte uns eine andere Erwägung noch mehr zu denken geben.

LeerZahlreiche Untersuchungen zur Geschichte des Urchristentums haben den Nachweis erbracht: Die Umwelt Jesu und der Apostel war keineswegs religionslos. Im Gegenteil, sie war ungeheuer reich an religiösen Angeboten. Immer und überall aber stand dabei die Erfüllung sittlicher Forderung und Leistung an erster Stelle. Der Mensch muß sich plagen und anstrengen. Er muß sich ethisch emporarbeiten. Dann, wenn er in der Richtung genug eingesetzt hat, kann es geschehen, daß Gott ihn gelten läßt und ihm Anteil gibt an seiner Gemeinschaft. Demgegenüber ist das eigentlich Umstürzende im Evangelium die grundlose, bedingungslose Liebe Jesu zu den Verlorenen und Gefallenen, zu den Unwürdigen und Schuldiggewordenen. In den Worten und Taten Jesu erscheint eine gnadenhafte Liebeszuwendung zu aller gequälten Kreatur von irrationaler Art. Es gibt dazu in der ganzen Religionsgeschichte keine Parallele. Vor allem sollten wir uns klarmachen: Eben wegen dieser Hingabe an die von ihrer Umwelt Geächteten mußte Jesus den Weg an das Kreuz gehen. Hätte er die sittlichen Forderungen der Pharisäer noch überboten, man hätte ihn ob einer solchen rigorosen Steigerung bestaunt und bewundert. Daß er den Gefallenen gut war, das war unerträglich, das mußte das ganze religiöse Verrechnungssystem sprengen, darum mußte er beseitigt werden.

LeerDie Gleichnisse Jesu sind voll von dem Paradox, daß Gott uns nicht nach unseren Taten vergilt, daß er sich vielmehr wie ein Vater über Kinder erbarmt. Dem unwürdigen Sohn wird bei der Heimkehr in das Vaterhaus ein Festmahl bereitet. Von dem ungetreuen Verwalter heißt es: „Da jammerte es den Herrn des Knechtes und er ließ ihn los und die Schuld erließ er ihm auch.” Der Urklang des Evangeliums ist die Botschaft von der vergebenden Liebe Gottes. Das Karma lehrt: Niemand kann uns von den Folgen unseres Tuns befreien. Niemand nimmt uns diese Kette ab. Christus dagegen spricht: Du darfst kommen, wie du bist und „Wer zu mir kommt, den will ich nicht hinausstoßen.” Auch der Schacher am Kreuz mit seinem verderbten Leben wird nicht abgewiesen, wie er sich vertrauensvoll an Jesus wendet mit der Bitte: „Gedenke, Herr, meiner, wenn Du in Dein Reich kommst.” Man kann nicht gut beides auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Man muß sich hier schon entscheiden, auf welchen Weg man sich verlassen will.

LeerAls ein Hauptargument wird von den Anhängern der Wiederverkörperung geltend gemacht, das Wissen darum sei im Judentum zur Zeit Jesu so allgemein bekannt, so selbstverständlich gewesen, daß sich eine besondere Erwähnung nicht lohnte.

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LeerDie Verfasser der biblischen Schriften hätten darum verzichtet, darauf einzugehen. Es sei dagegen eingewendet: Wären Jesus, Propheten und Apostel von der Allgemeingültigkeit der Seelenwanderung durchdrungen gewesen, dann hätten sie von einem so weittragenden Tatbestand gewiß nicht geschwiegen. Alle wesentlichen Dinge, die das menschliche Dasein betreffen, finden sich in der Bibel vielfältig zur Sprache gebracht: Geburt und Tod, Gesundheit und Krankheit, Mann und Frau, Eltern und Kinder, Volk und Staat, Freund und Feind, Krieg und Frieden, Glück und Leid, Schuld und Vergebung. Wie will man erklären, daß ausgerechnet der für das menschliche Leben bedeutsamste Ablauf mit keinem Wort erwähnt wird?

LeerNoch weniger überzeugend erscheint der Hinweis auf Johannes 16,12, wenn Christus spricht: „Ich habe Euch noch viel zu sagen, aber Ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird Euch in alle Wahrheit einführen.” Bei diesem Hinweis soll Jesus an die Botschaft von der Wiederverkörperung gedacht haben. Sie sollte einer späteren Geistoffenbarung vorbehalten bleiben, weil die Menschen damals dafür noch nicht reif genug gewesen waren. Wer sich in der Kirchengeschichte der Vergangenheit und Gegenwart ein wenig auskennt, weiß: Mit dem Hinweis auf diese Stelle ist schon namenloser Unfug getrieben worden.

LeerUnd wie steht es mit der Behauptung, die Seelenwanderung sei jahrhundertelang in der Kirche gelehrt worden, erst auf dem ökumenischen Konzil in Konstantinopel im Jahr 553 sei diese Lehre verdammt worden und seitdem aus dem Bewußtsein der Christenheit verschwunden? Als ein überzeugter Schüler von Platon hat der große alexandrinische Theologe Origenes (gestorben 524) in der Tat die Seelenwanderung vertreten. Schon er versuchte, die schreienden Ungerechtigkeiten im menschlichen Schicksal zu erklären als Vergeltung für ein früheres Fehlverhalten der Seele. Schon zu Lebzeiten von Origenes und in steigendem Maß nach seinem Tod meldeten sich zahlreiche Stimmen, die dem alexandrinischen Kirchenlehrer eine Vielzahl von häretischen Irrtümern vorwarfen. Unter diesen befand sich auch die Lehre von der Seelenwanderung. Unter dem byzantinischen Kaiser Justinian wurde die Liste der Verurteilungen auf dem Konzil dann von allen Bischöfen unterschrieben.

LeerAls wichtigste Begründung wird von den Anhängern der Wiederverkörperung seit jeher darauf hingewiesen, allein mit dieser Schau sei es möglich, ein leidvolles Leben zu bewältigen. Es gilt einzusehen, daß man sich ein schweres Geschick in einem vorangegangenen Dasein selbst zubereitet hat durch die Art und Weise, wie man gelebt hat, vielleicht selbstsüchtig, lieblos, gehässig. Zum Ausgleich muß dafür in der jetzigen Existenz gebüßt werden, indem man sich angewiesen findet auf den Empfang von Freundlichkeit und Liebe, Eigenschaften, die man bislang versäumt hatte. Und ebenso soll es möglich sein, durch eine zuchtvolle und wohltätige Lebensführung im Heute für die nächstfolgende Inkarnation schon verheißungsvolle Voraussetzungen zu schaffen.

LeerDer durch seine Publizistik weit über München hinaus bekanntgewordene Thorwald Dethlefsen hat sich auch in seiner neuesten Veröffentlichung (Das Erlebnis der Wiedergeburt, München 1976) zu diesen Gleichsetzungen erneut bekannt: „Das Schicksal des Lebens ist eine Resultante (Ergebnis, d. Red.) der bisherigen Lebenskette. Jeder durchläuft zur Zeit gerade die Probleme, die er in der Vergangenheit noch nicht durch bewußtes Lernen bewältigt hat, und er wird auch in Zukunft noch so lange mit ein und demselben Problem konfrontiert werden, bis er es für sich gelöst hat.”

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LeerFür eine Elite von vitalen, hochbegabten, erfolgreichen, wirtschaftlich glänzend gestellten Männern und Frauen mag das Leben nach einem mehrfachen Da capo verlangen. Sie mögen mit Goethe (in einem Gespräch mit Falk) ausrufen: „Ich bin gewiß, so wie Sie mich hier sehen, schon tausendmal dagewesen, und ich hoffe, noch tausendmal wiederzukehren.” Die Mehrzahl aller Menschen kann eine solche Vision nur mit Schaudern und Entsetzen erfüllen. Der Gedanke, noch ungezählte Male wiederkommen zu müssen, ist alles andere als eine beglückende Vorstellung. Es drängt sich einem die Erwägung auf: Ist die ständig wachsende Sympathie für die Seelenwanderung nicht eine späte Nachblüte des modernen Fortschrittglaubens, der für uns inzwischen doch längst gründlich zerbrochen ist? Kommt die indische Seele der Wahrheit nicht näher, die unter dem Gesetz der Wiedergeburt leidet und das Stillstehen des Rades heiß ersehnt?

LeerDer christliche Glaube, vor das Warum schwerer Schicksalsführungen gestellt, beugt sich in Ehrfurcht vor dem Geheimnis rätselhafter Lebensabläufe. Der Glaube spricht: „Fürwahr Du bist ein verborgener Gott und hast gesagt, Du wollest im Dunklen wohnen.” Das 11. Kapitel des Römerbriefes schließt mit den Worten: „Wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?” Es kommt keiner von uns aus der Ratsstube Gottes, daß er all diese Fragen beantworten könnte. „Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!” Dazu hilft der Blick auf den Gekreuzigten, der, noch dazu in unschuldiger Betroffenheit, an Gott nicht irre geworden ist, sondern an Gott unerschütterlich festgehalten hat.

LeerEs ist ernstlich zu fragen: Ist ein solches Verstummen und Stillehalten nicht ratsamer und hilfreicher, als die abgründigen Nöte der Welt mit dem Hinweis auf Karma und Wiederverkörperung erklären zu wollen? Wenn bei dem Untergang der Titanic mehr als 1000 Menschen in den Sturmfluten des Meeres ertranken, wenn bei dem Feuerüberfall auf Dresden in einer Nacht 35000 Menschen bei lebendigem Leib verbrannten, ohne Unterschied von Alter, Stand und Lebenstüchtigkeit, wenn in Stalingrad 180000 deutsche Soldaten in russische Gefangenschaft gerieten und nur 6000 die Heimat wiedersahen, wenn ein Erdbeben in Armenien kurz vor Weihnachten 1988 mehr als 50000 Menschen in den Tod reißt, wer wollte es wagen, Katastrophen von solch entsetzlichem Ausmaß mit Hilfe von Reinkarnation und Karma zu enträtseln?

LeerDas von Lessing erstmals aufgestellte und von der Neuzeit begeistert aufgegriffene Wunschdenken, ein einmaliges Leben könne niemals genügen, um die Fülle des Daseins in sich aufzunehmen, bedarf noch einer besonderen Antwort. In der Tat, wie eng begrenzt ist der Horizont eines jeden Menschen, selbst wenn er vom Glück und Erfolg begünstigt ist! Von der Überzahl der im Leben Zukurzgekommenen ganz zu schweigen! Wir sind alle in eine schmale Spur hineingebannt, in ein Geschlecht, in ein Volk, in eine Sprache, in eine Begabung, in einen Beruf. Wie viel bleibt infolgedessen liegen, was uns niemals zuteil wird! Was weiß ein deutscher Mensch von der spanischen, von der russischen Seele? Wie trennen die Gegensätze von Nord und Süd, von Ost und West die Völker voneinander! Die Reinkarnation soll diesen Mangel, unter dem wir alle schon gelitten haben, durch zusätzliche Erlebnismöglichkeiten in kommenden Daseinsformen ausgleichen.

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LeerAuch dem christlichen Glauben ist das Fragwürdige unserer irdischen Einschränkung durchaus vertraut. Jeder Gelehrte, jeder Künstler weiß: Man muß vieles sterben lassen in seinem Leben, auch Begehrenswertes und Bereicherndes, um an einer Stelle Tüchtiges zu leisten. Der christliche Glaube sucht die Antwort auf diesen Verzicht nicht in der Wiederverkörperung, sondern in den Worten Christi: Sei nur im Geringsten treu, bewähre Dich auf dem begrenzten Feld, das Dir zugeordnet wurde, dann gilt Dir die Verheißung: „Ei, Du frommer und getreuer Knecht, Du bist über wenigem getreu gewesen, ich will Dich über viel setzen.” Die Ewigkeit wird Raum und Möglichkeit genug geben, um in die Geheimnisse der Seele, der Natur, der Geschichte, auch in die Rätsel der eigenen Lebensgeschichte Einblick und Durchblick zu erlangen. Sub specie aeternitatis (im Angesicht der Ewigkeit, d. Red.) wird sich vieles lösen, was wir jetzt noch nicht zu verstehen vermögen.

LeerDer fromme Jude liest seine Bibel bekanntlich von rückwärts nach vorwärts. Was bei uns in einem Buch die Seite 300 ist, ist in der jüdischen Bibel die Seite 1 und umgekehrt. In Anspielung auf dieses Zurückblättern hat Martin Luther gesagt: „Gottes Wege mit uns sind wie ein hebräisch Buch, man kann sie nur von rückwärts lesen.” Gelegentlich dürfen wir jetzt schon in dieser Weltzeit rückblickend manches verstehen, begreifen und bejahen. Aber es ist auch zuzugeben: Es gibt Rätsel und Abgründe, die uns in dieser Weltzeit verschlossen bleiben. Wir werden sie nur von rückwärts lesen können, wenn wir den Standort der Ewigkeit erreicht haben.

LeerWenn Gott der Herr ist über alle Kräfte und Gewalten im Himmel und auf Erden, dann steht es durchaus in seiner Freiheit und Vollmacht, ein verstorbenes Leben zu neuem Auftrag auf die Erde zu schicken. Wer sind wir, daß wir es Ihm wehren könnten! Friedrich Rittelmeyer rechnete mit der Möglichkeit, daß eine verstorbene Seele Gott bittet: „Laß mich noch einmal wiederkommen, damit ich das nächste Mal besser lieben und dienen kann als zuvor!” Aber aus solchem Wunschdenken eine allgemeine Seelenwanderung abzuleiten, ist deswegen noch lange nicht gegeben.

Quatember 1989, S. 70-77

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-23
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