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Apostolischer Glaube heute
Ruf zur Umkehr unter den Zeichen der Zeit
Überlegungen zum Thema Arbeit und Freizeit

von Günter Bransch

Vortrag beim Gesamtkonvent der Evangelischen Michaelsbruderschaft in Hannover am 8. Oktober 1988

I. Standortbestimmungen

Leer„Dieser auf der Welt liegende Fluch kann unter der Wirkung bestimmter Entwicklungen an der menschlichen Arbeit so einseitig und furchtbar in die Erscheinung treten, daß dahinter der von der göttlichen Bestimmung des Menschen zeugende Symbolcharakter der Arbeit gänzlich verschwindet. Dann wird die Arbeit sinnlos, oder vielmehr sie vermag nunmehr von einem unbegreiflichen und unentrinnbaren Fluch zu zeugen und damit Verzweiflung zu erwecken. Darum sind alle Ausbrüche eines leidenschaftlichen Hasses gegen die Tyrannei der Arbeit und gegen ihre vermeintlichen Träger ein letztes Sichwehren gegen die brutale Sinnlosigkeit des Lebens und damit auch Ausdruck eines unzerstörbaren Glaubens, daß es einen Sinn der Arbeit geben müsse. Von diesem Sinn der Arbeit kann nicht geredet werden ohne den leidenschaftlichen Willen, die gegenwärtige Gestalt des Arbeitsschicksals zu überwinden; nicht mit der Absicht, einen utopischen Zustand zu schaffen, in dem die Arbeit „Freude” ist, wohl aber mit der Absicht und der Hoffnung, daß die Arbeit erlebt und geleistet werde als ein Gleichnis für die Berufung des Menschen, in der Welt der Endlichkeit von seiner unendlichen Bestimmung zu zeugen.”

Berneuchener Buch S. 177 f.

Leer1. Sieht man einmal von dem leidenschaftlichen Pathos ab und der spätromantischen Metaphysik - in der Welt der Endlichkeit von seiner unendlichen Bestimmung zu zeugen - und drückt den gemeinten Sachverhalt aus als des Menschen Berufung zum Reich Gottes, so ist das, was das Berneuchener Buch vor nunmehr über 60 Jahren formulierte - übrigens das ganze Kapitel über die Arbeit - noch heute im wesentlichen nicht überholt und die darin angedeutete Aufgabenstellung nicht erledigt, eher dringlicher geworden.

LeerEs entspricht also bruderschaftlicher Kontinuität, wenn wir heute nach der Arbeitswelt als Handlungsfeld des christlichen Glaubens und der christlichen Gemeinde fragen.

LeerEines zweiten Sachverhalts ist einleitend noch andeutungsweise Rechnung zu tragen: der Entdeckung, daß die Grundfragen und Grundprobleme der Zeit grenzüberschreitend sind, sowohl im geographischen als auch im ideologischen Sinne.

LeerUnabhängig von den Eigentumsstrukturen, von den Orientierungsmodellen kapitalistischer oder sozialistischer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen, stellen sich die Fragen nach Sinn und Wert der Arbeit, Ziel und Folgen moderner Produktivität, Humanisierung der Arbeitswelt, Arbeitsklima und Arbeitsverteilung, aber auch nach Sinn und Wert der Freizeit, ihrer Ziele und Folgen, ihrer Integration in das individuelle und gesellschaftliche Leben prinzipiell gleich, unbeschadet der Systemunterschiede.

LeerDas schafft die Möglichkeit, daß die christliche Gemeinde in der ihr gegebenen geistlichen Einheit in der einen Welt auch ihr gemeinsames Zeugnis und ihren gemeinsamen Dienst auszurichten vermag. Die Hoffnung ist, daß im konziliaren Prozeß erstmalig solch eine Möglichkeit ergriffen wird. Auf unser Thema eingegrenzt, sagt dies, daß wir uns in beiden Bereichen auf einem gemeinsamen gesellschaftlichen und geistlich-theologischen Feld bewegen.

Leer2. Ich versuche eine theologische Grundaussage:

LeerDer erste Beruf des Christen ist seine Berufung zum Christsein, also zum neuen Leben aus dem Heiligen Geist. Sein erstes Werk, das ihm aufgetragen ist, ist die bewußte Bestätigung dieses neuen Lebens, theologisch „Heiligung” genannt.

LeerEine kurze Überlegung zu den Begriffen „Berufung” und „Beruf”:

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LeerIm NT wird von der Berufung des Christen gesprochen als Berufung zum ewigen Leben, zum Heil, zum Zeugen in der Welt. Paulus konnte im Blick auf die bald erwartete Wiederkunft des Herrn sagen, die Glieder der Gemeinde sollen oder können in dem Stande bleiben, in dem sie zum Glauben berufen wurden. 1. Kor. 7,20: „Jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde.”

LeerDas Mittelalter hat dann den Begriff als Berufung zum geistlichen Stande verstanden und nur noch darauf angewandt. Luther, in Ablehnung der daraus erwachsenen Unterscheidung von Christen verschiedener „Klassen”, hat wieder darauf hinweisen wollen, daß der Christ in jedem „Stande” Gott zu dienen in der Lage ist, daß also auch das Fegen der Straße durch die Magd „Gottesdienst” ist. Stand, Berufung, Beruf flossen zusammen. Im Prozeß der Säkularisierung und Verallgemeinerung biblischer Begriffe erhielt am Ende das Wort „Beruf” die Bedeutung von „Art der dauerhaften Tätigkeit, mit der man sich den Lebensunterhalt gewinnt”.

LeerEs liegt in der Konsequenz der Entwicklung der modernen Arbeitswelt, wenn das Wort „Beruf zunehmend nur noch als „erlernter Beruf”, also als die Tätigkeit, in der man ausgebildet ist, Verwendung findet und sonst von „Arbeit”, Arbeitsplatz und Arbeitsverhältnis, von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, von Job, Beschäftigung, Stelle, die Rede ist.

LeerDie Rückkehr zur biblischen Grundbedeutung ist nötig. Die Berufung zum Reich Gottes, zum ewigen Leben, zum Heil, zur Nachfolge Christi, zu Zeugnis und Dienst ist so umfassend, so total und radikal, so beschlagnehmend und verändernd, daß, wenn sie wirklich erkannt und ergriffen wird, Sinn und Zweck, Fundament und Ziel der ganzen Existenz wird. Jeder Christ ist ein „Berufschrist” in dem Sinne, daß sein Christsein das Erste, das Bleibende seines Daseins, alles andere das Zweite, das Variable und Vergängliche seines Lebens ist. Er ist, nach dem paulinischen Zeugnis, zuerst und bleibend „in Christus” und dann erst Mann oder Frau, Knecht oder Freier, Jude oder Grieche, zusammen mit allen, die der gleichen Berufung folgen.

LeerDiese Berufung zum Glauben ist kein ruhendes Haben, sondern ein Leben, ein bewegtes Sein. Es ist seinem Ursprung nach Geschenk, nicht Werk des Glaubenden. Sich in die vom Geber dieses Lebens gewiesene Richtung bewegen zu lassen ist das Tätigsein des Christen, seine Heiligung. Hier nehmen wir Luther wieder auf. Nicht nur in den geistlichen Bezügen von Gottesdienst und Gebet, christlicher Gemeinschaft und geistlicher Lebensführung vollzieht sich diese neue Wirklichkeit, sondern auch in den kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Bezügen und also auch im Bereich der Arbeit und der Freizeit.

LeerMir geht es darum, deutlich zu machen - gegen einen bürgerlich mißverstandenen Luther -daß der Beruf des Menschen nicht zugleich sein Beruf im Christsein ist. Bürgerlich-christliches und marxistisch-sozialistisches Denken haben gemeinsam, daß sie die Arbeit des Menschen, sein Arbeiten an sich als für sein Menschsein entscheidend und sinngebend ansehen. Mag auch das bürgerlich-christliche Denken mehr die Arbeit als Ausdruck der gefallenen Welt ansehen, während marxistisches Denken die Arbeit als Selbstwerdung des Menschen definiert, beiden Auffassungen gemeinsam ist, daß an der Arbeit Sinn und Wert eines menschlichen Lebens sich weitgehend entscheidet.

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LeerDas Ernstnehmen des neutestamentlichen Begriffs der Berufung aber relativiert diese Auffassung. Sinn und Wert des Menschen und seines Daseins wird von der Berufung durch Gott - sie sei schon ergriffen oder noch nicht - bestimmt und definiert. Zugespitzt bedeutet dies für den Christen, daß die Arbeit und ihre Form zwar für ihn von großer Wichtigkeit sind, aber nicht über Wert und Sinn seines Lebens und auch nicht über die Betätigung dieses Lebens entscheiden.

LeerIch glaube, daß diese Erkenntnis selbst als säkularer Vorgang Raum greift. Gegenüber zeitweiligen oder gänzlichen „Aussteigern” wird der Vorwurf eines „nutzlosen” oder gar „unmoralischen” Lebens immer seltener erhoben. Selbst die sozialistische Rechtsprechung hat den Vorwurf „asozialen Verhaltens” bei Nichtarbeit im arbeitsfähigen Alter fallengelasssen, solange der Betreffende in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Selbst die monastische Lebensform in den verschiedenen Religionen wird heute vielfach als eine mögliche und sinnvolle, vielleicht sogar intensivere und wesentlichere Lebensverwirklichung anerkannt als das bloße Erwerbs- und Verbraucherdasein.

Leer3. Die Arbeit und ihre „Welt” ist in der industriellen Gestalt, die für unsere Zeit, vor allem im europäischen Bereich bestimmend wurde, durch ganz bestimmte Merkmale charakterisiert, auch wenn rein phänomenologisch die Skala vom klassischen Handwerksbetrieb bis zum Hochtechnologieunternehmen, von der kreativ-innovatorischen Vielseitigkeitsanforderung bis zur ständig sich wiederholenden, auf wenige Funktionen beschränkten Tätigkeit reicht. Dennoch wird man für weiteste Bereiche der industriellen Arbeitswelt, einschließlich der Großverwaltungen als Charakteristika nennen können:
  • eine bis zum Zusammenhangsverlust und zu totaler Einseitigkeit der Arbeitsabläufe vorangetriebene Spezialisierung der Arbeitsteilung;
  • eine ausschließlich auf Produktivität und Leistung, auf Gewinn und Nutzen orientierte Ausrichtung der Arbeitsziele;
  • eine zeitlich eng begrenzte, aber innerhalb dieses Zeitraums die Kräfte weitgehend fordernde Inanspruchnahme des Arbeitenden, bei sonst nur sehr begrenzter Einbeziehung der Gesamtpersönlichkeit, des ganzen Ensembles seiner Gaben und Möglichkeiten.
LeerDieser Sachverhalt ist selbstverständlich nicht moralisch zu werten. Die gegenwärtige Arbeitswelt etwa im Leitbild einer bäuerlich-handwerklichen Arbeitswelt des frühen 19. Jahrhunderts zu messen, wie es noch christliche Kreise bis zur Mitte dieses Jahrhunderts taten, ist anachronistisch. Es geht um die Tatsache, daß die Bedingungen und Notwendigkeiten der Arbeit vom Produktionsprozeß und nicht vom produzierenden Menschen gesetzt werden und daher den Möglichkeiten einer Selbstverwirklichung des Menschen durch Arbeit engste Grenzen gesetzt sind.

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Leer4. Darum ist Freizeit heute auch etwas anderes als der „Feierabend” von gestern. Sie ist nicht primär Zeit „feiernder Ruhe”, sondern Zeit für frei gewählte Selbsttätigkeit des Menschen und sei dies noch so sehr reduziert auf ein unreflektiertes Konsumverhalten gegenüber den Unterhaltungsmedien. Sie ist soziale Forderung geworden nicht nur wegen Länge der Arbeit, sondern wegen der Veränderung der Arbeit durch Leistungsdruck, psychische Beanspruchung des Menschen, Tempo etc. Unter Freizeit verstehen wir die Zeitanteile, die nicht für den Schlaf nötig sind, also nach Arbeitsschluß, an den Wochenenden, Urlaube, aber auch die dritte Lebensphase (der Ruhestand), die Zeiten, die durch verkürzte Arbeit, Arbeitslosigkeit entstehen.

LeerEs wird deutlich, daß erhebliche Freizeitanteile „unfreiwillig” sind, ungewollt und vorgegeben. Die fortschreitende zeitliche Begrenzung des Tätigsein des Menschen in der Gestalt der Erwerbstätigkeit, schafft einen zunehmenden Raum für ein selbstgewähltes Tätigsein. Nur noch in wenigen Bereichen kommt es zu einem Ineinander von aufgegebenem und selbstgewähltem Tätigsein, etwa bei Wissenschaftlern, Künstlern, Pastoren. Andererseits ist die Freizeit in der Wertung vielfach der Arbeitszeit nachgeordnet, von geringerer Relevanz für die Bedeutung eines Menschen. Sie hat ambivalenten Charakter, ist ersehnt und gefürchtet zugleich.


II. Vertiefungen

Leer1. Eine merkwürdige Beobachtung, daß trotz der bürgerlich-protestantischen Tradition, die der Arbeit als solcher sozial, moralisch und religiös hohen Rang zuerkennt, dies in den liturgischen Texten, den Gebeten zum gemeinsamen und privaten Gebrauch, in der Verkündigung und Lehre und in den Formen und Gewohnheiten des kirchlichen und gemeindlichen Lebens kaum eine Entsprechung findet. Der Themenkreis Arbeit tritt auffällig hinter den Lebensständen, den individuellen und allgemeinen Bedürfnissen und Bedürftigkeiten zurück. Eine Ausnahme scheint der bäuerliche Bereich zu sein, mit Erntebitt- und Erntedanktagen; der regelmäßigen Bitte um Gedeihen der Frucht und gute Witterung u. a. m.

LeerAber auch hier ist nicht das Arbeiten des Menschen selbst im Blickpunkt, sondern die Unverfügbarkeit - denn Wachstum und Gedeihen sind in des Höchsten Hand - des Ertrages und die Abhängigkeit von unbeeinflußbaren Zusammenhängen. Darum wurde auch in einer industriell betriebenen Landwirtschaft, die die Risiken der bäuerlichen Arbeit regulierbar machte, aus Erntedankfesten Erntefeste und aus Gottesdiensten zum Erntedanktag mehr und mehr themenorientierte Gottesdienste zum Umgang mit den Gütern dieser Zeit.

LeerEs gibt nur wenige liturgische Texte, die das Thema der Arbeit und ihrer Welt wirklich aufnehmen; von den wenigen sind noch die abzuziehen, die in mehr oder weniger romantischer Weise Übertragungen aus der bäuerlichen Welt auf die industrielle Produktion sind. Man kann nicht sagen, daß die reale Arbeitswelt der Gegenwart wirklich in die Gemeinde, in die Liturgie hineingenommen werden konnte. Das Problem scheint mir darin zu liegen, daß die industrielle Welt, soll sie in Gebetsvollzüge, in Gottesdienst und Gemeindeleben hineingenommen werden, eine andere Sprache, andere Symbole und Stilelemente braucht.

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LeerIm Blick auf die Freizeitwelt gilt das erst recht. Für sie gibt es keine theologisch-liturgische Orientierung. Vielleicht ist mit der Entdeckung der Dimension des Festes - wenn es sich dabei nicht nur um einen modischen Trend handelt, ein erster Schritt getan.

Leer2. Eine weitere alarmierende Entwicklung ist zu benennen. Wir verfolgen mit Bangen und mit Spannung die rasante Entwicklung neuer Technologien und ihrer industriellen Anwendung. Eben noch mit Fließband und beginnender Automation beschäftigt, sind durch die neuen Computer- und Robotertechnologien schon ganz andere und neue Prozesse in Gang gekommen. Bei allen diesen wahrhaft atemberaubenden Entwicklungen ist aber der fundamentale Leitgedanke aus der ersten industriellen Revolution unkritisch beibehalten worden: immer mehr, immer schneller, immer billiger, mit immer weniger Menschen für immer mehr Verbraucher. Die Ambivalenz dieser Situation ist vielen Menschen heute deutlich. Die Arbeitsplatzproblematik, die Ausbeutung von Ressourcen und Völkern, Abfall und Chemierückstände, Umweltverschmutzung, soziale und Gesundheitsprobleme sind die negativen Folgen.

LeerDie Forderung nach einem neuen Lebensstil, nach radikaler Veränderung dieser Zustände werden laut und die besorgten Vermutungen, es wäre zu spät dazu. Mit Schärfe muß gesagt werden: Bleibt es bei dieser Grundrichtung unserer Art zu arbeiten, so „arbeiten wir uns zu Tode”, im buchstäblichen Sinn dieser Redewendung. Die paradoxe Situation jedes arbeitenden Menschen ist, daß er, ohne persönlich Schuld zu sein am Dilemma, noch in der Lage, es als einzelner abstellen zu können, doch mitverantwortlich ist und in der Pflicht, nach den unausweichlichen Veränderungen zur Bewahrung der Schöpfung und eines menschenwürdigen Daseins auch für kommende Geschlechter zu fragen. Niemand kann heute sagen, ob diese Umkehr vollzogen wird, ob und wie sie gelingen kann, nur eins ist gewiß: ohne sie gibt es keine Zukunft. Und in Ost und West wird man nicht beides fordern können: unbegrenzte Mengen an Konsumgütern in immer neuen Variationen zu immer günstigeren Preisen und die Beseitigung der lebensbedrohenden Probleme, die eben wegen solcher Zielsetzungen entstanden sind und weiter wachsen.

LeerDie Fähigkeit, alles machen zu können und die Einsicht, nicht alles machen zu sollen, müssen erst noch in ein ethisches Verhältnis gebracht werden. Die Arbeit und das Arbeiten sind nicht Wert an sich. Das Wie, Wozu und Warum entscheidet über Sinn oder Unsinn, Wert oder Unwert, Dienst oder Dämonie der Arbeit.

Leer3. Die zweite große Herausforderung an den Menschen ist die Gewinnung der Freizeit als Raum eines bewußt gestalteten, mit Sinnhaftigkeit, Verbindlichkeit und Beziehungswirklichkeit ausgestatteten Selbsttätigsein des Menschen. Die Frage der proletarischen Vätergeneration nach der Freizeit war die Frage nach dem Freiwerden von der Fron erschöpfender körperlicher Schwerarbeit und der Möglichkeit, Zeit für sich zu haben. Aus der Ursprungsfrage „Frei wovon” ist die Frage: „Frei - wozu” geworden.

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LeerNoch ist es so, daß bei vielen Menschen die Freizeit eine Art Luxus ist, ein Überschußgut, das man für dies und das verwenden kann, das aber nicht eigentlich dem Leben Inhalt, Stabilität, Würde und Sinn zu geben vermag. Die Freizeitangebote sind überwiegend Unterhaltungsangebote, Zerstreuungsangebote bis in den kulturellen Bereich hinein. Das Hobby als harmlose Liebhaberei ist das Symbol füllender, aber nicht erfüllender Freizeitbeschäftigung. Nicht wenige sind glücklich, wenn sie zweite Arbeitsverhältnisse, Arbeitsaufgaben finden, nicht zuerst aus materiellen Gründen. Es ist individuell wie gesellschaftlich noch eine vor uns liegende Aufgabe, der Freizeit eine vergleichbare Dignität, sinnstiftende Ernsthaftigkeit zu geben, wie sie - trotz allem - die Arbeit für viele Menschen hat.

LeerDer Pluralismus moderner Gesellschaften in Bezug auf Lebensanschauungen und Lebensformen ihrer Glieder gilt auch für die Freizeitwelt und gerade hier, weil es um ein eigenes Selbsttätigsein geht. Eine einbindende „Sittenbildung”, gar eine staatliche Organisation nach dem Modell „Kraft durch Freude” kommen deshalb nicht in Betracht. Dennoch werden die Gesellschaften um ihres Bestandes willen Mittel und Wege finden müssen, den Menschen Möglichkeiten zu frei gewähltem, aber sinngebendem Selbsttätigsein zu eröffnen, wenn nicht Alkohol- und Drogenmißbrauch, Trivialkultur der Medien, Familienzerfall und Überdrußgewalttätigkeit als Unfähigkeit, mit Freizeit etwas anfangen zu können, gesellschaftszerstörend wirksam werden sollen.

LeerDie Möglichkeit zu sinnvollem Tun im Freizeitbereich, dem auch gesellschaftliche Anerkennung zuteil wird, kann dem Umdenkungsprozeß zu einem neuen Lebensstil, die Abkehr von der Totalität der Produktions- und Konsumptionsmechanismen flankierende Hilfestellung geben. Der einzelne Zeitgenosse kann diese Aufgabe nicht leisten, er braucht das gesellschaftliche, das soziale Wir dazu. Umgekehrt kann die Gesellschaft, der Staat, die Aufgabe nicht leisten, wenn nicht in Modellen von einzelnen und Gruppen Schritte vorgezeichnet, Initiativen und Impulse ausgelöst werden. Der Blick richtet sich fragend auch auf die christliche Gemeinde.

Leer4. Eine letzte analytische Überlegung. In den Industriegesellschaften ist, mit unterschiedlicher Intensität, aber in der Tendenz einhellig, die Religion, die christliche Kirche der „Freizeitwelt” zugeordnet. Der Satz „Religion ist Privatsache”, ist theologisch gewiß falsch. Sein Wirklichkeitsmoment liegt aber in der Selbstverständlichkeit, mit der das Wirtschafts- und Arbeitsleben dieser Gesellschaften kaum einen direkten Bezug zur Religion aufweist. Alle Versuche zu einer christlichen Durchdringung der Arbeitswelt sind gescheitert. Nur im Bereich der diakonischen Betriebe gibt es - nicht unwidersprochen und hinterfragt - das Bemühen, den Arbeitstag, das Arbeitsgeschehen unter erkennbare christliche Akzente zu stellen, von der Mitarbeiterandacht bis zur Arbeitsethik und der - sehr anzufragenden - Meinung, eine gewerkschaftliche Organisierung und Artikulierung dieser Mitarbeiter widerspräche dem diakonischen Auftrag. Und natürlich gibt es christliche Kooperationen, jüdische Kibbuzim, wo Arbeitsvollzug und religiöser Vollzug verbunden geblieben sind. Aber daß solche Modelle nicht typisch sind, wird niemand bestreiten.

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LeerÜbrigens ist es auch den Marxisten nicht gelungen, über Betriebsparteiorganisationen und andere Institutionalisierungen eine sozialistische Durchdringung der Arbeitswelt zu erreichen, die dem Arbeitsgeschehen ein besonderes Klima, Arbeitsethos und der Arbeit einen besonderen Sinn und entsprechend dem Klassenbewußtsein einen besonderen Enthusiasmus verliehen hätte.

LeerDie Kirchen sollten ihren Platz bejahen und annehmen, mit notwendigen Differenzierungen. Sie sollten dies bejahen im Blick darauf, daß der Mensch in seiner Ganzheit und in seinem Selbstsein, wenn überhaupt, dann in der Freizeitwelt zu finden ist. In dem relativen Freisein eines Menschen, der über Freizeit verfügt, ist Begegnung und Partnerschaft möglich. Die Trennung von Kirche und Staat, aber auch von Kirche und Gesellschaft, die Säkularität und Pluralität der modernen Gesellschaft, lassen keine andere Möglichkeit zu. Diese aber in einer Weise als Chance, wie sie frühere Zeiten nicht kannten. Dem Menschen in seiner Freizeit zu begegnen und ihm dort Wege und Möglichkeiten sinnerfüllten Lebens zu zeigen, ist eine ungeheure Herausforderung. Denn die Frage nach der Freizeit ist die Frage nach Lebenssinn und Lebenswert.


III. Aufträge

Leer1. Ich habe versucht, einige Zeichen der Zeit ins Bewußtsein zu heben, Zeichen, die vor aller Augen sind, unbeschadet der Interpretation, die sie finden. Die Beschränkung auf die Arbeitswelt bedeutete nicht die Abblendung der Grundfragen der Zeit. Sie sind auch präsent, wenn nach der Arbeitswelt und der Freizeitwelt gefragt, Wege der Umkehr und des Neubeginns in diesen Wirklichkeitsbereichen gesucht werden. Im folgenden soll von Aufträgen geredet werden, wie sie sich für die christliche Gemeinde ergeben. Diese Aufträge sind Aufgaben der Heiligung, der Realisierung des verheißenen und zugesprochenen neuen Lebens.

LeerDie Gemeinde, aber auch der Konvent einer Bruderschaft, ist der erste Ort, an dem dieses Leben aufgenommen, erste Schritte eingeübt und von dort in die Welt fortgesetzt werden. Dabei geht der Glaube von der Erkenntnis aus, daß es einen unauflöslichen Zusammenhang gibt zwischen veränderten Menschen und veränderten Strukturen. Der Streit um die Frage, wer zuerst war, was zuerst sein muß, veränderte Menschen oder veränderte Strukturen, ist ein müßiger Streit. Es ist der Geist Gottes, der verändert. Indem der Mensch sich verändern läßt, verändern sich auch die Strukturen seiner Welt. Und veränderte Strukturen bekunden, daß etwas sich verändert hat mit dem Menschen. Die Heiligung ist nicht nur ein individueller, sondern ein gemeinschaftlicher, ein gesellschaftlicher Vorgang, auch im Sinne des Volkes Gottes, der neuen Gesellschaft des kommenden Reiches.

LeerDaraus folgt:

Leer2. Die Gemeinde, damit auch die Bruderschaft, haben sich mit der Ambivalenz menschlicher Tätigkeit im Arbeits- und Freizeitbereich heute zu befassen. Sie haben, was da geschieht im Licht des Wortes Gottes und in der Unterscheidung der Geister, zu bedenken und betend zu bewegen. Aus diesem Hören und Beten werden Haltungen, Handlungen und Zeichen neuen Lebens erwachsen. Im Bereich der Arbeit sollen stichwortartig folgende Aspekte genannt werden:

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LeerZiel und Auswirkung jeder Arbeit entscheiden über ihren Sinn, ihren Wert, ihre Menschlichkeit, über lebensbefördernden oder lebenszerstörenden Charakter. Es gibt Arbeitsziele, Arbeitsergebnisse, an denen geheiligtes Leben nicht teilhaben will.

LeerDas kann vom Bau von Massenvernichtungswaffen bis hin zu professioneller Herstellung und Vertreibung von solchen Dingen (Drogen, Bilder, Nachrichten etc.), die eindeutig auf die Verfügbarkeit, Manipulierbarkeit und Möglichkeit der totalen Abhängigkeit von Menschen ausgerichtet sind, gesagt werden.

LeerEs ist zuzugeben, daß im Einzelfall die Entscheidung nicht leicht ist und die Gefahr eines puritanistischen Rigorismus, der durch seine zu Ende gedachten Konsequenzen leicht ad absurdum zu führen wäre, nicht von der Hand zu weisen. Dennoch - und im Ernstnehmen einer pluralistischen Welt, die vieles erlaubt und für möglich hält - muß die christliche Gemeinde am biblischen Zeugnis orientiert unterscheiden und damit entscheiden, was dem neuen Leben entspricht, auf das kommende Reich Gottes hinzielt und was dem widerspricht und entgegensteht. Gerade die Welt der Arbeit will im Lichte des anbrechenden und zugleich noch ausstehenden Gottesreiches gesehen werden. Dieses Reich ist die Verheißung der Aufhebung der Vergeblichkeit und Ambivalenz allen menschlichen Tätigseins, die Aufhebung der Selbstentfremdung des Menschen und die neue Einheit von Pflicht und Freiheit, aufgetragene und selbstgewählte Tätigkeit, Selbstverwirklichung und Gottesdienst.

LeerIm Zeichen dieser Verheißung vollzieht sich die Präsenz des Christen in der Arbeitswelt. Indem er arbeitet, trifft er auf seinen Nächsten, mit dem zusammen er tätig ist. Ernst Lange hat recht, wenn er schreibt: „Mein Verhältnis zu meinem Werk und mein Verhältnis zu meinen Kollegen gehören unauflöslich zusammen.” Und weiter: „Die mitmenschlichen Beziehungen im Beruf sind die erste und dringlichste Werkaufgabe des modernen Menschen.” Die Gestalt der neutestamentlichen Bruderliebe und Nächstenliebe im Bereich der Arbeit, gleichsam ihre soziale Gestalt ist die Solidarität mit dem Arbeitenden. Der Dienst am „Arbeitsklima”, an der „Humanisierung der Arbeitswelt”, an der sozialen Gerechtigkeit und der Durchwärmung der Strukturen durch Menschlichkeit, am Recht auf Arbeit für alle, an den im Konkurrenzkampf Schwächeren, Behinderten sind dem Christen Beruf.

LeerEs gehört zu den besonderen Erfahrungen bewußter Christen in Betrieben der sozialistischen Wirtschaft, daß sie von Kollegen gern - manchmal gegen den Willen politischer Kräfte - in Konfliktkommissionen, Ausschüssen, die innerbetriebliche soziale Belange der Arbeitnehmer zu entscheiden haben, gewählt oder delegiert werden. Übrigens auch sonst erfahren Christen vielfach durch ihre Verläßlichkeit und Sorgfalt in ihrem beruflichen Tun, ihre Ehrlichkeit und Eindeutigkeit, Sympathie und Respekt. Nicht selten werden sie als Gesprächspartner in betrieblichen oder privaten Nöten aufgesucht. Sie verändern die Realität der betrieblichen Arbeitswelt nicht, aber sie können Zeichen sein, Zeichen eines anderen Lebens.

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LeerDas biblische Zeugnis von der ursprünglichen und unaufgehobenen Bestimmung des Menschen, Hüter des Seins zu sein, königlicher Hirte aller Geschöpfe in der Einheit von Mann und Frau ist ein Zeugnis, das nicht zuerst religiöse Interpretation des Menschen ist, sondern ein Auftrag von umfassender, auf das Ganze der Welt bezogenen Relevanz. Er bestimmt das gesellschaftliche, politische, soziale und ökologische Engagement des Christen. Ein Doppeltes ist zu sagen: Die gesellschaftliche, sozialpolitische, ökologische Ausrichtung des christlichen Glaubens kann nicht als Modernismus oder gar als Mode, nicht als unerlaubte Einmischung oder als Beteiligung am Ringen von Parteien und Organisationen um die Macht, mindestens um Einfluß disqualifiziert werden.

LeerEs ist eine Weise vom Zeugnis und Dienst in der Welt, auch der Welt des arbeitenden und produzierenden Menschen. Es ist ein solidarisches Mitleiden, Mitfragen, Mitdenken und Mithandeln. Es ist aber auch ein solidarisches Widersprechen und Warnen aus dem vernommenen und gelebten Wort Gottes heraus, aus der Wahrheit und Liebe heraus, die in Christus Fleisch und Weg geworden ist. Hier wäre Anlaß, die Urkunde der Evang. Michaelsbruderschaft zu lesen. Ich zitiere daraus drei Sätze:

Leer„Wir kämpfen darum, daß die Kirche in allen Bereichen des Lebens den Auftrag erfülle, der ihr im Evangelium gegeben ist.

LeerIn einer Stunde, da die Kirche sich selbst an den Anspruch der Welt zu verlieren droht, kann die Kirche das Wort der Entscheidung, das sie der Welt schuldet, nur sprechen, wenn sie den priesterlichen Dienst des ebets erfüllt.

Leer(Die Brüder) tun in Gebet, Wort und Tat alles, um den Frieden zwischen Ständen und Völkern zu fördern, Haß und Ungerechtigkeit in der Kraft der Liebe Christi zu überwinden.”


Leer3. Die Gemeinde und mit ihr die Michaelsbruderschaft muß durch ihre Lebensvollzüge sichtbar machen, daß die Selbsttätigkeit des Menschen in den Bereichen seiner Freizeit ihren tiefsten Sinn als Dienst für Gott und an seinen Geschöpfen gewinnt und gerade so zum Selbstwerden des Menschen, zur Erfüllung seiner Menschlichkeit wird. Wir wissen, wie fatal die Verwendung des Begriffs der „Selbstverwirklichung” geworden ist. Für viele bedeutet er eigentlich die Selbstdurchsetzung des Menschen zur Befriedigung seiner Wünsche und Erwartungen, auch und gegen alles andere, Mitmenschen, Strukturen, Forderungen. Solche Selbstverwirklichung kann nicht gelingen, nicht praktisch, dies sowieso nicht, aber auch grundsätzlich nicht, weil es der Weg der absoluten Selbstsetzung und damit der Selbstzerstörung ist. Wahr ist aber doch, daß jeder Mensch die Sehnsucht nach Erfüllung seines Lebens, nach Sinnhaftigkeit, Wert und Tiefe seines Daseins, auch nach Freude und Glück in sich trägt und tragen darf als Ausdruck seines Verlangens nach jenem ursprünglichen Garten, nach dem verheißenen Reich, dem neuen Himmel und der neuen Erde. Und die Freizeit ist unbewußt für viele das Feld, auf dem diese Hoffnungen als Möglichkeit und ihr Scheitern und Mißlingen als Wirklichkeit erfahren werden.

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LeerDie Frage nach der Erfüllung der Freizeiträume ist zugleich eine eminent gesellschaftlich-soziale und geistlich-theologische. Sie ist Frage nach Lebenssinn. Darum sind die bisherigen Antworten, das Angebot mehr oder weniger niveauvoller „Zeitvertreibe”, eben noch keine Antworten. Das Selbsttätigsein des Menschen bedarf der tieferen Sinnhaftigkeit. Es bedarf auch einer Verbindlichkeit und einer Beziehungsorientiertheit. Noch die kleine Handarbeit einer alten Frau wird für sie erst über den „Zeitvertreib” hinaus wichtig, wenn sie weiß, wem sie damit „eine Freude” machen, oder wozu sie „dienen” kann. Es ist noch viel intensiver nachzudenken über Formen und Möglichkeiten einer nicht berufsbestimmten Mitarbeit in der Kirche. Man kann die Frage nach den Laien auch einmal unter diesem Gesichtspunkt sehen. Eine lebendige und gegenwartsbezogene Kirche wird aus den soziologischen Veränderungen ihrer Situation die Konsequenz ziehen, mit immer weniger „professionellen” und mit immer mehr existentiell engagierten, aber erwerbsunabhängigen Christen ihre Arbeit zu tun. Für Kirchen im Sozialismus wird dies noch zwingender werden als für Kirchen außerhalb dieses Bereichs.

LeerEin Gleiches ist auch für die Gesellschaft zu sagen. Das 18. und 19. Jahrhundert hatte für die wirtschaftlich unabhängige Oberschicht eine ganze Reihe von Tätigkeiten im Bereich der Kommunen und der ländlichen Bezirke, die, wie es damals und heute hieß, „ehrenamtlich” ausgeübt wurden. Eine Freizeitgesellschaft muß eine Vielfalt differenzierter Angebote entwickeln, in denen Menschen sich mit ihren Gaben und Fähigkeiten ernsthaft einbringen können, ohne dafür ein Entgelt zu erhalten. Versuche gab und gibt es dafür schon - mit gegenwärtig oft nicht überzeugenden Ergebnissen. Die Gemeinde könnte hier in exemplarischen Beispielen, in Modellen und ersten Schritten Zeugnis und Dienst leisten.

LeerSchließlich wäre noch einmal über die Möglichkeiten der Familie nachzudenken. Das Problem der Instabilität der modernen Familie ist bekannt. Sie ist kaum noch notwendige Erwerbs- und Wirtschaftsgemeinschaft und hat dadurch wesentliche Bindungselemente verloren. Sie braucht nur noch zeitlich begrenzt für die Kinder Schutz- und Beziehungsgemeinschaft zu sein. Ob sie „Lebensgestaltungs- und Freizeitgemeinschaft” zu werden vermag? Hierher gehörte auch das Modell der „offenen Familie”, d. h. der Familie, die nicht abgeschlossen für sich lebt, sondern in der Offenheit für andere (Alleinstehende, Problembelastete, etc.) und in den daraus erwachsenden Beziehungen ihre „Selbstverwirklichung” findet.

Leer4. Im Gesamtzusammenhang unserer Überlegungen, aber auch in einer gewissen Eingrenzung darauf, ist vom Gottesdienst, von der Liturgie und dem Sonntag zu reden. Kritische Aufgabe ist, den Gottesdienst der versammelten Gemeinde, seine Inhalte und Formen darauf anzusehen, wieweit die angesprochenen Sachverhalte in ihm zur Vergegenwärtigung kommen und unter das Evangelium gestellt werden, wieweit die Gemeinde diejenige Zurüstung zum neuen Leben erhält, die sie zum „Gottesdienst im Alltag” befähigt. Zugleich gilt: Im Gottesdienst der Gemeinde wird Gott selbst im Vollzug seines Wortes und des Mahles gegenwärtig und darin das ganze Heil für den Menschen. In ihm vollzieht die Gemeinde in Gebet und in der Gemeinschaft des Mahles die Freude über und die Hingabe an das neue Leben.

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LeerEs ist der immer wieder neue erste Schritt zur Verwirklichung des geschenkten Lebens. Die Liturgie des Gottesdienstes kann darum keine „Liturgie des Jammertales” sein, die vereinseitigte Klage über die Beschaffenheit der Welt und der gesellschaftlichen Strukturen, die zur Anklage wird und zum Protest und zum Ausdruck der Verneinung der Hoffnung. Sie kann keine Liturgie der motivierenden Einstimmung, der Weckung revolutionärer Dynamik sein zur mehr oder weniger radikalen und gewaltsamen Gesellschaftsveränderung, die Gott nur gebraucht als Symbol für politische Ziele.

LeerSie kann auch keine Liturgie religiöser Selbstbestätigung und Selbstheilung sein, sei es unter den Vorzeichen bestimmter psychotherapeutischer Schulen noch von Heilungssekten und dem ganzen Spektrum des New Age.

LeerSo wahr in, mit und unter der Liturgie Klage, Neuorientierung, Tröstung, Heilwerdung Ereignis werden kann und soll, so drückt doch gerade sie aus, daß dies ein Geschehen von Gott her zum Menschen ist, der seinerseits antwortet in Dankbarkeit, Vertrauen und Bereitschaft zum „Gebet und dem Tun des Gerechten”.

LeerDie Spannung zwischen der Pluralität des Lebens und der einen Wahrheit Gottes in ihrer Fülle, muß auch im Gottesdienst seine Entsprechung finden.

LeerDie Aufgabe von Kontinuität und Variabilität der gottesdienstlichen Vollzüge ist ein erst noch in den Anfängen begriffener Prozeß. Ganz von neuem stellt sich die Frage nach dem, was einen Gottesdienst als Gottesdienst qualifiziert? Das damit angedeutete Spannungsfeld wird signalisiert, einerseits durch die Traditionalistenbewegung des katholischen Bischofs Lefebvre, und andererseits durch als Gottesdienste bezeichnete politisch motivierte und orientierte Veranstaltungen, bei denen der Verdacht des Etikettenschwindels mindestens als verständlich bezeichnet werden muß.

LeerIm Blick auf die angedeutete Problematik von Arbeitswelt und Freizeitwelt, der Pluralität von Lebensgewohnheiten und Einstellungen, des unterschiedlichen Grades der kirchlichen Sozialisation bei Neuchristen, Sympathisanten werden Flexibilität und Variabilität der Gottesdienstformen (themenzentrierte, gruppenzentrierte Gottesdienste, etc.) zwingend. Diese spezifischen Gottesdienste sind nicht im Gegensatz und anstelle des in Wort und Sakrament, als Vollversammlung der Gemeinde gefeierten Gottesdienstes am Herrentag zu sehen, sondern als dessen Entfaltung.

LeerNoch einmal stellt sich die Frage im Blick auf die Sprache. Liturgie, Gebet, Predigt sind ein Sprachgeschehen. Gegenwärtig stehen wir in der Spannung von sprachlicher Überhöhung oder sprachlicher Verflachung. Die liturgische Sprache, die der Arbeitswelt und Freizeitwelt heute entspräche, müßte sparsam, sachbezogen, offen für disziplinierte Subjektivität und Emotionalität und für informative und aktualisierende Variabilität sein. Dabei darf es schon den Bogen zwischen Texten zeitloser Kontinuität und Gültigkeit und solchen aktueller Direktheit -etwa in Predigt und Fürbitten geben. Aber der Feier- und Freudencharakter liturgischer Vollzüge erwächst weder aus der Überhöhung der Sprache noch durch zeitabhängige Show-Effekte, sondern durch die „zur Sprache” kommenden Inhalte - denen die Sprache nur dienen, die sie aber nicht bewirken kann. Es gibt nur ganz wenige Gebete, die wirklich die Arbeitswelt, schon gar die Freizeitwelt zum Thema haben und in angemessener Sprache in Beziehungen zu Gott bringen. In einigen Gebeten des Tagzeitenbuches gibt es positive Ansätze.

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LeerDie christliche Gemeinde hätte auch die Aufgabe in den Industriegesellschaften, den Sonntag vor seiner völligen Zerstörung zu bewahren. Es geht hier nicht um Puritanismus, um „Sabbatenge”. Es geht darum, den Geschenkcharakter des Sonntags auch im sozialen Sinne zu erhalten. Er ist die Möglichkeit zur Gemeinsamkeit von Menschen, zur Kommunikation und Kreativität, zur Familienorientierung, d. h. zur emotionalen Erfahrung der Zusammengehörigkeit in der Familie, aber auch in einer Gruppe, in einer Region, einer ganzen Gesellschaft.

LeerDazu natürlich die geistliche Dimension - und auch der Nichtglaubende erfährt etwas „Sonntägliches” am Sonntag, das über den Alltag hinaus weist. Entsprechende freie Tage in der Woche, nach den unterschiedlichen Arbeitszeitrhythmen der Menschen, vermögen nicht Ersatz zu geben für das hohe menschlich-soziale und religiös-geistliche Gut des Sonntags. Es sollte nie dazu kommen, wegen wirtschaftlich-rationell auszunutzender Industrieanlagen den Sonntag zu ruinieren. Auch die sozialistischen Staaten haben längst die alte Kampfstellung der Oktoberrevolution gegen den Sonntag aufgegeben. Sein Verlust wäre ein Verlust an humaner Qualität der Gesellschaft. Dies könnte, dies müßte die Gemeinde, über den religiösen Charakter des Sonntags hinaus, in einer pluralistischen Gesellschaft zur Geltung bringen im Interesse aller Menschen.


IV. Abschluß

LeerDer Mensch ist geschaffen zur Tätigkeit. Sein Tätigsein umfaßt Selbsterhaltung, Selbstentfaltung, Nächstendienst, Gottesdienst, um eine Gliederung von Ernst Lange aufzunehmen. Auch eine wirklich bewußt gelebte Freizeit, die gefüllte Muße und Ruhe hat, ist Tätigsein. Auch das Gebet ist Tat. Und wiederum bedarf das Tätigsein im Sinne der Arbeit heute mehr denn je einer kritischen Prüfung und einer veränderten Einordnung in die Ganzheit des Menschen. Die Gemeinde Christi, eine Bruderschaft werden für die gegenwärtige Zeit neu buchstabieren und realisieren müssen, was das klassische benediktinische „Ora et labora” als Gestalt des neuen Lebens aus dem Heiligen Geist meint. Es ist die Berufung der Christen, beides in Einheit und Unterschiedensein, als Werktätigkeit und Selbsttätigkeit, als Dienst an der Erde und als Dienst für Gott zu leben. Um noch einmal das Berneuchener Buch zum Abschluß in seiner etwas überhöhten Sprache sprechen zu lassen:

Leer„Jede Verkündigung von der ewigen Welt ist aber wirklich die Verkündigung von der ewigen Welt, das heißt von dem Ende dieses Äons und von der neuen Welt, ‚in der Gerechtigkeit wohnt’.” (S. 181)

Quatember 1989, S. 81-90

Siehe dazu Leserbrief Joachim Stoelzel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-23
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