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Die Zukunft der Stadtkirche
von Waldemar Wucher

LeerIn einer angesehenen Tageszeitung, in aller Öffentlichkeit, erschien jüngst der Bericht über ein Memorandum, in dem von kirchlicher Stelle Vorstellungen über die Zukunft der Kirche in der Stadt definiert worden sind. Das Papier enthält u. a. die Forderung, alle nicht ausreichend genutzten kirchlichen Räume an „nichtkirchliche Gruppen” zu vermieten, zu verkaufen oder sie ihnen kostenlos zu überlassen. So etwas wie eine ‚Pietätsklausel’ sieht das Papier nicht vor, wonach also nach den Vorstellungen der Kommission auch der Umbau einer Kirche zu einem Supermarkt oder in eine Diskothek zulässig sein müßte.

LeerWer sieht da nicht die „Schrift an der Wand”? Kann die „Krise der Volkskirche” auf so einfache Weise bewältigt werden? Nicht eine Verwaltungsfrage - die Glaubensfrage ist gestellt.

LeerMan wird sich darüber Rechenschaft geben müssen, daß die Stunde der Entscheidung nicht wie der Dieb in der Nacht gekommen ist. Mindestens seit der Epoche der Weltkriege ist theologisch über das kirchliche Zukunftshandeln, auch über die Zukunft der Stadtkirche, nicht wenig nachgedacht worden. In dieser Zeitschrift möge zunächst im Blick auf Berneuchen und die Evangelische Michaelsbruderschaft daran erinnert werden. Im „Berneuchener Buch” sind Visionen hierzu überliefert. Kern war die Einsicht, daß sich die Kirche öffnen müsse für die bedrängenden Fragen dieser Weltzeit und ihrer Menschen als Voraussetzung für angemessenes konkretes Handeln in Predigt, Liturgie und Diakonie.

LeerAls tragende Grundlage suchte die Evangelische Michaelsbruderschaft zunächst in ihrem eigenen Leben gottesdienstliche und kommunitäre Verhaltensmuster auszuformen: „Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind.” Doch die nach dem zweiten Weltkrieg so völlig „anders gewordene Welt” lenkte den Blick auch wieder auf Berneuchener Grundfragen kirchlichen Handelns. In der konstituierenden Sitzung des Arbeitskreises für Gegenwartsfragen im Jahr 1976 hat Christian Zippert auf der Nonnenempore in Kloster Kirchberg die Thesen des Berneuchener Buches über zwei Generationen hinweg souverän in das Verständnis unserer Weltzeit übersetzt.

LeerEine Zeitenwende signalisierte die Besinnung, zu der Hans-Rudolf Müller-Schwefe die Evangelische Michaelsbruderschaft mahnte, als er mit der ihm eigenen Kraft geistiger Verdichtung auf das Kernstück einer zu erneuernden Liturgie aufmerksam machte. Nicht gelte es, immer von neuem formal-textliche oder -musikalische Veränderungen mit wissenschaftlicher Akribie vorzunehmen, sondern es sei an der Zeit, die Grundlinien einer aus Traditionssträngen gesättigten Liturgie für die Menschen unserer Weltzeit freizulegen und verbindlich zu machen. Wohl unter dem frischen Eindruck seiner in Namibia gewonnenen Einsichten, von denen seine „Windhoeker Predigten” zeugen, hat er noch im 5. Berneuchener Gespräch unermüdlich auf das Herzstück aller Liturgie aufmerksam gemacht, in dem es heißt: „Durch Ihn beten Dich an die Mächte”.

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LeerIn jenen Kirchberger Tagen um den 1. Advent 1985 und in Protokollnotizen und Briefen aus dem Krankenlager, von dem er nicht mehr zu uns zurückkehren sollte, hat er diese Einsicht zu vertiefen gesucht. Es ging ihm um die furchtlose Erkenntnis transsubjektiver Mächte, die als ständige Gefährdung der Geschichte je und je in zeitbedingter Gestalt ihre Dämonien entfalten. Daher müßten auch die Worte des Kultus - so forderte er - die Wirklichkeit transsubjektiv zur Sprache bringen, in der Sprache jener Wirklichkeit, die durch das Wirken der „produktiven Vernunft” in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Politik nunmehr zur Herausforderung für die Kirche geworden ist.

LeerMüller-Schwefe wußte seine Forderung durch die Einsichten Berneuchens getragen und motiviert: „Wenn Liturgie sich verfestigt, zur Selbstdarstellung wird, dann muß sie gebrochen werden.” Und wenn er fortfährt: „Alle irdische Wirklichkeit ist leibhaftig. Leibhaftig ist jede vorgegebene Ordnung. Diese ist Gleichnis für die höhere Ordnung”, so erinnerte er an einen Gottesdienst, der nicht im passiven Nachdenken und Nachsprechen liturgischer Formulare, sondern leibhaftig vom ganzen Menschen, von der ganzen Gemeinde vollzogen wird (6. Berneuchener Gespräch). Denn allein die Kraft, die die gottesdienstliche Gemeinde entfaltet, wenn sie es wieder gelernt hat, das Evangelium vom auferstandenen Herrn mit allen dem Menschen verliehenen Sinnen ebenso gestalthaft sichtbar wie hörbar zu bezeugen, kann zur „Taufe der praktischen Vernunft” führen.

LeerIst es nicht wie eine List der Geschichte, daß gerade jene eingangs erwähnten kleingläubigen Überlegungen daran erinnern, daß die christliche Gemeinde wie in allen Jahrhunderten um so mehr in dieser kritischen Phase das großartige Erbe ihrer Kirchen zur Versammlung, zum Gottesdienst, ja, als Bilder braucht, „die eine Welt darstellen” (Christian Norberg-Schulz). Aus sorgenvollen Überlegungen über neue Formen kirchlichen Handelns wurden jüngst Wortbilder vor Augen gestellt wie „Offene Kirche” oder „Einladende Kirche”. Einladen aber soll und wird man in ein offenes, auch im übertragenen Sinne „einladendes” Haus; wohin denn sonst? Und so soll an dieser Stelle an viele Bemühungen jüngster Zeit erinnert werden, die Bedeutung des Raumes für alles menschliche Befinden und kirchliches Handeln erfahrbar zu machen, die „Ortlosigkeit der Kirche” (Harvey Cox) zu überwinden und zu bewußtem Raumverhalten und entsprechender Raumgestaltung anzuleiten, damit Verkündigung, Liturgie und Diakonie jene Vollgestalt finden, welche die christliche Gemeinde zum glaubwürdigen, wirkenden Gegenüber der Industriegesellschaft werden läßt, die in den vom Lärm der Nichtigkeit und der Zerstörung erfüllten Großstädten der Gegenwart ihren vordergründigen, aber weithin beherrschenden Ausdruck gefunden hat.

LeerIn der Dokumentation „Glauben heute”, dem Beschluß der 7. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, heißt es zuletzt: „Der Glaube braucht den Raum, wo er ins Nachdenken über die Kreativität kommt, die das Leben begleitet” (Hans Weder). Dafür gibt es Hoffnungszeichen. So ruft die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in Abständen Stadtdekane und Stadtsuperintendenten der größten Städte zu Konsultationen zusammen. Stadtkirchen-Konsultationen veranstaltet die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau. Im Praktisch-Theologischen Institut der Universität Hamburg ist eine wissenschaftliche Arbeitsstelle für das Kirche-Stadt-Problem eingerichtet. St. Katharinen, die große evangelische Kirche im Herzen Frankfurts, hat einen eigenen Pfarrer berufen, um in täglicher Praxis Wege zu finden, auf denen die Kirche im Vollsinn des Wortes „Kirche der Stadt” wird.

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LeerGemeinsam mit St. Katharinen hat die Evangelische Akademie Arnoldshain im November 1988 eine Arbeitstagung veranstaltet, in der mit Vorträgen, Aussprachen und Mahlzeiten beispielhaft mitten im Raum dieser schönen Großstadtkirche, im Angesicht der Crodelschen Kirchenfenster - ein schönes Beispiel zeitgenössischer Kunst im Kirchenraum - über das Thema „Die Zukunft der Stadtkirche” nachgedacht worden ist. An dieser Stelle kann von der Tagung nur allgemein berichtet werden. In einem gedruckten Protokoll wird sie dokumentiert. Dem aufmerksamen Beobachter konnte nicht entgehen, daß Einsichten und Erfahrungen, wie sie schon in Berneuchen zur Sprache kamen, zur Leiblichkeit, zum Raum, zur sinnlichen Wahrnehmung, zur Öffnung des Blickes für die Lebens- und Überlebensfragen der Gegenwart und für kommunitäres Leben nach und nach Raum gewinnen. Es wäre müßig, ja vermessen, eine so weittragende Aufgabe mit einem konstruierten, vorgefertigten Programm lösen zu wollen.

LeerJede Stadtkirche hat ihre Geschichte, ihr Gesicht. Im Vergleich bilden sich Maßstäbe. Daher wurden in der St.-Katharinen-Tagung zunächst die Erfahrungen mit St. Nicolai/ Hamburg als einem anderen bedeutenden Beispiel ausführlich dargestellt. Die Denkmalpflege, die es zunächst immer mit architektonischen Individuen zu tun hat, wird auch nicht mit pauschalen Regeln, sondern in differenzierter Analyse des Einzelfalles wichtige Hilfe leisten. Der Pfarrer in St. Katharinen hat aus wacher täglicher Beobachtung vorsichtig praktische Folgerungen für räumliche Gestaltung wie für die Benutzung dieser Kirche gezogen, die er theologisch begründet mit den Sätzen „Gott wurde Mensch”, „Gott gibt Freiheit” und „Gott gewährt Vielfalt” - Sätze, die an Berneuchener Visionen erinnern.

LeerDie Symbolkraft lebendiger Gemeinde ist die wichtigste Hilfe zum Leben inmitten der Industriegesellschaft. „Ohne Gedächtnis, ohne Gewissen, ohne Mahnung, ohne Hoffnung kann das Gemeinwesen Stadt nicht leben.” Nicht die Kosten der Erhaltung der Stadtkirche sind es, die neu nachdenken lassen, sondern „jenes apokalyptische Weltgefühl, das dem aufgeklärten Zeitalter im Nacken sitzt, die Orientierungssehnsucht, die unüberhörbar ein öffentliches Bedürfnis ist”, so hieß es in der erwähnten Frankfurter Tagung. Auch in diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, daß die Gemeinde sichtbar vor allem in der gebauten Kirche in Erscheinung tritt.

Leer„Citykirchen als räumliches System einer städtischen Gegenkultur” - unter diesem Oberbegriff sind konkrete Vorschläge auf dem Tisch zum wechselseitigen, gemeinsamen Bedenken für Kirche und Stadtplanung. Dies ist das letzte konstruktive Kapitel aller zeitentsprechenden Überlegungen zur Zukunft der Stadtkirche.

LeerHoffnung und Verheißung aller Bemühungen aber hat Kirchenpräsident Helmut Spengler am Schluß seines ausführlichen Geleitwortes zu der weiträumigen Publikation „Die Wiederkehr des Genius loci. Die Kirche im Stadtraum - die Stadt im Kirchenraum. Ökologie, Geschichte, Liturgie” angesprochen, indem er an die dritte Vision Sacharjas erinnerte, wo es am Schluß heißt: „... Jerusalem soll ohne Mauern bewohnt werden wegen der großen Menge der Menschen und des Viehs, das darin sein wird. Doch ich will, spricht der Herr, eine feurige Mauer um sie her sein und will mich herrlich darin erweisen.”

Quatember 1989, S. 92.95

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-23
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