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von Sr. Gemma Hinricher |
Der Karmel - Kontemplation im Dienst der Versöhnung Karmel in Dachau - Sühne und Versöhnung Karmel in Berlin-Plötzensee - Widerstand und Versöhnung - Anstöße aus dem Evangelium Karmel in Auschwitz - Beten nach Auschwitz - Christlich-jüdischer Dialog - Hoffnung auf Versöhnung In der Nähe der ehemaligen Hinrichtungsstätte Plötzensee in Berlin-Charlottenburg befindet sich seit 1984 ein Karmelitinnenkloster. Die Berliner Gründung geschah 1982 von Dachau aus, von dem Kloster, das sich seit 1964 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers befindet. Es muß Gründe geben, warum es eine christliche Gemeinschaft gerade an solche Orte der Gewalt zieht. Sicher gibt es im Leben jedes Christen Berührungspunkte mit dem Dienst der Versöhnung. Auf meine im Karmel Dachau verbrachten Jahre geht folgende Erinnerung zurück: In der dortigen Klosterkirche - wie auch inzwischen in Berlin in der Gedenkkirche - haben wir einen sogenannten Anliegenkasten aufgestellt. Besucher der Kirche können ihre Sorgen und Anliegen auf einen Zettel schreiben und in den Kasten einwerfen. Die meist ungenannten Schreiber dieser Anliegenzettel zählen auf das fürbittende Gebet der Schwestern. Und für uns ist es wichtig, daß so eine Gebetsgemeinschaft mit vielen Menschen zustandekommt. Der Anliegenkasten im Karmel in Dachau enthielt eines Tages einen Zettel mit französischem Text. Er lautete übersetzt: "Mein Vater ist hier im Lager umgebracht worden. Weil Sie hier sind, konnte ich ein Vaterunser beten." "Weil Sie hier sind", hatte der Unbekannte im Blick auf die Schwestern geschrieben, die er wohl beim gemeinsam gesungenen Psalmengebet erlebt hatte. -Weil Sie hier sind" - die Klosterkirche liegt über der Kiesgrube, in der Häftlinge in Sonderkommandos unter besonders unmenschlichen Bedingungen arbeiten mußten. Kann man singen und beten an einem solchen Ort der Qual und der Verbrechen? - Für einen Betroffenen - und, wie wir immer wieder erfahren haben, für viele andere in ähnlicher Weise - war und wurde es zu einem Stück Erlösung: eine Gemeinschaft, die gerade an diesem Ort Glaube, Hoffnung und Liebe ahnen läßt. Der Orden der Karmelitinnen geht auf die Reform der Teresa von Avila im 16. Jahrhundert zurück. Sie gab dem Gebet die zentrale Stellung im Leben der Schwestern, die es bereits am Anfang des Ordens gehabt hatte, als im 13. Jahrhundert. Einsiedler auf dem Berge Karmel sich zu einer Gemeinschaft zusammenschlossen. Die Schwestern gehören also einem kontemplativen Orden an, dessen wesentliche Aufgabe das Gebet ist. Das bedeutet zunächst, daß das Gebet - gemeint ist vor allem das persönliche innere Beten - im Leben der Gemeinschaft und der einzelnen an erster Stelle steht, nicht eine äußere Tätigkeit oder Aufgabe. Aber auch diese Formulierung könnte verdecken, worum es geht. Nicht die viele Zeit, die dem Gebet im Ablauf des Tages zukommt, ist letztlich entscheidend, so wichtig sie im Gefüge unseres Lebens auch ist. Entscheidend ist, was unser Leben insgesamt prägen und bestimmen soll: daß es in Gebet und Fürbitte ganz für Gott und ganz für die Menschen gelebt wird. Diesem Ziel, der Offenheit für Gott und für die Menschen - man könnte es als das Ziel allen geistlichen Lebens bezeichnen - kommen wir nach unserer Erfahrung in besonderer Weise nahe, wenn wir uns persönlich betreffen lassen von dem, was Menschen trifft und betrifft; wenn wir verwundbar werden für das Leid, das uns begegnet. Darum suchen wir die Stille, nicht nur für uns, sondern auch für andere. Wir versuchen, einen Raum der Stille zu schaffen, in dem Leid ausgesprochen und drängende Fragen gestellt werden können; einen Raum, in dem die tragende Kraft des Gebetes spürbar wird und der Mensch sich ermutigt erfährt, seine Lebenssituation auf Gott hin zu öffnen. Das Gebet setzt Offenheit voraus und bewirkt sie zugleich. Unserer Lebensform nach gehen wir nicht zu den Menschen, aber wir bemühen uns, erreichbar zu sein, ansprechbar. Suche Gott in dir!" - das ist auch die Einladung der heiligen Teresa von Avila und der Gotterfahrenen aller Zeiten. Es ist die Grundbewegung der Kontemplation, und ihre Grundhaltung ist Schweigen, Hören, Empfänglichkeit. Im Einüben dieser Haltung geschieht bereits Kontemplation, werden heilende Kräfte in uns frei und werden wir dem Wirken des Geistes Gottes zugänglich. Nicht nur wir selbst möchten uns diesem Wirken des Geistes öffnen durch Gebet und innere Wachheit, sondern wir möchten auch den Menschen Wege weisen zu dieser geliebten Kontemplation. Das ist nicht so gemeint, als ob wir den Menschen zeigen und theoretisch deutlich machen könnten, wie sie glauben, beten und lieben können. Vielmehr geht es vor allem darum, daß wir unser Leben aus dem Glauben mit ihnen teilen, daß wir sie teilnehmen lassen an dem Wirken Gottes in unserem persönlichen und gemeinsamen Leben und sie dadurch ermutigen, die Stellen zu finden, an denen Gott auch in ihrem Leben gewirkt hat und wirken will, vielleicht gerade dort, wo sie sich gelähmt und unfähig zum Guten vorkommen. So sehr dieses erneuernde Wirken Gottes uns ganz persönlich in der Tiefe trifft, so ist es doch die Gemeinschaft - die Gemeinde, die Gruppe, die regelmäßig zusammen betet - die mit einer gewissen Beständigkeit Räume der Gottesbegegnung eröffnet. Auch meine Berufung bindet mich an Gott und an meine Gemeinschaft. Sie ist es, die jene "Präsenz" erst möglich macht, von der die Rede war, eine Präsenz von Glauben und Liebe gerade auch an Orten der scheinbaren Gottesferne. Die Erfahrung in Dachau und Berlin hat es uns gezeigt: Es ist die Gemeinschaft, die die Atmosphäre des Schweigens und der Sammlung schaffen und bewahren muß, damit jener Raum des Gebets entsteht und mit Leben erfüllt ist, der sie selber trägt und viele aufnehmen kann. Der Karmel in Dachau wurde wesentlich geprägt durch die Intuition seiner Gründerin. Sie hat ganz persönlich den Auftrag erfahren, ihr ganzes Leben im Dienst der Versöhnung an dieser Stätte der Gewalt einzusetzen, und zwar zusammen mit einer Gruppe von Schwestern, die diese Aufgabe für sich übernehmen konnten. In einem Brief an den zuständigen Erzbischof von München begründet sie 1962 ihr Anliegen: "...ein Ort, wo so gefrevelt wurde, wo so viele Menschen Unsagbares gelitten haben, dürfte nicht zu einer neutralen Gedenkstätte oder gar zu einem Besichtigungsort erniedrigt werden. Es sollte stellvertretende Sühne geleistet werden durch das Opfer unseres Herrn Jesus Christus und damit verbunden durch das Opfer und die Sühne von Menschen, die sich diesem leidenden und sühnenden Herrn anschließen..." Der Blick der Gründerin war keineswegs nur rückwärts gewandt, wie aus den folgenden Worten eines anderen Schreibens von ihr hervorgeht: "Dachau ist ja nur Zeichen, was geschieht, wenn der Staat an die Stelle Gottes gesetzt wird. Wir denken deshalb auch an die vielen, die heute noch um ihrer Überzeugung willen gefangen sind und leiden müssen, sowie an diejenigen, die immer wieder in neuen Formen Unheil anrichten. So soll unser Leben allen Menschen dienen, damit Christus durch sein Blut die Versöhnung der Völker erwirke und durch seine Liebe siege." Sein Opfer hat "ein für allemal" Versöhnung gebracht, wie der Hebräerbrief .sagt. In der Hingabe seines Lebens setzt Jesus einen neuen Anfang. Er allein als der Sohn kann sich mit denen, die er zu Söhnen und Töchtern des Vaters macht, identifizieren und sich so dem Vater vorstellen, beladen mit ihrer Schuld. So hat sich Jesus freiwillig in die bleibende Todessituation des Menschen hineinbegeben. Diese Stellvertretung, die in Leben und Tod Jesu deutlich wird, ist eine einmalige Stellvertretung "für alle". Sie ist der Grund der Versöhnung Gottes mit den Menschen. Was bedeutet dann u n s e r e Sühne, u n s e r e Stellvertretung? Sie kann nur darin liegen, daß wir als Getaufte, die in Tod und Auferstehung Jesu hineingenommen sind, bereit sind, ihm nachzugehen auf seinem Weg, mit ihm und auch mit seiner Kraft für die Menschen zu leben. Ich meine, wenn wir so nach den eigentlichen Grundlagen der Lebensentscheidung unserer Gemeinschaften in Dachau, Berlin-Plötzensee und Auschwitz fragen, wird es ganz deutlich: Wir Schwestern versuchen auf unsere Weise zu verwirklichen, was unser aller Auftrag ist: im Denken, Reden und Tun, besonders auch durch unsere Ohnmacht und unsere Verwundungen hindurch, das Wort der Versöhnung, das Jesus unter uns gestiftet hat, zu bewahren und weiterzusagen. Gedächtnisbuch für die Häftlinge des KZ Dachau Widerstand und Versöhnung Wir verstehen unser Leben und unseren Auftrag zunächst von der Örtlichkeit her, von unserer Zuordnung zu der Gedenkkirche, die ja auch unsere Klosterkirehe geworden ist. Sie wurde in größtmöglicher Nähe zur ehemaligen Hinrichtungsstätte Plötzensee erbaut und erinnert damit an die Untaten und Leiden, die in Beziehung zu Plötzensee stehen; darüber hinaus ist sie der Erinnerung an alle Märtyrer der NS-Zeit gewidmet. Ausdrücklich sind jene gemeint, die sich im Bewußtsein ihrer Verantwortung zum Widerstand gegen den Unrechtsstaat entschlossen und dafür Freiheit und Leben riskiert haben. Der Widerstand mochte darin bestehen, einem ausländischen Kriegsgefangenen ein Stück Brot zuzustecken oder einen Juden zu verstecken und so vor dem Transport in den Tod zu bewahren; es gab die verschiedensten Widerstandskreise, darunter solche, die den Umsturz planten. In einigen dieser Widerstandsgruppen arbeiteten Menschen der verschiedensten religiösen und politischen Richtungen zusammen. Es war möglich, Gegensätze um des gemeinsamen Zieles willen zu überbrücken. Diese Gemeinsamkeit haben viele auch unter der Folter nicht preisgegeben, wenn sie dazu gebracht werden sollten, die Namen der Freunde zu verraten. Sie hat sie in den Gefängnissen gestärkt bei dem zermürbenden Warten auf die Vollstreckung des Todesurteils. Die Frauen und Männer des Widerstands haben Versöhnung praktiziert zwischen den Konfessionen, zwischen gegensätzlichen politischen Richtungen; ja, viele haben ihren Richtern und Henkern ausdrücklich vergeben, wenn auch leider nicht bekannt ist, daß diese sich später der Vergebung bedürftig erklärt hatten. In der Krypta der Gedenkkirche befindet sich eine Grabstätte, die an diese Märtyrer erinnert. Den meisten von ihnen wurde das Grab verweigert, ihre Asche über die Rieselfelder Berlins verstreut. Gemessen an dem Massenmord an den Juden, dem millionenfachen Mord an Polen und anderen Nationalitäten, war es nur eine Minderheit von Christen und anderen Gegnern des Regimes, die den Mut zum Widerstand besaßen. Es ist sehr still um sie geworden. Hat sich ihr Einsatz gelohnt? Es ist wichtig, wenn wir über Versöhnung, speziell über einen geistlichen Dienst der Versöhnung nachdenken, sich an die Frauen und Männer des Widerstands zu erinnern. Denn Versöhnlichkeit und Versöhnung meinen nicht Anpassung an einen allgemeinen Trend, Kritiklosigkeit und Desinteresse gegenüber dem, was nicht mich selbst betrifft. Der Dienst der Versöhnung besteht auch nicht darin, Konfrontation zu vermeiden und sich nach Möglichkeit zu arrangieren. Er entbindet nicht von der Verantwortung, der Lüge, Rechtlosigkeit und Gewalt zu widersprechen und nach Kräften entgegenzuwirken, auch wo die eigenen Interessen nicht berührt sind. Plötzensee, der Widerstand im sogenannten Dritten Reich machen uns deutlich, daß es Grenzen der Versöhnung unter Menschen gibt, daß Versöhnung nicht um jeden Preis erkauft werden darf, daß auch die Frucht der Versöhnung, der Friede, - wenn er von Dauer sein soll - zusammengehen muß mit einer gerechten Friedensordnung. Wir kennen alle diese Frage, hinter der die selbstverständliche Annahme steht, daß es doch irgendwo eine Grenze geben muß, über die hinaus meine Liebe nicht mehr gefordert sein kann. Ich kenne doch auch Fernstehende und Fernste, solche, die mir nichts sagen, zu denen ich die Beziehungen abgebrochen habe, solche, von denen ich mir nichts Gutes erwarten kann. Es gab und gibt Menschen, die andere kaltblütig verraten, gequält, in den Tod geschickt haben; so die Heerschar der Denunzianten, die Richter und Aufseher und Henker der Opfer der Nazi-Herrschaft. Jesus beantwortet de Frage nach der Grenzziehung für unsere Liebe mit dem Gleichnis von dem Mann, der unter die Räuber fiel. Hilfe erfährt der Verletzte nicht von Angehörigen seines Volkes und seines Glaubens - sie sehen ihn zwar und gehen doch vorüber. Ein Fremder, der zu den von den Juden abgelehnten und verachteten Samaritem gehört, sorgt für ihn, als wäre es sein bester Freund. Es gibt in einer frühchristlichen, syrischen Bibelhandschrift des 6. Jahrhunderts eine wunderschöne Darstellung des barmherzigen Samariters. Jesus selbst ist dieser Samariter, kenntlich gemacht durch den Kreuznimbus; er beugt sich tief zu dem Ausgeplünderten, Mißhandelten herunter. An Jesus selbst, so wollte der Künstler wohl zeigen, können wir ablesen, wer unser Nächster ist: immer der, der uns braucht. Wir sind bereits dem Vaterunser begegnet, das täglich gebetet werden will mit der Bitte um das tägliche Brot. So ist auch die tägliche Bemühung vorausgesetzt, denen, die unsre Schuldner geworden sind, zu vergeben, damit wir von Gott für uns Vergebung erbitten und empfangen können. "Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". Die Forderung, den Mitmenschen zu verzeihen, sich mit ihnen zu versöhnen, geht mit innerer Konsequenz aus der Botschaft Jesu vom barmherzigen Vater hervor und wird von seinem eigenen Verhalten gegenüber "Zöllnern und Sündern", den Letzten der damaligen Gesellschaft, gespiegelt Diese Forderung gipfelt in dem Wort Jesu, das Matthäus in der allgemeinen Form überliefert: "Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist" (5,48). Lukas gibt diesem uns so sehr übersteigenden Anspruch einen konkreten Sinn, wenn er Jesus sagen läßt: "Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist" (Lk 6,36). Barmherzig sein mit dem, der Schuld auf sich geladen hat, speziell mit dem, der an mir schuldig geworden ist, das heißt: Mitleid haben mit dem Schuldigen, mit seiner Schwäche; es heißt, an das Gute im anderen glauben, auch wenn es noch so verborgen ist. Es heißt, sich nicht über den Schuldigen stellen, sondern neben ihn in der Solidarität derer, die alle fehlbar sind. Die Ermahnung, den Nächsten nicht zu richten, nimmt in der Verkündigung Jesu eine wichtige Stellung ein. "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet" (Mt 7, 1). Lukas entfaltet den Spruch: "Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden. Erlaßt einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden" (Lk 6,37). Die Mahnung: "Richtet nicht! ", spielt in der urchristlichen Gemeinde, in der geistlichen Lehre der frühchristlichen Einsiedler in der Wüste und in der Tradition des westlichen wie des östlichen Mönchtums eine große Rolle. Das äußere oder innere Richten über den anderen zerstört die Demut, das Vertrauen und die Sammlung, die zum Gebet nötig sind. Jeder kann diese Erfahrung machen. So stellt sich das Richten nicht nur zwischen den Nächsten und mich, sondern auch zwischen mich und Gott. Es behindert auch die Selbsterkenntnis, ohne die ich im Gebet nicht wachsen kann, wie Jesus bei Matthäus seine Mahnung weiterführt: "Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht..." (Mt 7,3). Wenn wir über den anderen zu Gericht sitzen, sind wir auch schnell bei der Hand, ihn zu verurteilen. Wir grenzen diesen Menschen aus, wir haben das Wort und den Dienst der Versöhnung verraten. Umgekehrt ist der bewußt erkämpfte Verzicht auf eine Richterrolle gegenüber den Mitmenschen ein überaus wirksamer Dienst an der Versöhnung, an einem Klima des Verstehen und der Solidarität. Man erzählte vom Altvater Makarios dem Großen, daß er, wie es in der Schrift heißt, ein Gott auf Erden war (Ps 82,6); denn wie Gott die Welt schützend deckt, so bedeckte Altvater Makarios die Schwächen, die er sah, als sähe er sie nicht, und was er hörte, als hörte er es nicht. Ein Bruder in der Sketis war gefallen. Man hielt eine Versammlung ab und schickte zu Abbas Moses; der aber wollte nicht kommen. Daraufhin sandte ihm der Priester den Auftrag: "Komm, denn das Volk erwartet dich!" Moses erhob sich und kam. Er nahm einen durchlöcherten Korb, füllte ihn mit Sand und nahm ihn auf die Schulter. Die Brüder gingen ihm entgegen und sagten zu ihm: "Was ist das, Vater?" Da sprach der Greis zu ihnen: "Das sind meine Sünden. Hinter mir rinnen sie heraus, und ich sehe sie nicht, und nun bin ich heute gekommen, um fremde Sünden zu richten." Als sie das hörten, sagten sie nichts mehr zu dem Bruder, sondern verziehen ihm. Wie unbedingt die Forderung Jesu zur Versöhnungsbereitschaft ist, zeigt sich in seinem Gebot der Feindesliebe. Es steht bei Lukas geradezu provozierend am Anfang der großen Feldrede, in der Jesus das neue Gesetz der Liebe verkündet. "Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet, die euch verfluchen, betet für die, die euch mißhandeln..." (Lk 6,27.28). Jesus verlangt nicht nur den Verzicht auf Vergeltung für erlittenes Unrecht, sondern er fordert positiv, den Feind als Freund zu behandeln: ihn zu lieben, ihn zu segnen, für ihn Gutes von Gott zu erbitten und selbst ihm Gutes zu tun. Nirgendwo erscheint dieses Verhalten als Taktik, um sich den Feind günstig zu stimmen. Das Motiv ist vielmehr allein Gottes barmherzige Liebe zu allen Menschen; wenn wir uns die Großzügigkeit der göttlichen Liebe zu eigen machen, Gutes tun, auch wo wir nicht auf Dank hoffen können, dann sind wir "Söhne und Töchter des Höchsten"; denn, so fährt Lukas fort, "auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen." Oder, wie es Matthäus konkreter sagt: "er läßt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte." (Mt 5,45). Jesus verlangt in der Feindesliebe von seinen Jüngern, den "normalen", menschlichen Horizont der Liebe zu überschreiten, nicht mehr abhängig zu sein von der Resonanz, die meine Liebe findet; schöpferisch zu lieben - wie Gott selbst -, und in der Kraft dieser Liebe das Böse durch das Gute zu überwinden, wie es im Römerbrief heißt (12,17-21). Mit heutigen Exegeten können wir fragen: Wen meint Jesus, wenn er vom Gegner und Feind spricht? Was meint er konkret mit dem Verzicht auf Wiedervergeltung und Gegengewalt, mit dem Gebot, den Feinden Gutes zu tun? Die Worte Jesu sind absolut und grundsätzlich gemeint. Man darf sie nicht auf den privaten zwischenmenschlichen Bereich einschränken. Die ganze Jüngergemeinde ist vielmehr angesprochen. Die extreme Forderung der Feindesliebe macht deutlich, daß sich in der Gemeinde und durch sie die Gottesherrschaft verwirklichen soll, die das private und öffentliche Leben, den einzelnen und die Gesellschaft umspannt. Die Evangelisten haben mit Sicherheit die Forderung Jesu auch auf ihre gesellschaftliche Situation bezogen - ein notwendiges Bemühen, damit sie geschichtlich wirksam werden kann! Der jüdische Theologe Pinchas Lapide erklärt diesen Schalom als ein integrales Ganzsein des Menschen, als sein Eins-sein mit sich selbst, mit Gott und mit allen Menschen. Der Schalom ist unteilbar und umfaßt alle Bereiche des menschlichen Daseins: Politik, Gesellschaft, Natur, Theologie. In einem Gespräch mit Carl Friedrich von Weizsäcker über die Seligpreisungen der Bergpredigt zeigt Lapide, daß die zugleich göttliche und menschliche Wirklichkeit des Schalorn "Dienste der Versöhnung" einschließt (vgl. Die Seligpreisungen, Ein Glaubensgespräch, Stuttgart 1980, S. 88f). Unser ganzes menschliches Leben mit seinen menschlichen Möglichkeiten solle eingehen in die Mitarbeit am Friedenswerk Gottes. Dabei dürfen wir uns berufen auf d e n Sohn, den Gott eingesetzt hat als Mittler unserer Versöhnung, in dem alle trennenden Schranken aufgehoben sind, von dem es im Epheserbrief heißt: Er ist unser Friede (2,14). Was mich bewegt, die Karmelitinnen von Auschwitz in mein Thema einzubeziehen, ist einmal die besondere, ja, provozierende Aussagekraft ihres Lebens, sodann der persönliche Kontakt, der uns verbindet, seit ich im vergangenen Jahr die Lager Auschwitz und Birkenau und den Karmel in Auschwitz besuchen konnte. Der Gedanke an einen Karmel in Auschwitz hat nicht nur in Polen, sondern auch in der Bundesrepublik bereits Geschichte. Mit einer gewissen Folgerichtigkeit kam mir vor etwa zehn Jahren im Karmel Heilig Blut in Dachau dieser Wunsch. Ich fühlte mich gedrängt, mit einer Gruppe Schwestern von Dachau nach Auschwitz aufzubrechen und gerade als Deutsche dort zu leben. Ich sagte mir, daß an dem Ort, wo von Deutschen am meisten gefrevelt, wo unvorstellbares Leid und millionenfacher Tod über unschuldige Menschen gebracht wurden, - daß dort eine betende, von Glauben und Liebe getragene Gemeinschaft wichtig, ja notwendig sei; daß gerade deutsche Schwestern an dieser Stätte sozusagen existentiell die Bitte um Vergebung leben müßten. Diese Gedanken nahmen mehr und mehr Gestalt an. Ein Besuch von Kardinal Wyczinski, dem damaligen Primas von Polen, im ehemaligen Konzentrationslager und im Karmel Dachau gab uns berechtigte Hoffnung, daß unser Plan zu verwirklichen war. Doch es sollte anders kommen. Zuständige kirchliche Stellen konnten sich unserem Plan nicht anschließen; die Zeit sei noch nicht reif dafür - und eine Gründung in Berlin stehe als vordringliche Aufgabe an. Inzwischen haben es polnische Karmelitinnen gewagt, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Stammlager Auschwitz in einem großen Gebäude, das als Magazin diente, einen Karmel zu gründen. Der unmittelbare Anstoß ging von der persönlichen Berufung einer Schwester aus, der Gründerin, die aus dieser Gegend stammt und deren Kindheit geprägt wurde von Verschleppung und Tod lieber Menschen im KZ Auschwitz, auch vom Widerstand der Bevölkerung und heimlicher Hilfe für Juden. Das Kloster liegt faktisch außerhalb des Lagers. Nach der Grenzziehung der UNESCO, die eine Schutzfunktion über das Lager innehat, gehört jedoch das ehemalige Magazin, das heutige Kloster, zum Lager dazu. Auf dieser Festlegung der Lagergrenzen beruht der jüdische Widerstand gegen das Kloster. Für Polen ist Auschwitz der Ort, wo ihre Verwandten und Freunde unsäglich gelitten haben und viele den Tod fanden. An diesen Ort des Grauens geht man nicht oder man hält es nur kurz dort aus. Auch mir wurde von Polen besorgt und liebevoll angeraten, doch lieber nicht das Lager zu besuchen, und wenn es unbedingt sein müßte, höchstens für eine Stunde! Vor diesem Hintergrund können wir vielleicht ahnen, was für einen Mut und welche Glaubenskraft die Schwestern haben, die sich entschlossen haben, an diesem Ort zu leben. Sie alle sind mit ihren Familien persönlich Betroffene! Das "Dennoch" des Glaubens und der Liebe, das diese Schwestern leben und bezeugen, wird jeden, der ihnen begegnet, tief berühren. Um so tragischer mutet der Streit an, der um sie und ihr Kloster entbrannt ist. Für viele Juden, wahrscheinlich für die meisten, ist die Existenz eines christlichen Klosters am Ort des jüdischen Holocaust eine unerträgliche Vorstellung, eine christliche Vereinnahmung und Verschleierung der 6 Millionen jüdischer Opfer, eine Verschleierung auch des christlichen Anteils an Schuld an diesem Völkermord. Ich kann die jüdische Ablehnung verstehen, wenn auch die Heftigkeit der Reaktionen einen traurig stimmt. Aus jüdischer Sicht kommt als Grund der Ablehnung hinzu, daß an einem Ort des Fluches keine Stätte des Gebetes errichtet werden kann. Vor zwei Jahren kam es bereits zu einer vertraglichen Regelung zwischen Vertretern des Weltrates der Juden und Vertretern der Katholischen Kirche, die eine Verlegung des Klosters vorsieht. Doch ist seither keine Entspannung eingetreten, eine konkrete Lösung ist nicht in Sicht, und die Schwestern leben noch in ihrem Kloster. Inzwischen hat der Vatikan entschieden, daß das Kloster in ein christlich-jüdisches Begegnungszentrum verlegt werden muß. Ihr Beispiel zeigt, daß der Dienst der Versöhnung nur von Jesus Christus in einem absoluten Sinn geleistet wird. Es gehört zum Paradox seines umfassenden und allein gültigen Versöhnungsdienstes, daß er in das Dunkel und die Verlassenheit des Kreuzes führt. Aber gerade dort, in der scheinbaren Vergeblichkeit, geschieht die Erlösung. Der Schatten des Kreuzes fällt auch auf die Karmelgründung in Auschwitz. Möge es zum Zeichen des Heils für die Schwestern und für alle werden, denen sie mit ihrem Leben an diesem Ort dienen wollen. Es gibt auch jüdische Stimmen, die diese Frage nicht nur bejahen, sondern die - im Sinne ihrer mehr als zweitausendjährigen Leidensgeschichte - glauben, daß gerade nach Auschwitz gebetet werden m u ß. Beten steht hier für Glauben, für ausdrücklich gewordenen, konkret vollzogenen Glauben. Ein jüdischer Gast in unserem Kloster gab uns seine Aufzeichnungen über seinen Besuch in Auschwitz und Birkenau. Im Widerspiel verschiedener Kräfte, die "Auschwitz" für sich reklamieren, wurde ihm eine Gruppe deutlich, die sich, wie er sagt, "der in Auschwitz-Birkenau konkret gewordenen Gegenwart des Bösen als schlechthin Gläubige stellt." Ihm steht eine Prozession von vorwiegend jungen Polen vor Augen, die auf dem Lagergelände den Kreuzweg betete. Den jüdischen Gast überzeugte der tiefe Ernst der Teilnehmer, die Beziehung der Stationen auf die Leiden derer, die an den betreffenden Stellen gemartert worden waren, auf das Martyrium der Juden und Christen. Er empfand: Hier geschieht keine christliche "Vereinnahmung". In diesem Sinn kann er auch die in Auschwitz lebenden Karmelitinnen - wie er sagt - "einigermaßen verstehen". Auch wenn er sich mit dem institutionell-religiösen Charakter eines Klosters an diesem Ort schwer tut, ist er überzeugt, daß eine "religiöse Präsenz", eben Menschen, die "schlechthin Gläubige" sind, in Auschwitz notwendig sind. Das Ringen um den Glauben, um das Glauben- und Betenkönnen angesichts des Holocaust wird viele der überlebenden Juden bedrängen. Es ist letztlich das Ringen um ihren Gott, es sind die quälenden Fragen nach dem Warum ihrer Leiden und des anonymen Sterbens ihrer Lieben; es ist die Frage nach dem Schweigen Gottes in dieser Schreckenszeit. Auch den Schwestern des Karmel werden diese Fragen nicht fremd sein. Ich meine, sie halten auf vorgeschobenem Posten für uns alle aus - auch wenn sie eines Tages ihren Standort in Auschwitz verlegen müssen. Denn es ist unser aller Gott, der in Auschwitz, Majdanek und an allen Orten der Vernichtung sich in Schweigen zu hüllen schien; den wir auch in unserem Leben oftmals als den Schweigenden erfahren, nicht selten gerade dann, wenn wir seine Antwort so dringend brauchten. Die Dimensionen der Verbrechen und der Leiden, die sich an den Holocaust des jüdischen Volkes knüpfen, sind unvergleichbar. Und doch sind wir, jeder von uns, als Zeitgenossen oder deren Nachkommen angesprochen mit unserer eigenen Leidensgeschichte, die uns selbst früher oder später das Geheimnis dieses unbegreiflichen Gottes führt. Umgekehrt versichern uns gläubige Juden, daß sie das Gespräch mit dem christlichen Glauben brauchen, in dessen Mitte der Jude Jesus steht. Bei aller Dialogbereitschaft im einzelnen müssen wir uns jedoch bewußt machen, daß es kein Gespräch unter Gleichen ist, daß wir Christen mit nicht verheilten Wunden und einer großen Verletzbarkeit bei den jüdischen Gesprächspartnern rechnen müssen. Aber neben dem Gebet ist sicher der Dialog der einzige Weg, der Christen und Juden einander näherbringen kann und dem die Hoffnung auf Versöhnung innewohnt. An den geduldig und beharrlich gesuchten und geführten Dialog lassen sich die vielen Bausteinchen der Entspannung anfügen, von denen Pinchas Lapide in seinem Text über die Friedensbringer spricht. Jedes Wort, das man von sich dem anderen anvertraut und das man vom anderen entgegennimmt, ist eine Brücke des Verstehens und der Verständigung. Der Name, den die Karmelitinnen in Auschwitz ihrem Kloster gegeben haben, ist diesem Geist verwandt: Karmel von allen Heiligen, Auch das ist Ausdruck einer Weite, die auf Gott blickt, und von ihm her zugleich Nähe, versöhnte Nähe stiftet. Der Name "Von allen Heiligen" umschließt Juden und Christen, alle, die hier glaubend und hoffend in den Tod gegangen sind und von Gott angenommen wurden als seine Zeugen. Der Name "Von allen Heiligen" will zugleich die Verbindung herstellen zwischen all denen, die schon bei Gott vollendet sind, und den Lebenden, die auf dem Weg sind. Möge es mehr und mehr für uns und alle Menschen ein gemeinsamer Weg werden als Frucht der immer wieder neu geschehenden Versöhnung. Vortrag gehalten auf dem 23. Evangelischen Kirchentag in Berlin 1989 Quatember 1989, S. 190-203 © Sr. Gemma Hinricher |
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